Читать книгу Der letzte Funke Licht - Jana Pöchmann - Страница 8

Kapitel 3

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Eine halbe Stunde später standen wir vor dem Krankenhaus, in dem meine Mutter eingeliefert worden war. Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass sie bald wahrscheinlich nicht mehr in meinem Leben sein würde. Ich liebte sie. Ich wollte sie endlich sehen, bei ihr sein und ihre Hand halten, einfach nur noch einmal mit ihr sprechen. Ich hatte sie jetzt einen halben Tag nicht mehr gesehen und ich vermisste sie jetzt schon so sehr. Ganz unbewusst griff ich nach der Hand meiner Großmutter und entspannte mich ein wenig.

„Also, gehen wir rein?“, fragte sie mich und ich nickte nur, da ich kein Wort herausbrachte. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Als wir reingingen, roch es nach Desinfektionsmittel und als ich den weißen Empfangstresen sah, stieg eine Erinnerung in mir hoch.

Es war an einem Samstagmittag und ich war erst fünf Jahre alt. Ich hielt die Hand meiner Mutter, die mich traurig anlächelte. Sie drückte meine Hand noch fester und eine Träne lief ihr über die Wange.

„Schatz, alles wird gut werden, Opa schläft nur ein bisschen. Wir besuchen ihn und du kannst ihm deine selbstgebastelte Schneekugel geben. Wenn er dann aufwacht, wird er sich über dein Weihnachtsgeschenk sehr freuen.“ Ich lächelte meine Mutter an und sie gab mir einen Kuss.

Warum konnte ich mich zuvor nie an diesen Augenblick erinnern? Doch jetzt fiel er mir wieder ein. Ich wusste früher, dass ich einen Großvater hatte, aber warum hatte ich ihn einfach vergessen? Diese schlimmen Tage und Wochen als mein Großvater im Koma lag, waren einfach nur schrecklich. Meine Mutter hatte immer so getan, als würde sie das alles aushalten, aber sie musste innerlich zerbrochen sein. Ich habe mit ihr noch nicht mal halb so viele Jahre verbracht wie sie mit ihrem Vater. Mir ging der wahrscheinliche Verlust meiner Mutter schon jetzt sehr nahe und ich hatte das Gefühl, nicht mehr weiterleben zu können. Wie hatte meine Mutter dies denn bei meinem Großvater verkraftet, der ihr ganzes Leben an ihrer Seite war? Ich hatte die Situation damals nicht ganz verstanden. Meine Mutter hatte ja nur gesagt, dass Opa schliefe. Dass er ein paar Wochen später im Koma sterben würde, hätte ich nie im Leben gedacht.

„Es tut mir so leid“, platzte es aus mir heraus. Ich wusste nicht, warum ich es jetzt sagte. Es war gerade eine Scheißsituation an einem Scheißort, an dem Menschen starben.

„Was denn genau?“, fragte mich meine Großmutter und runzelte die Stirn, „du musst dich für nichts entschuldigen. Ich muss mich entschuldigen, dass ich dich all die Jahre lang im Stich gelassen habe.“

„Nein, mir tut es leid, dass ich vorhin so dumm war und dir direkt Vorwürfe gemacht habe, dir nicht vertraut habe. Ich hätte dir erst zuhören müssen. Aber es tut mir auch leid wegen …“ Weiter kam ich nicht, denn ich schluckte schwer und es fühlte sich an, als ob ein Kloß in meinem Hals steckte.

Meine Großmutter nahm mich in den Arm und das tat so gut. Noch nie konnte mich jemand so schnell trösten, Sky nicht und meine Mutter überraschenderweise auch nicht. Wenn ich zum Beispiel früher geweint habe, wenn meine Keksdose leer oder mein Lieblingsgeschäft geschlossen war, brauchte sie immer sehr lange, um mich zu trösten, aber bei meiner Großmutter, die ich gerade mal ein paar Stunden kannte, ging das gerade sehr schnell.

Ich fühlte mich ein bisschen stärker und nicht mehr so klein und alleine. Diese Umarmung fühlte sich richtig an und ich wollte solche noch sehr oft erleben.

Meiner Großmutter, die mich in den Armen hielt, war ich gerade so dankbar. Ich musste es ihr sagen. Ich wollte keine Geheimnisse vor ihr haben und ich wollte auch, dass sie keine vor mir hatte: „Es tut mir so leid … wegen Opa. Ich hatte diese Erinnerungen an die schlimmen Wochen mit ihm verdrängt, als er im Krankenhaus war und starb. Ich war erst fünf, aber ich weiß nicht, warum ich das alles einfach ganz vergessen hatte. Dieser Anblick des Empfangstresens hat die Erinnerung wieder hervorgehoben. Opa hat dir so viel bedeutet. Wenn ich diese Erinnerung nicht vergessen hätte, hätte ich meine Mutter schon längst nach dir gefragt.“

Mir liefen die Tränen nur so über die Wangen. Es war, als ob ein Damm gebrochen wäre. Ich erwartete schon, dass meine Großmutter streng zu mir sein würde, da ich tief in meinem Herzen wusste, dass es sie gibt, aber trotzdem nie nach ihr gefragt, es einfach vergessen hatte.

Stattdessen sah sie mir direkt in die Augen und sagte: „Hey, obwohl wir uns erst seit heute kennen, liebe ich dich und du wirst mich nicht los, egal was du machst, sagst oder vergisst. Ich werde dir nicht mehr von der Seite weichen.“

Ich war so gerührt und wollte mich nie mehr aus ihrer Umarmung lösen. Ich wollte, dass sie wirklich bei mir blieb, für immer! Diese Frau wurde mir, obwohl sie mich angelogen und nie besucht hatte, immer wichtiger und nun war sie ein großer Teil meines Herzens. Wie konnte das denn nur so schnell passieren?

Auf einmal hörten wir eine junge Frauenstimme durch den Raum hallen: „ Frau Clark, sind sie schon hier?“ Endlich durften wir zu meiner Mutter. Ich riss die Hand hoch und rannte mit meiner Großmutter der jungen Ärztin entgegen.

„Der Krankenwagen ist draußen schon abfahrbereit“, sagte sie mit freundlicher Stimme zu uns, „aber erschrecken sie sich nicht. Der Anblick Ihrer Tochter beziehungsweise Mutter kann sehr beängstigend auf Sie wirken.“

Dabei sah die junge Ärztin mich besonders lange an und auf ihrem Gesicht lag ein trauriges Lächeln. Ich hatte Angst vor dem, was ich gleich zu Gesicht kriegen würde. Aber ich wollte meine Mutter endlich wiedersehen, egal was kommt! Also machten wir uns auf den Weg nach draußen. Aus hygienischen Gründen mussten wir einen Mundschutz und Einmalhandschuhe anziehen. Wir standen nun direkt vor dem Krankenwagen und uns wurde gerade die Tür aufgemacht. Meine Großmutter hielt mich ganz fest an der Hand und ich erwiderte den Händedruck.

Ich hatte nicht nur ein bisschen Angst. Nein, ich hatte eine beschissen große Angst vor dem, was jetzt auf mich zukommen würde. Dieser Moment gleich könnte einer der letzten sein, in dem ich meine Mutter sah. Ich musste ihn nutzen. Ihr sagen, dass ich sie liebte. Sagen, dass sie das Beste war, was mir je passiert ist und ich ohne sie nicht würde leben können. Ich wollte ihr sagen, dass ich es jedoch versuchen würde, wenn es dazu käme. Ich würde ohne sie nicht mehr ich sein, aber ich würde es irgendwie aushalten. Mit meiner Großmutter an der Seite.

Die Tür des Krankenwagens war nun ganz offen. Ein Arzt um die sechzig stieg hinein und ich ging ihm mit meiner Großmutter nach.

Und da lag sie. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich hatte das Gefühl, ich könnte nicht mehr atmen und die Tränen liefen mir nur so über die Wangen. Ich war vorher alles durchgegangen, was ich sagen und machen wollte. Aber jetzt, wie ich meine Mutter so da liegen sah, brachte ich kein Wort mehr heraus. Sie lag dort mit tausend Kabeln in Mund, Nase und Haut. Man hörte die Maschinen sehr laut arbeiten und ich sah das langsame, aber beständige Heben und Senken ihres Brustkorbs. Das war das einzig Gute. Sie lebte noch.

Ich wusste nicht, wo ich mich hinstellen sollte oder geschweige denn, was ich sagen wollte. Alles hatte ich vergessen, auch, wie man atmet. Ich wurde hektisch und klammerte mich an dem Arm meiner Großmutter fest.

Es war wie in einem Albtraum und ich wollte einfach nur aufwachen.

„Schh, alles gut Avery, es wird alles gut“, versuchte meine Großmutter mich zu beruhigen, aber ihre Stimme bebte. Sie ließ meine Hand nicht los und ging mit mir näher an die Liege, auf der meine Mutter lag. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Angst wie jetzt. Ich hatte Angst, meine Mutter zu verlieren und nie wiederzusehen. Ich ging Hand in Hand mit meiner Großmutter zu ihr und legte meine noch freie Hand ganz langsam auf ihre Liege. Ich hatte Angst, sie zu berühren und gleichzeitig hatte ich Angst, sie würde aufhören zu atmen. Letzteres wäre natürlich noch viel schlimmer. Meine Großmutter sah mich an und nickte mir aufmunternd zu. Ich wusste, ich konnte mit meiner Mutter reden, ihre Hand halten und einfach neben ihr stehen. Aber ich war wie zur Salzsäule erstarrt. Vielleicht war es mir auch unangenehm, dass ein Arzt im Wagen saß, aber tief im Inneren wusste ich, es würde vielleicht unser letztes Gespräch miteinander sein, deswegen musste ich etwas zu ihr sagen. Sie musste wissen, wie sehr ich sie liebte. So konnte ich mir später keine Vorwürfe darüber machen, dass ich ihr nicht mehr gesagt hatte, wie wunderbar sie war.

„Hallo Mama“, sagte ich zu ihr und die Tränen liefen mir nur so über die Wangen, „ich liebe dich! Mehr als alles andere auf der Welt. Du bist die Beste.“ Meine Großmutter setzte sich neben mich.

„Mein Kleines, ich liebe dich auch und es tut mir leid. Ich hoffe so sehr, du verzeihst mir. Das ist mein größter Wunsch, dass du mir verzeihst. Ich verspreche dir, dass ich immer für Avery da sein werde. Ich werde ihr nie wieder von der Seite weichen“, sagte meine Großmutter mit brüchiger Stimme zu meiner Mutter. Diese Worte waren nichts anderes als die Wahrheit. Ich kannte meine Großmutter zwar noch nicht sehr gut, aber ich war mir mehr als sicher, dass sie immer bei mir bleiben würde. Ich hatte ihr verziehen. Ich wollte es zwar nicht zugeben, aber ich brauchte meine Großmutter. Ihre Anwesenheit war das Einzig, was mich gerade tröstete und vor dem Zusammenbruch bewahrte.

„Mama, du bist das Beste auf der Welt. Danke für alles. Es gibt so vieles, was ich noch mit dir teilen und mit dir erleben möchte, aber ich weiß, wenn wir es nicht mehr gemeinsam erleben können, bist du trotzdem immer bei mir. In meinem Herzen.“ Ich sagte dies voller Liebe und Verzweiflung. Bildete ich mir nur ein, ein leichtes Zucken in den Zügen meiner Mutter zu erkennen? Ich wusste es nicht hundertprozentig, aber glaubte fest daran, dass sie mich hörte.

„Geht es dir jetzt ein bisschen besser?“, fragte mich meine Großmutter sanft, strich mir beruhigend über den Rücken und sah mich traurig an. Wir blieben die ganze Fahrt neben meiner Mutter sitzen und sagten abwechselnd liebe Worte zu ihr. Wir weinten, aber erzählten uns gegenseitig auch lustige Momente, die wir mit meiner Mutter erlebt hatten und die uns immer zum Lachen brachten. Obwohl es eine sehr schwere Zeit war, war ich so froh, jemanden an meiner Seite zu haben, mit dem ich über alles reden konnte. Das fühlte sich gut an.

„Guck mal, wo wir schon sind“, sagte meine Großmutter und zeigte aus dem Fenster nach draußen. Dort konnte ich schon das Ortsschild von Norden sehen.

„Wir sind da, bitte aussteigen“, sagte der etwas ältere Arzt, der die ganze Zeit bei uns gesessen hatte und ich bewegte mich auf meinen Beinen, die sich wie Pudding anfühlten, nach draußen. Ich war um die fünf Stunden nicht mehr draußen gewesen und die Sonne strahlte so hell, dass mir meine Augen wehtaten. Die Luft roch nach Meerwasser und es wehte ein angenehmes Lüftchen. Das Wetter war schon einmal sehr gut. Als ich mich umdrehte, sah ich etwas, das mir den Atem raubte: Eine Klinik, riesengroß und gefühlt hunderte Stockwerke hoch.

Der Anblick dieser Klinik gab mir Hoffnung. Hoffnung, dass alles gut werden würde.

Aber es war nicht nur die Klinik, die mir den Atem raubte. Die ganze Gegend hier sah einfach wunderschön aus.

„Ich weiß nicht warum, aber ich liebe diesen Ort. Er fühlt sich irgendwie besonders an“, sagte ich zu meiner Großmutter, die mich daraufhin unsicher anlächelte. Danach bedankten wir beide uns noch schnell bei den Sanitätern, die uns gefahren hatten und während meine Großmutter diese noch etwas fragte, blieb ich bei meiner Mutter. Sie lag ruhig auf ihrer Liege und es sah eigentlich so aus, als ob sie nur friedlich schliefe. Ich nahm ihre Hand und drückte sie vorsichtig. Ihre Haut fühlte sich rau an und war viel kälter als vorher.

Ich sah, wie ihre Kräfte langsam immer weniger wurden und ihr Gesicht, sofern das noch ging, immer blasser. Mir kamen schon wieder die Tränen und ich sagte: „Mama, ich liebe dich!“ Ich sagte es aus tiefstem Herzen und betrachtete meine Mutter noch ein paar Sekunden lang.

In diesem Moment spannten sich ihre Gesichtszüge merklich an und man hörte, wie ihre Atemzüge immer kürzer und die Atempausen immer länger wurden.

Das Piepen der Maschinen wurde immer lauter.

Ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich fühlte mich in dem Moment so hilflos wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte das Gefühl, meine Mutter würde gerade vor meinen Augen sterben. Jetzt verlief für mich plötzlich alles wie in Zeitlupe: Ich nahm einen Brief unter der Liege meiner Mutter wahr und griff automatisch danach.

Es war aus reinem Reflex, aber ich spürte, es war das Einzige und Richtige, was ich in diesem Moment tun konnte.

Die Sanitäter kamen direkt danach ganz schnell zu uns geeilt, meine Großmutter, die auch direkt zu mir gelaufen kam, hielt mich ganz nah an sich gedrückt und schluchzte. Ich war wie gelähmt. Gerade noch hatte ich gehofft, alles könnte gut werden und dann … Die Sanitäter eilten hin und her und schließlich kam einer langsam auf mich und meine Großmutter zu und sagte traurig: „Es tut mir leid, wir konnten nichts mehr tun.“

Danach brach ich zusammen.

Der letzte Funke Licht

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