Читать книгу Litho - Janina Julklapp - Страница 7

Mann und Hund

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Frida blutete. Ein dünner roter Faden rann ihr rechtes Schienbein herunter und ihr Knie wurde langsam blau. Die Knöchel an ihren Händen waren aufgerissen und sogar die Ellenbogen. Ihre Schulter schmerzte höllisch. Auf ihren Handflächen zeichneten sich als kleine rote Punkte die Spuren des Dornengebüschs ab, in das sie im Fallen gegriffen hatte. Doch Frida hatte trotz aller Schmerzen nichts unversucht gelassen, diese verdammte Tür aufzubrechen. Und sie hatte nicht aufgegeben. Neben der Tür, unter der elektrischen Wandlampe, stand ein Schirmständer, den Frida schon verzweifelt gegen die wuchtige Eschenholztür gerammt hatte. Immer schlug Frida mit der flachen Hand dagegen, doch sie hoffte nicht mehr, die Tür zu bezwingen. Das, so hatte sie inzwischen mitbekommen, war nicht möglich. Ihre Kehle war heiser vom Schreien und der Schock lähmte ihre Gedanken. Frida war auf dem Dachboden des Kinematographen Ronyane eingesperrt. Besser gesagt, auf Canans Dachboden. Frida kochte vor Wut. Der Alte, der sie die Treppen hochgetragen hatte, war mit Sicherheit von tiefen Kratzern und blauen Flecken übersäht. Doch dieser alte, sehnige Mann hatte weitaus mehr Kraft in seinen Armen gehabt als Frida für möglich gehalten hatte. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, verblüffte sie das nicht mehr. Der Alte war schließlich der, der die Kurbel am Filmprojektor drehte. Beinahe zwölf Stunden am Tag, so gut wie ohne Pause. Frida war wie paralysiert. Es war ein Albtraum. Der Alte hatte sie hier hineingetrieben, die Tür zugeschlagen und von außen den Schlüssel umgedreht. Zusätzlich hatte er einen Stuhl oder einen Besen unter die Klinke geklemmt, sie war sich da nicht sicher. Es gab wenige Dinge, die Frida so hasste, wie eingesperrt zu sein und nicht weg zu können.

Jetzt ließ sie von der Tür ab und tigerte in einem Kreis an Schränken und Requisiten vorbei. Vor ein paar Stunden hätte sie alles dafür gegeben, hier herumstöbern zu können. Canan, deren Vater als Wandertheaterleiter nach Litho gekommen war, hatte genug Utensilien, um eigene Filme zu drehen - was sie manchmal auch taten. Die Schränke quollen über mit prächtigen Kleidern nord- und südländischer Tracht und Garderoben, die man für typisch kontinental hielt. Ein riesiger, weißverschnörkelter Vogelkäfig hing von der Decke, in dem ein ausgestopfter Papagei saß. Bänke, Tischchen und bunte Schirme standen in allen Variationen herum. Plastikblumen, ein altmodischer Kinderwagen, in dem eine Puppe lag und ein großer, auf Stöcken befestigter Pappdrache ruhten in einer Ecke. Und hinter einem gespannten schwarzen Leinentuch verborgen stand die Kamera. Sie war auf eine leere Seite des Dachbodens gerichtet. Die Wand dahinter war mit altmodischen Tapeten beklebt und die Köpfe von mindestens fünf elektrischen Stehlampen waren darauf gerichtet. An der Wand hing ein einzelner runder Spiegel.

Frida sah das alles nicht. Ihre Augen glitten stumpf darüber hinweg. Wie betäubt ging sie weiter im Kreis. Das Gehen beruhigte sie ein wenig. Sie konnte nicht nachdenken, alle Worte schienen weggeflogen zu sein. Nur Davids Gesicht tauchte manchmal klar auf. Sie brauchte einen Plan, eine Idee, wie sie hier abhauen konnte. Ihr fiel nichts ein. Wie eine Filmrolle liefen immer die gleichen Bilder und Fragen in ihrem Kopf ab. Warum habe ich David alleine gehen lassen? Wer hat ihn angegriffen? Ist er verletzt, lebt er? Woher kam der alte Mann? Wieso sperrt er mich hier ein? Wo ist Canan?

Da klingelte ein Telefon. Frida sprang erschrocken ein paar Schritte zurück. Auf einem kleinen Tischchen, links von der Tür, stand ein vergoldetes Telefon mit elfenbeinfarbenen Sprechmuscheln. Frida hatte es für ein weiteres Requisit gehalten. Erst jetzt sah sie das Kabel, das in einem kleinen Loch in der Wand verschwand. Einige Sekunden lang starrte Frida mit offenem Mund den Hörer an. Dann riss sie sich zusammen, rannte darauf zu, packte den Hörer und rief: „Hallo, bitte, Sie müssen mir helfen, ich wurde entführt und eingesperrt! Ich bin…“

„Das ist ein Haustelefon, Frida. Das funktioniert nur hier“, dröhnte die Stimme von Canan in ihrem Ohr.

Frida verschlug es kurz die Sprache. Canan? Dann sagte sie, so gefasst wie sie konnte: „Lass mich frei.“

Einige Sekunden war es still in der Leitung: „Nein.“

„Warum nicht?“

Fridas Stimme zitterte ein wenig. Bleib ruhig , dachte sie, dreh nicht durch…

„Weil ich dir helfen will.“

„Canan, was soll das? Was zum Dogan ist hier los? Was ist mit David?“

Wieder ein sekundenlanges Zögern am Hörer und dann:

„Vertrau mir einfach, Frida. Bitte.“

Fridas Stimme drang aus ihrer Kehle wie zerbrochenes Glas. „Sag mir…. verflucht, wieso sperrst du mich ein? Du bist meine Freundin, ich habe dir vertraut!“

„Jetzt etwa nicht?“

„Canan, WIESO sperrst DU mich hier ein?“

„Wie ich schon sagte. Ich will dir helfen.“

Der Schrecken, der ihr tief in den Knochen saß, veränderte sich. Begann hell und lichterloh zu brennen. Verzweiflung brach aus Frida wie Wasser aus einem Damm.

„DU HILFST MIR WIRKLICH UNGLAUBLICH! DANKE DASS DU MICH EINSPERRST, DAS HABE ICH WIRKLICH GEBRAUCHT!“

Fridas überanstrengte Stimmbänder gaben ein heiseres Krächzen von sich, dann schüttelte das Mädchen ein Hustenkrampf, bis ihre Augen tränten.

„Schon gut, hör mir bitte zu.“

„Hm!“, brummte Frida und schluckte.

„Sie suchen nach dir. Die Stadtwache. Und außerdem die Brut von Adam Rothaar.“

„W’rum?“, knurrte Frida.

„Weil sie glauben, dass du David angegriffen hast.“

Canan würgte Fridas Protest ab. „Ich weiß, dass du nichts gemacht hast! Ich habe den Alten hinter dir hergeschickt, war ja klar, dass es irgendwann Probleme gibt mit diesem Rothaarjungen in der Unterstadt. Er hat euch beobachtet aber im Park ist er nicht schnell genug hinter euch hergekommen. Da war David schon verschwunden. Und als du ihm nachgerannt bist, hat er dich gerade noch erwischt.“

„Der Alte“, echote Frida und dachte an den Kurbler mit den kräftigen Armen. „Aber woher hast ‘n das gewusst?“

„Dass du mit dem Rothaarjungen zu schaffen hast? Für wie blöd hältst du mich denn? Jedes Mal, wenn du dich mit ihm im Kino getroffen hast war mein Haus voll mit Rothaars Schergen und glaub mir, die Bande kenn ich!“

Frida brauchte einige Sekunden, um das Gesagte sacken zu lassen. „Davids Vater hat das gewusst? Er hat seine Leute hinter ihm hergeschickt? Aber David hat immer gesagt…“

Canan lachte. „Verflucht, das ist der Rothaar-Clan! Der alte Teufel Adam weiß genau, was seine Söhne treiben und wo und mit wem. Er weiß, wer du bist. Woher du kommst. Was du machst. Und jetzt sucht er nach dir! Frida, ihr seid vorgegangen wie die Kleinkinder. Das ist Litho, zum Dogan! Du bist zwar noch nicht alt aber du solltest inzwischen klüger sein!“

Frida fühlte sich von der Wucht ihrer Worte erschlagen. „Wo ist David? Lebt er?“

„David lebt. Er liegt im Heilerhaus. Die Rothaar-Schergen haben ihn hingebracht. Dogan, ich weiß nicht genau, wie‘s ihm geht!“

Die Verzweiflung, die ihre schmerzhaften Krallen in Fridas Brust gegraben hatte, lockerte ihren Griff. Frida rang nach Luft. „Hör mal Canan, vielleicht muss ich zur Stadtwache gehen. Ich habe den Angreifer gesehen, ganz kurz!“

„Nein, da gehst du nicht hin.“ Canan sprach hastig und eindringlich. „Verstehst du nicht? Rothaars Leute waren im Kino und sind euch gefolgt. Sie haben gesehen, dass er mit dir unterwegs war. Dir ist scheinbar nichts passiert. Sie mussten glauben, dass du ihn angegriffen hast! Aber der Alte war schneller, er hat dich weggebracht, bevor die Brut kam, es waren aber nur Sekunden. Glaub mir, ob schuldig oder nicht, du willst nicht in die Hände der Brut Rothaars fallen. Natürlich weiß die Stadtwache inzwischen auch, nach wem sie suchen muss. Wenn es dir gelingt, Rothaar und die Stadtwache zu überzeugen, dass du David nichts getan hast, gibt es immer noch was, womit du dich an den Galgen lieferst!“

Fridas Atem ging schnell. „Die… die Schriften?“

„Ja, die Schriften. Frida, du bist eine Ketzerin! Du hast ja keine Ahnung, was das bedeutet, Kind…“ Canans Stimme brach.

Frida lehnte sich zitternd an die Wand. Wie einfältig war sie gewesen zu glauben, sie wäre klüger als alle anderen, sie könne Geheimnisse vor Menschen verbergen, deren Augen und Ohren überall waren? Wer wusste noch alles von dem, was sie tat?

„Was hast du vor mit mir?“, flüsterte Frida. Sie dachte an ihre Mutter, an das, was der Falkenaut damals gesagt hatte. Ketzerin, Ketzerin…

„Sobald es sicher ist, schaffen wir dich raus aus Litho.“

„Was? Das kannst du vergessen! Ich gehe nicht weg!“

Grenzenlose Panik strömte in Fridas Brust. Ihr Zuhause, alles, was sie kannte aufgeben? Niemals!

„Das habe ich mir gedacht. Deshalb der Dachboden. Aber ich werde nicht mit dir streiten.“ Canan klang plötzlich müde.

„Jetzt bitte, denk darüber nach, gibt‘s irgendwas in deiner Wohnung, was dich als Ketzerin belasten könnte? Irgendwas?“

„Nur meine Schreibmaschine wo ich die Schriften drauf getippt hab aber…“

„Wo steht sie?“

„Im Schrank aber…“

„Sonst nichts? Auch nicht bei Jon?“

„Nein aber…“, Frida stockte. „Moment mal, wieso bei Jon? Glaubst du, sie gehen auch zu Jon?“

„Das kann dir jetzt wirklich egal sein!“, sagte Canan und legte auf.

Langsam legte Frida den Hörer wieder auf die Gabel. Der Schock fiel von ihr ab, allmählich kam sie wieder zu Sinnen. Ruhig, dachte Frida, ruhig. Was ist passiert? David wurde angegriffen. Warum bin ich nicht sofort hinter ihm her? Warum habe ich gezögert? Verdammt, wieso? Es ging so schnell. Und David hatte diese Pistole…

Das hatte sie gelähmt, David mit der Pistole zu sehen. Es passte nicht, es war einschüchternd gewesen. Das hatte sie die eine Minute zurückgehalten, diese eine Minute, die entscheidend war.

Gut, weiter. Adam Rothaar hat uns überwacht. Er wusste, dass David in die Unterstadt geht. Und seine Leute waren hinter uns… sie glauben, ich hätte David was getan. Sie suchen mich. Wenn der Alte nicht gewesen wär, hätten sie mich schon. Und die Stadtwache ist hinter mir her. Wenn sie rauskriegen, dass ich eine Ketzerin bin, komm ich nie wieder frei! Oder sie töten mich, wie Mutter…

Zitternd verschränkte Frida die Arme. Diese Gedanken brachten sie nicht weiter.

Wer wollte David töten? Und vor allem, warum? Ein gewalttätiger Bettler? Aber das ist jetzt egal. Was hat Canan gemeint mit: ob ich noch etwas bei Jon habe? Kreuzt die Rothaar Brut oder die Stadtwache bei Jon auf? Tun sie ihm was?

„Stinkende Stadtwächter!“, fluchte Frida. Eins wusste sie genau: niemand würde sie aus Litho wegbringen. Um keinen Preis. Und, egal wie wütend sie auf ihren Vater war, sie würde es nicht zulassen, dass er wegen ihr in Schwierigkeiten geriet.

Endlich gelang es Frida, den Raum, in dem sie eingesperrt war genauer zu betrachten. Es gab keine Fenster, aus denen sie klettern hätte können, keinen Kamin oder eine zweite Tür. Aber Frida gab nicht auf. Sie sah nach oben. Über ihr waren dicke Balken, die das Dach stützten, ein Konglomerat aus ineinander gehakten Ziegeln. Isolierung war hier noch ein Fremdwort. Frida schritt auf und ab, das Dach nicht aus den Augen lassend. An einer Stelle schienen die Ziegel beschädigt zu sein, vielleicht von Hagelkörnern oder einem Sturm. Durch ein faustgroßes Loch in einem Ziegel glaubte Frida einen Stern blitzen zu sehen.

„Gut, Canan… wir werden ja sehen… du hast nicht an alles gedacht“, flüsterte Frida.

Sie rannte zurück in die Ecke, in der die Kamera stand und betrachtete kurz das schwarze Tuch, das über einem Seil gespannt war. Frida löste das Seil aus den Befestigungen an den Wänden, rollte es zusammen und warf es sich um die Schultern. Dann sah sie sich wieder um. Neben einer südländischen Kommode stand ein hoher Schrank, dessen Türen offenstanden. Lampions und buntes Lametta leuchteten heraus. Frida stieg auf die Kommode, krabbelte von dort mit einiger Mühe auf den hohen Schrank, stellte sich mit wackeligen Beinen aufrecht hin und sah wieder nach oben. Mit der Hand konnte sie nach einem Querbalken greifen. Mit einem Sprung hing sie an dem Balken, schlang ihre Beine um ihn herum und gab ihr Bestes, sich hochzuziehen. Es hatte Vorteile, so groß wie Frida zu sein.

Sie brauchte mehrere Anläufe und das Seil rutschte von ihrer Schulter. Dann hatte sie es geschafft.

Sie balancierte auf dem Balken bis zu der Stelle, wo das Loch in dem Ziegel war. Mit der flachen Hand schlug sie dagegen. Er wackelte. Frida schlug härter zu und der Ziegel rutschte aus seiner Verankerung. Sie bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor er auf den Boden fiel. Der zweite Ziegel war einfacher herauszunehmen, denn er war nicht mehr verhakt, genau wie der dritte und der vierte…

Frida lächelte räuberisch. Über ihr strahlte der Sternenhimmel. Sie atmete die kalte Luft ein und kletterte hinaus auf das Dach.

Es war schon Morgen, als Frida die Straße erreichte, in der das Haus ihres Vaters Jon stand. Sie hatte es nicht gewagt direkt dorthin zu laufen. Sie hatte weite Umwege gemacht, die sie durch Hintergassen und Keller führten. Das Besondere an den Kellern der Unterstadt war, dass sie durch ein verzweigtes Gangsystem miteinander verbunden waren. Dieses Gangsystem ging oft lückenlos in das Kanalsystem der Stadt über und es hieß, dass die Gänge antike Abwasserkanäle seien und bis weit in die Berge Perihel führten. Irgendein verrückter Wissenschaftler hatte einmal behauptet, dass die Gänge und Kanäle fast achtzig Meilen lang wären, was die Unterstädter nur belächelten. Es war allgemein bekannt, dass es einhundertzweiundfünfzig Meilen waren.

Jemand, der sich nicht auskannte konnte sich leicht so verlaufen, dass er irgendwann einfach im Dunkeln unter der Erde verdurstete. Doch nicht Frida. Schon als Kind war sie mit ihrer Bande durch die Keller vor den erzürnten, weil bestohlenen Händlern und den Stadtwächtern geflüchtet. Mit verschieden großen Glasstücken hatten sie Zeichen an den Gabelungen gelegt, die ihnen den Weg wiesen. Die meisten lagen noch dort und Frida vermutete, dass sie Generationen von Straßenkindern wie Leo als Orientierung benutzt hatten. Tag und Nacht brannten Fackeln an den bekanntesten Eingängen. Jeder, der in die Gänge flüchten wollte, war so für die schwarze Kälte gewappnet. Wurde er verfolgt, konnte er wertvollen Vorsprung gewinnen indem er alle am Eingang verbliebenen Fackeln auslöschte.

Die Straße war verlassen. Zur rechten Seite lag das Haus, in dem ihr Vater lebte und in dem auch Frida aufgewachsen war. Ein niedriges und unscheinbares Backsteinhaus. Die Fenster aller Wohnungen waren wegen der Hitze weit geöffnet. Nicht aber die in Jons Wohnung im ersten Stock. Frida verbarg sich einige Häuser weiter hinter einem Haufen Sperrmüll, den die Bewohner auf den Gehweg geräumt hatten. Unschlüssig sah sie hinüber. Wie einfach wäre es, hin zu gehen und Steine an das Schlafzimmerfenster zu werfen. Jon würde aufwachen, verschlafen hinuntersehen und sie hineinlassen. Aber nein. So einfach war es nicht. Frida hatte so einige Erfahrungen mit den Stadtwächtern gemacht und dazu gehörte, dass sie listige Hunde waren. Erst musste sie sicher gehen, dass niemand vor ihr hergekommen war. Sie ging in die Knie, kauerte hinter einem Stapel Bretter und überlegte, wie sie mögliche Angreifer entdecken konnte.

Frida nahm eine Bewegung aus den Augenwinkeln war. Blitzschnell wandte sie sich um und sah, wie die alten Decken neben ihr zum Leben erwachten. Erschrocken zuckte Frida zur Seite. Eine Hand schob sich hervor und es tauchte das dunkle Gesicht eines Mannes mit zotteligen Haaren auf. Er stank fürchterlich. Ein Graufell. Frida starrte ihn fassungslos an. Der Graufell starrte zurück, doch Frida konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.

„Er hat gesagt, dass du kommst“, murmelte der Graufell.

„Was?“

Verwirrt und angespannt betrachtete Frida den Mann, der sich aus den Laken kämpfte. Er war mit einer schmutzigen grauen Leinenhose und einem Hemd bekleidet, das eines Tages einmal weiß gewesen sein mochte. An beiden Handgelenken trug er breite Lederbänder.

„Iringa, Jon Iringa. Hat gesagt, ich soll auf dich warten. Soll dir was geben.“

Er sprach so leise, dass Frida ihn kaum verstehen konnte. Er griff in seine Hosentasche und zog ein Stück Papier heraus, das hastig aus einem Almanach gerissen worden war. Er streckte es ihr hin. Fassungslos griff Frida danach. Auf der Rückseite standen Worte, eilig in Jons krakeliger und ungeübter Handschrift hingeschrieben.

Frida, versteck dich. Sie haben mich. Jon

Mit zitternder Stimme flüsterte Frida: „Woher hast du das?“

Der Graufell sah Frida lange scharf an, bevor er antwortete.

„Vor drei oder vier Stunden kam er raus. Hat mich bei den Schätzen“, er wies mit der Hand auf den Sperrmüll, „hier gesehen. Dachte schon, dass er mich vertreiben will. Wollte er nicht. Hat mir den Zettel zugesteckt. Sollte auf eine junge Südländerin mit grauen Augen warten. Hat mir viel Geld dafür gegeben.“

Er sprach knurrig und ungestüm. Frida ballte ihre Hände zu Fäusten. „Wo ist er hin?“

„Nirgends. Ist wieder rein. Kurz danach haben sie ihn geholt.“

Frida hielt den Atem an. „Wer hat ihn geholt?“

„Die Uniformierten“, sagte er und grinste wissend. Sofort sprang Frida auf und wollte auf das Haus zulaufen, doch der Graufell packte sie unsanft am Arm und zerrte sie wieder auf den Boden.

„Lass es. Die sind da noch drin. Warten auf dich. Besser du hörst auf den alten Kerl und tauchst ab.“

„Wie denn?“

Verzweifelt ließ sich Frida auf dem staubigen Erdboden fallen. In ihre Wohnung konnte sie nicht, Jon war verschwunden. Zu Canan zurück war auch unmöglich, wenn sie nicht wieder eingesperrt werden wollte. Heiß brannte die Schuld in ihrer Brust. David war wegen ihr in die Unterstadt gekommen und sie hatte ihn alleine in diesen Wald gehen lassen. Und jetzt Jon, verhaftet, verschleppt. Nur wegen ihr. Hätte sie David niemals mit in das Ladenkino genommen, wäre sie ihm nachgelaufen… Hätte, wäre, wenn. Verzweifelt drückte Frida ihre Handflächen gegen die Schläfen. Sie war völlig erschlagen. Als sie die Hände wieder sinken ließ, sah sie zum ersten Mal die Wunden an den Knöcheln und das Blut, das schon getrocknet war und Spuren auf ihrem Rock hinterlassen hatte. Oh Dogan , dachte Frida, was soll ich denn jetzt tun? Ich brauche Essen, einen Schlafplatz, Papiere…

Der Graufell saß noch immer neben ihr und rührte sich nicht. Frida hob den Kopf und sah ihn an. Er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt und die Haare fielen in sein Gesicht. Er fixierte seine Hosenbeine und schien nachzudenken.

„Wenn ich dir einen Vorschlag machen darf…“, sagte er nach einer Weile leise und unerwartet zungenfertig für einen normalen Graufell. „Du kannst den Tag in meinem cobijo verbringen. Nachdenken. Natürlich…“, seine Stimme wurde wieder zu einem Knurren, „nur wenn du gerade nichts Besseres hast.“

Mit dem Mut der Verzweiflung lachte Frida leise auf. Die ruhigen Augen des Graufells fanden ihre und sie war verblüfft, wie düster sie waren, beinahe schwarz.

„Warum?“, murmelte Frida und wandte den Blick ab.

„Ich weiß wie das ist“, sagte er hart. Frida glaubte ihm kein Wort, er log, das wusste sie, doch sie hatte nicht die Kraft ihm zu widersprechen. Sie nickte kurz und kraftlos. Als der Mann geduckt aufstand, folgte sie ihm, denn etwas anderes fiel ihr nicht ein.

Es war Mittag geworden und schrecklich heiß. Frida wusste genau, warum der Mann so stank. Sie saß auf der festgestampften Erde im Schatten eines verlassenen Steinmetzbetriebes im äußersten Westen der Unterstadt. Die Bretter der Wände waren herausgebrochen und im Inneren konnte sie Staub und Scherben von Steinplatten aller Art sehen. Frida saß zurückgelehnt an eine große Metalltonne, die mit Wasser gefüllt war. Wenige Meter vor ihnen, zwischen Sträuchern und Bäumen hindurch, konnte sie das Rauschen des Aphels hören. Ein friedvoller Platz, wäre da nicht…

Frida rümpfte die Nase. Wenn ein leichter Windhauch das Gestrüpp etwas zur Seite wehte, konnte sie das Wasser des Aphels sehen, das grau-grün oder gelblich-rot-braun vorbeifloss. Jeder Windhauch – heute war unglücklicherweise Ostwind – brachte auch den scharfen und beißenden Geruch von Schwefel, zerfließender Säure und Verwesung herüber. Frida hatte schon viele Arten des Gestankes erlebt, was nur natürlich war, wenn man auf den Straßen der Unterstadt aufwuchs. Doch den grausigen Giftdunst der Gerbereien, den konnte selbst sie nur schwer ertragen. Der Schweiß brach ihr aus. Tropfen rollten ihre Beine hinunter und brannten wie Feuer in den offenen Knien. Wenigsten konnte es kaum schlimmer kommen.

Der Graufell hatte eine Tonschüssel aus einem Sack genommen und schöpfte aus dem Metallfass Wasser. Vorsichtig beugte er sich zu ihr hinunter, schob ihren Rock bis zu den Schenkeln hoch und ließ das lauwarme Wasser auf ihre ausgestreckten Hände und die langen Beine fließen. Frida wusch sich das Blut von der Haut, so gut sie konnte. Dann hielt ihr der Graufell die Schüssel an den Mund und Frida trank gierig.

„Ich habe auch noch einen Apfel für dich.“

Frida zog eine Grimasse. Essen war das Letzte, woran sie denken mochte. Doch der Graufell zog einen Apfel aus dem Sack, wischte ihn an seinem Hemd sauber und reichte ihn ihr. Mit dem Apfel in der Hand blieb Frida unbeweglich sitzen. Der Graufell lachte bellend, holte eine Flasche aus dem Schatten der Tonne und setzte sich ihr gegenüber auf den Boden. Das Sonnenlicht strahlte ihm in die zusammengekniffenen Augen. Er mochte kaum dreißig Jahre alt sein und, dies wunderte Frida, er war ein schöner Mann. Seine dunklen Augen waren schmal und die Haut war schmutzig aber glatt. Er hatte das Gesicht eines südländischen Nomaden. Unruhig sah Frida zur Seite.

„Niemand wird dich hier finden“, sagte er, sie beobachtend. Seine Aussprache des Neu-Acalanischen war ausgezeichnet, nur der Hauch eines südländischen Klanges durchdrang seine Worte. Es war das rrrr , das ihn verriet. Es klang wie ein anlaufender Filmprojektor. Und er sprach schnell und heftig.

„Wie heißt du?“, fragte Frida neugierig.

„Ich bin Samuel“, antwortete er. „Aber ich will von dir wissen. Was ist geschehen?“

Frida seufzte und legte den Kopf gegen das kalte Metall der Wassertonne. Was sollte sie ihm sagen? Dogan, wo sollte sie nur anfangen?

„Ich verstehe“, knurrte er plötzlich, bevor sie ein Wort gesagt hatte. „Es ist so eine Geschichte. Warte.“

Er nahm ihr die kleine Schüssel ab, schüttete etwas aus seiner Flasche hinein und reichte sie ihr wieder.

„Was ist das?“, fragte Frida misstrauisch.

„Es hilft“, sagte er und machte eine elegante Handbewegung, „gegen beinahe alles. Nur nicht gegen den Gestank.“

Frida trank einen Schluck. Es war starker Schnaps, der ihr die Luft zum Atmen nahm.

„Jetzt sag mir. Wer war der Mann? Der mir den Zettel gegeben hat?“

„Mein Vater“, stieß Frida hervor. „Das ist mein Vater. Und es ist alles meine Schuld!“

Verzweifelt griff Frida mit beiden Händen in ihre Haare. Samuel, der Graufell, legte den Kopf zur Seite und sah ihr offen ins Gesicht. Seine Mundwinkel zuckten leicht.

„Alles deine Schuld…“

Für einen eigentümlichen, kurzen Augenblick war sich Frida sicher, dass Samuel in Lachen ausbrechen würde. Dann zog er die Beine an, legte seinen Kopf auf die Knie und verbarg sein Gesicht. Frida fühlte, wie eine angenehme Taubheit sich über ihre Arme und Beine legte. Sie musste versuchen, ihre Nerven zu bewahren. Was konnte sie einem unbekannten Graufell anvertrauen? So wenig wie möglich, wie Frida schon als Kind auf der Straße gelernt hatte.

„Kurz gesagt, ist das passiert: ein Freund von mir wurde überfallen und schwer verletzt. Die Stadtwache glaubt, dass ich das gewesen wäre, weil ich mit ihm zusammen war. Ich kann nicht beweisen, dass es wer anders war und jetzt haben sie meinen Vater mitgenommen.“

Gedämpft bellte die Stimme des Graufells zu ihr durch. „Und, warst du es?“

„Nein!“, sagte Frida scharf. „Ich war es nicht.“

„Und du kannst nicht zur Stadtwache und die Wahrheit sagen warum?“

„Weil…“ Frida rang nach Worten. „Weil mein Freund ein Oberstädter ist und… na ja.“

Sollte sie erwähnen, dass sie Angst vor einer Anklage als Ketzerin hatte? Es war eine einfache Rechnung: Wenn Samuel religiös war, dann würde er ihr, der Ketzerin, nicht mehr helfen. Wenn er nicht gläubig war, dann würde er ihr, der Ketzerin, zwar helfen. Aber es bestand die Gefahr, dass er sie an die Stadtwache verkaufte. Das auf Ketzer ausgesetzte Kopfgeld war das Höchste. So oder so: Es war immer am besten, nicht über Religion zu sprechen. Sie handelte sich nur Ärger damit ein. Und auf die Hilfe von Samuel konnte sie im Moment nicht verzichten.

Samuel hob den Kopf, seine Augen waren weit aufgerissen. „Ein Oberstädter? Ist das ernst? Aber warte…“, erregt beugte sich Samuel nach vorne. „Du redest von David Rothaar.“

Es war keine Frage. Frida nickte. Und da begann Samuel zu lachen. Er warf seine zottigen Haare zurück und johlte gegen den Himmel. Tränen liefen aus seinen schwarzen Augen.

„He! Was soll das? Bist du wahnsinnig? Wie kannst du lachen!“

Zornig sprang Frida auf. Da beruhigte sich der Graufell und fuhr mit einem schmutzigen Ärmel über sein Gesicht. Seine Miene war halb ernst, halb zynisch als er sagte: „Du bist schon tot, weißt du das?“

Zornig warf Frida den Apfel, den sie in der Hand hielt, in den Fluss. Er flog in einem flachen Bogen und platschte ins trübe Wasser.

„Zum Dogan noch mal, ich weiß, dass ich so gut wie tot bin! Warum, denkst du, stehe ich hier? Willst du dich über mich lustig machen?“

„Nicht fluchen“, sagte Samuel scharf. „Du stehst hier, weil du sehr, sehr dumm warst, Frau Frida. So dumm. Ein Rothaar… das ist gefährlich für Menschen wie uns.“

Die Sonne war hinter die Bäume am Fluss gewandert und die Schatten zeichneten lustig hüpfende Muster auf Gesicht und Hemd des Graufells.

„Kann ja jetzt nichts mehr ändern. War ich eben dumm. Und? Was soll ich machen?“

Unruhig begann Frida, im Kreis herum zu laufen. Das trockene, gelbe Gras unter ihr würde bald nachgegeben haben und die Erde würde hindurchscheinen. Litho schrie nach Regen.

„Geh fort“, sagte Samuel.

„Nein“, antwortete Frida.

Samuel lächelte. „Wegen deinem Vater. Obwohl er dir anders befohlen hat?“

„Mein Vater befiehlt mir nichts“, sagte Frida steif.

„Oho!“ Samuels Augen blitzten. „Da ist noch was anderes, Frau Frida. Nicht? Mit deinem Vater. Du bist böse auf ihn. Warum?“

Frida gefror. Für einen Moment stand sie still da. Samuel wartete. Zögernd kamen die Worte von Fridas Lippen.

„Als ich klein war, wurde meine Mutter ermordet. Seitdem versuche ich herauszufinden, wer das getan hat und warum. Und mein Vater… mein Vater könnte mir helfen. Aber er will es nicht. Er hat alle Fotos von Mutter verbrannt und er hat alle ihre Sachen weggegeben.“

„Das ist böse“, brummelte Samuel, als Frida nicht weitersprach.

„Es ist ungerecht“, sagte Frida. „Ich weiß nicht einmal, wo meine Mutter herkam. Sie hat nur mal erwähnt, dass sie nicht in Litho geboren worden ist. Ich meine, schau mich an!“

Frida griff in ihre schwarzen Locken.

„Sehe ich aus wie eine Nordländerin? Nicht mit den Haaren! Mein Vater ist Südländer, er ist dunkel wie ich. Ich bin auch dunkel aber ich habe graue Augen, Nordlandaugen!“

Samuel lächelte und schüttelte den Kopf, so dass Strähnen seines langen Haares in das Gesicht fielen. „Ja, hast du. Und weiter? Du bist ein Gemisch, hörst du? Aber das gibt es heute viel in Litho. Das ist nicht wichtig und nicht besonders.“

Eine tiefe Zornesfalte grub sich in Fridas Gesicht. Sie ließ sich wieder auf den Boden fallen. Die Herkunft ihrer Mutter verfolgte Frida mehr als alles andere. Sie war sich sicher, dass dort der Schlüssel zu ihrem Tod lag.

„Vor einem halben Jahr“, sann Frida, „war ich immer wieder als Tagelöhnerin im Stadtarchiv Unterstadt. Putzen und sortieren. Ich dachte, dass ich dort was finden könnte. Und das habe ich auch! Ich habe den Vermerk gefunden, dass vor fast zwanzig Jahren Agnes und Jon Iringa geheiratet haben. Sonst nichts.“

„Was ist daran so besonders?“

„Das Besondere ist, dass dieser Hochzeitsvermerk der einzige unter tausend anderen war, in dem weder der Mädchenname der Frau, Geburts- oder Wohnort des Paares oder der durchführende Falkenaut genannt wurde. Damit bin ich zu meinem Vater gegangen. Und er…“

„Was hat er getan?“

Fridas Stimme zitterte. „Er riss mir das Papier aus der Hand und warf es in den Ofen. Als ich es wieder rausholen wollte, hielt er mich fest. Wir kämpften und mein Vater schlug mich mit der flachen Hand. Da habe ich das Haus verlassen.“

Den Mund seltsam verzerrt sah Samuel auf.

„Hast du dich eines Tages gefragt, ob dein Vater es war?“

Heftig zuckte Frida zusammen. Dieser Graufell war schlau und feinfühlig. Sie musste sich in Acht nehmen. „Natürlich. Oft. Aber die Antwort ist einfach. Wenn Jon meine Mutter geliebt hat, dann hat er sie nicht getötet.“

„Und er liebte sie?“

„Ja.“

Still saßen beide nebeneinander da. Samuel wagte offenbar nicht, weiter zu fragen oder er hatte das Interesse verloren. Eine Zeitlang schloss er die Augen und schien zu schlafen. Leise rauschte der Fluss Aphel und verbreitete seinen beißenden Geruch.

„Du willst deinen Vater befreien, ja?“, fragte Samuel plötzlich unter geschlossenen Lidern. Frida nickte schwerfällig. Ihre Schläfen begannen dumpf zu pochen. Da war er, der nächste Schritt. Dieser Graufell hatte ihn einfach ausgesprochen. Ihren Vater befreien, ja, das war der nächste Schritt.

„Und du willst wissen, wer deine Mutter getötet hat? Und du musst beweisen, dass du nicht deinen Freund angegriffen hast. Das ist viel. Das ist Großes, nicht einfach. Vielleicht helfe ich dir.“

Überrascht sah Frida den Graufell an.

„Warum solltest du das tun?“, fragte sie feindselig. Und, nach einer Pause: „Wer bist du?“

„Ich bin…“, Samuel grinste. „Nur ein Graufell. Ein armer Südländer, der sich viel erhofft hat in der Stadt aus Gold und Edelsteinen und der gescheitert ist. Der große Dogan hat mir aber eine Gabe geschenkt, weißt du. Die Menschen erzählen mir zu viel. Das ist gut für mich und schlecht für die Menschen.“

Er streckte seine Zunge heraus und verdrehte die Augen. Frida schreckte zurück. Wieder brach der Graufell in lautes Lachen aus, stand auf und sagte:

„Du magst meine Witze nicht. Ich gehe jetzt, komme später zurück. Bleib in der Nähe.“ Dann lief er davon.

Vorsichtig richtete sich Frida auf. Wie abrupt er das Gespräch beendet hatte. Frida wunderte sich über ihn. Dieser Graufell war grotesk aber intelligent. Frida war überzeugt davon, dass er seine helle Freude hatte an ihr und dem, was ihr passiert war. Wie ernst hatte er die letzten Worte gemeint? Vielleicht verkaufte er sie an die Stadtwache. Deshalb war er so plötzlich gegangen. Ja, vielleicht… Es war besser, wenn sie ein Stück fortging. Sie konnte sich alleine durchschlagen. Aber ihr Kopf tat weh, es war heiß und es stank.

„Mir wird übel werden“, dachte sie. „Was für ein vom Dogan verfluchter Schnaps.“

Sie ging langsam zum Flussufer. Hier, im Westen der Unterstadt, war der Fluss verseucht von allen denkbaren Abwässern. Die ekelhafte Brühe der Gerbereinen verdarb alles Leben im Fluss und er würde dampfend und dreckig in das viele Meilen entfernte Meer fließen. Zum ersten Mal fragte Frida sich, ob die Menschen, die noch westlicher am Meer lebten, sauberes Wasser bekommen konnten. Frida kannte nur Litho. Niemals hatte sie diese Stadt verlassen. Aber jetzt, wenn sie darüber nachdachte, wo ihre Mutter geboren sein mochte, wohin der Aphel floss oder wie ein Meer aussah, kam ihr die große Stadt Litho klein vor. Sie dachte an David im Heilerhaus und an Jon, der irgendwo hin verschleppt wurde, für etwas, das er nicht getan hatte und womit er nicht das Geringste zu tun hatte. Sie dachte an den jungen Leo und seine Bande, die nun ohne sie weiter gegen die Falkenauten kämpfen mussten. Litho, die verfluchte Stadt.

Frida ging langsam durch das Gestrüpp am Flussufer entlang, in die Richtung der flachen Gebäude der Gerbereien, gegen die Fließrichtung des Aphels.

Wer hatte David angegriffen und wieso? War es Zufall, wäre nichts passiert, wenn David nicht diesem Schrei gefolgt wäre?

Zufall gibt es nicht, dachte Frida. Die Dinge geschehen nur, wenn sie angestoßen wurden.

Wo waren die Leute von Adam Rothaar, als es passierte? Wenn Adam Rothaar so viel daran lag, dass sein Sohn in der Unterstadt beschützt und beschattet wurde, warum hatten die Leibwächter im entscheidenden Augenblick versagt? Und, vor allem, warum in Dogans Namen dachte sofort jeder, dass sie es gewesen wäre?

„Jon…“, Frida rieb sich die Augen. „Wo bist du? Verflucht noch mal!“

Sie war nicht mehr weit von den ersten Gebäuden entfernt. Sie konnte die in Eile hochgezogenen Mauern der Häuser erkennen, die wieder einzufallen drohten obwohl sie nicht alt sein mochten. Sie ähnelten ihren Besitzern, Männern, die in jungen Jahren grau geworden waren und an Vergiftungen und Verätzungen starben, bevor sie älter werden konnten.

Da geschah etwas Eigentümliches. Obwohl es ein heißer Tag war, fühlte Frida einen Schauer in ihrem Nacken. Ihr war, als hätte sie ihren Namen gehört, klar und so nah, als hätte ihn jemand in ihr Ohr geflüstert. Sie wandte sich um, niemand war zu sehen. Sie spürte nur den leichten Wind, der in ihren Haaren spielte. Erstaunt verharrte Frida unbeweglich. Mit einem Kopfschütteln befreite sie sich nach einigen Sekunden von dem Gefühl. Und als sie den Kopf zur Seite wandte, da sah sie jemanden oder etwas, das sich zitternd in den Zweigen zu ihrer Linken verborgen hatte. Sofort verkrampften sich alle Muskeln in Fridas Körper, die Hände ballten sich zu Fäusten, bereit zum Angriff. Doch der bebende Haufen rührte sich nicht. Frida trat lautlos einen Schritt näher. Zwischen Blättern, Brennnesseln und Unterholz zeichnete sich struppiges, graues Fell ab. Frida beugte sich hinunter und ein gedämpftes Heulen erklang. Da sah Frida, was dort lag: Ein kleiner Hund hatte sich zusammengekrümmt in dem Gestrüpp versteckt, die Schnauze unter einer Vorderpfote vergraben. Sein Fell war schmutzig, zerrupft und er war so dünn, dass Frida die Knochen unter dem Fell deutlich sah. Verkrustetes Blut klebte an einem Ohr und er hatte die Augen nur halb geöffnet.

„He du. Was ist denn mit dir?“

Frida erkannte ihre eigene Stimme nicht mehr. Die Worte kamen abgehackt und krächzend von ihren Lippen. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal, doch es wurde nicht besser. Vorsichtig streckte sie eine Hand aus und berührte den kleinen Hund am Rücken, bereit, sofort zurückzuweichen, wenn er nach ihr biss. Doch er reagierte kaum. Er zuckte nur leicht zusammen und sah sie durch die müden, milchig weißen Augen hindurch vorwurfsvoll an. Sanft streichelte sie über seinen Rücken. Der Kleine ließ die Zunge weit aus dem Mund hängen und atmete pfeifend. Kläglich klopfte der dünne Schwanz des Hundes auf ihre Berührung hin gegen einen Ast. Fridas Sicht verschwamm. Wütend fuhr sie mit ihrem Ärmel über die Augen. Wasser , dachte Frida, er braucht Wasser. Sonst verdurstet er.

Die Tonne neben der verfallenen Hütte fiel ihr ein. Dort würde sie ihn hinbringen, ihm Wasser geben, ihn im Schatten schlafen lassen. Behutsam griff sie unter den viel zu leichten Körper des Hundes und hob ihn an. Er war einfach zu tragen und Frida spürte das rasend klopfende Herz an ihrer Brust.

„Keine Angst“, murmelte sie mechanisch. „Es wird gleich besser.“ Den Hund an sich gepresst, ging Frida zurück zu der kleinen verfallenen Hütte.

Litho

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