Читать книгу Litho - Janina Julklapp - Страница 9
Im Raum des Schweigens
ОглавлениеAls Aki am nächsten Morgen erwachte, war die Sonne schon aufgegangen. Das Haus war still und ihn hatte die beginnende Hitze des Dachbodens geweckt. Bevor er es wagte, das Haus zu verlassen, stand er lange am Fenster und sah hinüber zu seinem Lagerhaus. Erst als er sich sicher war, dass dort keiner wartete und niemand in der Umgebung ihn beobachtete, ging er auf Zehenspitzen und geduckt die Treppen hinunter. Er verharrte für einen kurzen Moment vor der Kammer des Mädchens mit den Locken. Aki konnte wieder keine Menschenseele wahrnehmen und verließ das Haus. So schnell er konnte und, wie er hoffte, ohne zu verdächtig auszusehen, lief er davon. Er ließ die Straße hinter sich, das Viertel und ging nach Südwesten. Vage erinnerte er sich, dass dort eines der beiden wichtigsten Stadttore sein musste von dem Raik sehr oft gesprochen hatte. Vielleicht hatte jemand Raik dort gesehen. Einen anderen Plan hatte Aki nicht. Das Lagerhaus, in dem Aki gelebt hatte lag nahe am Hafenviertel. Nicht weit vom Aphel entfernt. Und das Viertel im Südwesten der Unterstadt, dass er mehr durch Glück als Verstand am späten Vormittag erreichte, war einzigartig in Litho. Es war das Viertel der Händler und es trug einen eigenen Namen: Govina.
Schon die Straßen in Govina waren anders als im restlichen Litho. Während das Hafenviertel von einem geradlinigen Wegeverlauf durchzogen war und sich diagonal und parallel am Verlauf des Aphels orientierte, hatte das Straßenmuster in Govina keinen erkennbaren Sinn. Die Wege zogen sich krumm und verschachtelt durch ein Meer von ebenso krummen und verschachtelten Häusern. Manche Straßen waren gepflastert, andere waren nur aus fest gestampfter Erde. Doch damit nicht genug: Die Häuser in Govina waren viele Stockwerke höher als im Hafenviertel. Und so hatten die Bewohner Stege und Brücken hoch über dem Boden gebaut. Wenn man nach oben sah, so blickte man auf ein Gewirr von Hängebrücken, die knarrten und schwankten und sich bogen. Überall standen Wegweiser, die in jede erdenkliche Richtung weisen konnten, auch senkrecht nach oben: – USMANI Litho-U. Öle Stoffe Gewürze. Alles halber Preis NUR JETZT! – Vierter Stock, Haus Schaar, blaue Treppe . Zwischen den Häusern und Brücken waren Seile aufgespannt, an denen bunte Wäsche trocknete. Die Bewohner liefen aufgescheucht durcheinander, als gäbe es in ihrem Leben keinen Platz für Ruhe und Bedacht. Aki drehte den Kopf hin und her und versuchte, möglichst viel auf einmal zu sehen. Er war sich sicher, dass, von allen Orten in Litho, Govina derjenige war, an dem man ihn am wenigsten finden und verfolgen konnte. Die Menschen liefen von einem Laden zum anderen. Die Frauen trugen schwere Körbe. Auf offener Straße wurde gezankt und gefeilscht. Um einen dicken kahlen Mann herum hatte sich eine kleine Menge versammelt und seine leiernde Stimme dröhnte zwischen den aufgeregten Worten der anderen hindurch: „Stählerne Messer, gute Messer, scharf, für alles stabil, unzerbrechlich, zum Schneiden, Kochen, Halsabschneiden! Nur hier, nur heute, nur jetzt für Sie an den Höchstbietenden, drei Silbermünzen Mindestgebot! Leute, kauft nur heute, nur jetzt…“
Es gab nichts, was es nicht zu kaufen gab. Handel um Handel, Geschäfte und Läden für Essen, Kleider, Schmuck, Waffen, Möbel, Teppiche, Bücher, Lampen, Parfum, Gerätschaften, Überfluss. Niemals hatte Aki so etwas zuvor gesehen. Mit offenem Mund ging er die Straße entlang. Hie und da wurde er von Vorbeihastenden angerempelt.
An einer Straßenkreuzung hatte sich eine größere Menschentraube gebildet. In der Mitte standen zwei Männer. Der eine war splitterfasernackt, nur die Schuhe hatte er an den Füßen. Der andere hielt eine in der Sonne glänzende und reflektierende Rolle hoch, damit jeder sie sehen konnte. Die Frauen in der ersten Reihe kreischten, kicherten und johlten, die Männer stießen höhnische Rufe aus.
„Gnä‘ Weiber und sonstiches Gesindel, hier präsentiere ich Ihnen die neueste und allerwunderlichste Erfindung unserer Maschinenfabriken, ein Stoff, der gar keiner is‘, eine Substanz so wandlungsfähich wie die Kleider der gnä‘ Eheweiber aus der Oberstadt, in seiner Wirkung scheinbar gar nich‘ da, durchsichtich wie der Aphel an der Quelle im Perihel. Aber nich‘ flüssich, sondern erstarrt und glatt wie Eis. N‘ Stoff, den Se in der Natur und an der Haut keines Tieres nich‘ wiederfinden werden, is‘ er von unseren Maschinen erschaffen und kann in jede beliebiche Form gepresst und gegossen werd‘n. Und wie ist der Name von ebendessen jenem neuen Wunderstoff? Die Wissenschaft nennt ihn – Plastich!“
Kreischender Beifall erhob sich. Sodann schritt der Anpreiser zu dem nackten Mann, dessen weiße Haut an den empfindlichen Stellen schon rot wurde, weil die Sonne ungehindert auf ihn niederbrannte. Als ob er einen Verband an einen Verwundeten anlegen wollte, begann der Anpreiser, den Nackten in das Plastik einzuwickeln. Rundherum um den Leib, die Arme an den Körper gepresst, die Beine zusammengebunden. Schon bald begann der arme Mann zu schwitzen und zu taumeln. Er erweckte den Anschein einer glänzenden, wässrigen Presswurst. Der Kopf lief puterrot an. Unter dem Gelächter der Zuschauer fiel er bald um wie ein gefällter Baum und rollte einige Schritte zur Seite.
„Auswickeln, auswickeln!“, intonierten da die ersten und einige Burschen packten den Schausteller, um ihm beim Ausrollen einen gehörigen Drehwurm zu verpassen.
Aki wandte sich ab und ging weiter die Straße hinunter. Er wusste nicht, was er tun sollte. Zunächst galt es, mögliche Verfolger abzuschütteln. Er brauchte einen sicheren Schlafplatz, Essen. Er musste sein Aussehen verändern und sich einen Umhang besorgen oder etwas in der Art. Und dann Raik suchen. Genau an diesem Punkt verschwammen seine Überlegungen im Nebel. Wie nur? Wo mit der Suche beginnen? Oder sollte er sich lieber an den Kerl mit den Tätowierungen halten? Nein, er wusste es nicht. Noch nicht.
Bald erreichte er einen engen Kanal, der vom Aphel abgeleitet wurde. Etwa zwei Meter über dem Wasser erhob sich eine schmale Brücke aus Stein. Links und rechts gab es kein Geländer. Die Fußgänger drängten sich in einem Pulk durch die Mitte, bemüht, nicht in die Nähe des Randes zu kommen. Aki wurde von einem alten Mann energisch an die Seite gedrängt. Aus den Augenwinkeln nahm Aki ein Mädchen wahr, das mit dem Rücken zu den Passanten am äußersten Rand der Brücke stand und offenbar in das Wasser zu ihren Füßen starrte. Aki wurde weiter auf sie zu geschoben. Er lehnte sich weit in die Mitte der Brücke, drückte sich, so gut er konnte, gegen den alten Mann, um nicht mit dem Mädchen zusammenzustoßen. Er ging an ihr vorbei, zwischen ihrem Rücken und seinem Ellbogen zwei Handbreit Platz. Aki berührte sie nicht. Für einen kurzen Augenblick war er sich sicher, dass er unbeschadet an ihr vorbeigekommen war. Aki erstarrte, als sie einen schrillen, überraschten Schrei ausstieß, mit den Armen ruderte und kopfüber mit einem lauten Platsch in das Wasser fiel. Jeder auf der Brücke blieb stehen. Einige traten an den Rand und sahen hinunter. Von dort, wo das Mädchen in das Wasser eingetaucht war, waberten große wellige Kreise bis an die Kanalwände. Fassungslos stand Aki da. Und spürte den Blick des alten Mannes im Rücken. Rasch wandte er den Kopf. Der alte Mann starrte wiederum Aki an und nach einigen Sekunden der erwartungsvollen, angespannten Stille erhob sich seine Stimme anklagend. Den Finger auf Aki gerichtet schrie er: „Du! Du hast sie gestoßen!“
Alle Köpfe wandten sich zu Aki. Augenpaare verengten sich und feindseliges Geflüster ertönte.
„Ich? Was… nein, ich habe nicht…“, stammelte Aki. Zwei Burschen traten drohend einen Schritt auf ihn zu. Verzweifelt ging Aki in die Knie und starrte in den Kanal. Das Mädchen war nicht aufgetaucht.
„Mörder!“, kreischte eine Stimme hinter ihm.
„Warum tut denn keiner was?“, polterte der alte Mann. „Fasst ihn!“
Fasst ihn , dachte Aki erzürnt, ist das das Einzige, was euch einfällt? Ich habe da eine bessere Idee.
Und mit diesem Gedanken sprang Aki von der Brücke, dem Mädchen hinterher. Das Wasser verschlang ihn und als er eingetaucht war, erschlug ihn die Kälte des Kanals, flutete schmerzhaft in seinen Kopf und presste die Luft aus seiner Lunge. Eine klare Erkenntnis drang sich ihm auf: Wer nicht zufällig am Wasser aufgewachsen ist, kann nicht gut schwimmen. Aki hatte noch niemals größere Gewässer aus der Nähe gesehen. Er strampelte verzweifelt mit den Beinen und fühlte, dass er immer noch seinen Beutel um die Schulter geschnallt hatte. Der ihn rückwärts hinunter. Aki kämpfte mit den Riemen, trat wild um sich, um an die Oberfläche zu kommen. Die Kälte machte es ihm unmöglich, seine Finger richtig zu bewegen. Er schaffte es nicht, den Beutel abzustreifen. Er würde ertrinken, hier in diesem verdammten Kanal. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen.
Eine kalte Hand berührte Akis Kopf, tastete über seine Haare, suchte und fand den Beutel. Mit einer unbeschreiblichen Wucht wurde er nach oben gezogen. Sein Kopf durchbrach die Oberfläche und der erste Atemzug kam fast wie ein Schrei von seinen Lippen. Hustend und keuchend ruderte er mit den Armen, suchte Halt. Jemand hielt ihn mit Gewalt an der Oberfläche.
„Alles in Ordnung! Mir geht’s gut! War nicht seine Schuld!“, schrie jemand neben ihm. Und da sah er den Arm, der seinen Beutel gepackt hielt und das Mädchen, das am Ende des Armes schwamm, mit der freien Hand ruhige Halbkreise rudernd. Dunkle Haarsträhnen klebten in ihrem Gesicht. Dann schwamm sie weiter, Aki fest umklammernd, bis an den Rand des Kanals. Eingemauerte Stahlringe bildeten eine Treppe nach oben. Sie schob Aki dort hin. Er griff nach dem ersten Ring und zog sich hoch, während das Mädchen mühelos seinen Beutel hinter ihm herschob.
„Los, mach schneller. Mir ist kalt!“, rief sie.
Mit zitternden Fingern und steifen Knien quälte sich Aki die provisorische Treppe hinauf und brach, als er oben angelangt war, auf dem Boden zusammen. Das Mädchen folgte ihm.
„Ich war’s nicht“, waren die ersten Worte, die Aki herauspresste, mit dem Gesicht auf den schmutzigen Steinen. „Habe dich nicht gestoßen, ehrlich nicht.“
Er richtete sich auf. Das Mädchen saß neben ihm auf den Boden und wrang ihre dunklen Haare aus, die, wie Aki jetzt sah, bis zu ihrem Bauch reichten. Sie war dunkel und mochte aus dem Südland stammen.
„Weiß schon“, sagte sie, ihn nicht aus den Augen lassend. Ihr Blick taxierte ihn und es schien, als könne sie nicht begreifen, was sie sah. Das lange, ausgeblichene Gewand klebte an ihr und von der schwarzen Strickjacke, die sie darüber trug tropfte es geräuschvoll auf den Boden.
„Gestoßen hast du mich nicht.“
Sie sagte das so, als möge sie es nicht gerne zugeben oder als zweifelte sie daran. „Wer bist du?“, fragte sie.
Verwirrt sah Aki sich um. Die meisten Menschen auf der Brücke waren weitergegangen, ein paar standen noch da und sahen herüber, zeigten auf ihn.
„Aki… Aki aus Jordengard. Genannt Wegemeistersohn“, flüsterte er. Das Mädchen riss die Augen weit auf und nickte mehrmals in sich versunken.
„Du… mit dir alles in Ordnung?“, fragte er.
Belustigt nickte sie wieder. Dann legte sie den Kopf zur Seite als wolle sie ihn aus einer anderen Perspektive betrachten. Aki fühlte sich nass, kalt, ungerecht behandelt und zunehmend ungeduldiger.
„Ja… ja…“, stammelte er. „Dann geh ich mal weiter, wie?“
„Was?“, fragte sie, als hätte sie nicht zugehört. „Nein!“
„Wieso nicht?“
Ihre Augen waren weit aufgerissen, die Augenbrauen bildeten eine gerade Linie. Stumm saß sie da wie jemand, der nicht fassen konnte, was vor sich ging.
„Vielleicht hast du einen Schock?“, zweifelte Aki und bewegte die Hand vor ihrem Gesicht hin und her. Blitzschnell packte das Mädchen sein Handgelenk. „Oh nein… das nicht“, sagte sie und lächelte. Ihr Lächeln wurde immer breiter, diebisch.
Sie hat den Mund wie Raik , dachte Aki, sie lächelt genauso schief, ist das nicht irrsinnig?
„Bring mich nach Hause“, forderte sie.
„Was?“
„Bring mich nach Hause!“ Sie fuhr fort wie jemand, dem ein guter Einfall gekommen war. „Du kannst doch nicht eine junge Frau, durchnässt bis auf die Knochen, knapp dem Tod entronnen, alles durch deine Schuld, alleine nach Hause schicken?“
„Ja wie… ich meine, nein… wieso meine Schuld?“, klagte Aki. „Du hast zugegeben, dass ich dich nicht gestoßen hab!“
Er befreite sich von ihrem festen Griff um sein Handgelenk.
„Ja, du hast mich nicht gestoßen aber deine Schuld war’s trotzdem!“
Sie stand auf.
„Ich…“, setzte Aki an, wurde aber unterbrochen. Eine ältere Frau, um die vierzig, rund wie ein Fass, war zu ihnen getreten und hielt einen großen Salatkopf drohend in der Hand.
„Heda, Frollein, will der was von dir?“
„Nein, nein, er bringt mich jetzt nach Hause“, erwiderte das Mädchen freundlich.
„Na dann…“, knurrte die dicke Frau und beäugte Aki misstrauisch.
„Los komm, steh auf, wir gehen!“, flüsterte das Mädchen zu Aki, der verdattert auf die Beine kam, nach seinem triefenden, schweren Beutel griff und sich fortzerren ließ, als sei jeglicher Widerstand im Aphel ertränkt worden.
Das Mädchen, dessen Name Esra war, zog Aki über eine der wackeligen Holzbrücken viele Meter über dem Boden. Aki hatte völlig die Orientierung verloren. Unter ihnen drängelten sich die Menschen durch die gewundenen Gassen von Govina.
„Wohin gehen wir?“, hatte Aki sie gefragt.
„Zum Haus Liga“, hatte Esra geantwortet und seitdem hatte sie nichts mehr gesagt. Die heiße Mittagssonne trocknete Akis nasse Kleider und sein Misstrauen gegenüber dem seltsamen Mädchen, das ihn zielstrebig fortzerrte, wuchs. Dringend wollte er in Govina nach Raik suchen und zu dem Stadttor gehen, von dem er erzählt hatte. Spuren finden, die ihm sagen konnten, wo sein Freund jetzt war und was ihm zugestoßen sein mochte. Diese Esra durchkreuzte seine Pläne.
Vielleicht , dachte Aki, wär es das Beste, ihr einfach von hinten eins überzubraten und zu verschwinden .
Sie hatte doch schon zugegeben, dass er sie nicht in den Kanal gestoßen hatte. War es wirklich notwendig, sie zu ihrem Haus zu begleiten und zornigen Eltern und Brüdern Rede und Antwort zu stehen, warum Esra wie eine ersoffene Ratte aussah? Andererseits hatte sie ihn aus dem Kanal gezogen, in dem er auf jeden Fall ertrunken wäre. Und außerdem brächte er es ohnehin nicht über das Herz, ein entschlossenes Mädchen zu enttäuschen.
Du hast andere Probleme , drang es in seine Erinnerung. Doch er kam nicht mehr dazu, einen Entschluss zu fassen.
„Da sind wir!“, erklärte Esra.
Am Ende der Brücke erreichten sie eine Art große, schwindelerregende Terrasse aus Balken und Brettern, die an den vierten Stock eines Sandsteinhauses grenzte. Von dort aus führten zwei weitere Hängebrücken zu anderen Häusern und eine Wendeltreppe wies nach unten. Es gab keine Fenster in das Haus hinein, nur eine massive Tür aus dunklem Holz. Die war geschlossen. Kein Schild und kein Wegweiser erklärten, wer dort lebte. Esra trat zu der Tür und klopfte. Daraufhin öffnete sich eine Klappe von der Größe eines Taschentuchs in Augenhöhe. Überrascht und neugierig trat Aki einen Schritt näher. Dahinter war ein Gitter zu sehen und ein blassblaues Auge unter buschigen Augenbrauen.
„Tag, Väterchen“, sprach Esra hinein. „Ich komme auf Besuch und bringe einen Freund mit.“
Die Klappe schlug zu. Kurz geschah gar nichts, dann hörte Aki zahlreiche Schlösser klicken, die Tür öffnete sich einen Spalt und Esra schob Aki unsanft hinein. Bevor Aki sich in dem dunklen Raum zurechtfinden konnte, schlug die Tür schon hinter ihnen zu. Schlösser klickten und ein Riegel wurde vorgeschoben. Sie standen in einem kleinen Zimmer, das wie das Empfangszimmer eines Hotels der untersten Klasse aussah. An der Wand war ein Tresen und hinter ihm stand ein Knabe von vielleicht sechzehn Jahren, das Gesicht voller Pockennarben. Vor ihm lag ein Buch. Es standen einige alte Stühle vor hölzernen Tischen, an der Decke baumelte eine staubige grüne Glaslampe. Das war alles. Es gab keine Fenster in den kahlen Wänden.
„Willkommen, Esra und Freund.“
Aki drehte sich erschrocken herum. An der Tür stand ein großer, glatzköpfiger Mann, der Aki sofort unsympathisch war. Das eine Auge schimmerte blassblau unter mächtigen Augenbrauen, das andere war rot unterlaufen und schielte. Außerdem roch er eindeutig nach Schnaps.
„Hallo, Väterchen.“ Esra lächelte und sagte zu Aki: „Das hier ist Väterchen. Ich habe leider nie seinen richtigen Namen erfahren. Aber es ist besser so.“
Väterchen nickte Aki grimmig zu. Aki schluckte.
„Was kann ich für euch tun?“, fragte Väterchen leise.
„Wir hätten da gerne einen Raum des Schweigens.“
„W…w… was hast du vor?“, stammelte Aki erschrocken.
Väterchen grinste breit.
„Au, Esra, au weh! Einen Raum des Schweigens für die beiden… Ja wenn das so ist…“
Er nickte dem Jungen am Tresen zu, der sofort in sein Buch zu kritzeln begann.
„Au Esra“, feixte Väterchen, Aki mit einem Auge fixierend. „Raum elf ist frei. Ha!“ Er ging zu einer Tür, die Aki vorher nicht bemerkt hatte, holte einen Schlüsselbund heraus und schloss auf. Esra folgte ihm.
„H… halt! Was machen wir denn jetzt?“
„Vertrau mir“, sagte Esra. „Es ist sehr wichtig.“
Väterchen warf Aki einen Blick zu, der ihn ohne weitere Worte hinter Esra her trotten ließ. Hinter dieser Tür verbarg sich ein nur schwach beleuchteter Gang. Von diesem zweigten beinahe zwanzig Türen ab, die mit silbernen Nummern am oberen Rahmen gekennzeichnet waren. An Tür elf blieb Väterchen stehen, zückte wieder seinen Schlüsselbund und öffnete eine Tür, die eine Hand breit dick war. Fast wie eine Bunkertüre. Sie sah so bedrohlich und endgültig aus, dass Aki zurückwich. Väterchen lachte, packte Aki hart an der Schulter und stieß ihn hindurch. Taumelnd fing sich Aki wieder, als Esra schon durch die Tür getreten war. Sie schloss sich hinter ihnen und das übliche Klicken von vielen Schlössern erklang. Und dann war Stille.
Der Raum war recht klein. Wände, Boden und Decken hatten eine eintönige braune Farbe. Es gab keine Fenster. Von der Decke baumelte eine einzelne Glühlampe und in der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit Schreibzeug, davor zwei Hocker. Sonst war der Raum leer.
„Willkommen im Raum des Schweigens“, sagte Esra und wies auf einen der Hocker. „Setz dich Aki, genannt Wegemeistersohn.“
Einen Augenblick zögerte Aki, dann ließ sich er sich nieder.
„Was, in Dogans Namen willst du eigentlich von mir?“, fragte er.
„Ich will mit dir reden“, sagte Esra schlicht und Aki schnaubte. Das Mädchen lachte herzlich auf und plötzlich kam sie Aki älter vor. Eine energische Frau, die sich aus einem geheimen Grund köstlich amüsierte. Ihr Gesicht war fein und nur ihr Mund mit dem schiefen Lächeln erinnerte Aki an Raik. Sie hatte große und strahlende dunkle Augen. Ihr pechschwarzes, gewelltes Haar reichte bis zu ihrem Bauch. Sie bewegte sich leichtfüßig und fließend. Die Arme im Rücken verschränkt, tigerte sie vor Aki auf und ab.
„Weißt du, ich will wirklich nur mit dir reden. Und es gibt keinen besseren Ort dafür als die Räume des Schweigens im Hause Liga.“
„Was ist das hier?“
„Es ist…“ Esra grübelte. „Ein Ort für Menschen, die Dinge tun, die besser niemand erfahren soll. Eine Menge Unterstädter kommen hier her. Das Besondere an diesem Raum hier ist, dass dich niemand belauschen kann. Unter keinen Umständen. Was hier geschieht, bleibt auch hier, wie man so sagt. Kein Laut dringt nach draußen. Du könntest fünfzig Graufelle das Lied Bettler Gabo brüllen und im Takt auf Pauken schlagen lassen, kein Mensch würde etwas davon mitbekommen. Hier werden geheime Vereinbarungen getroffen und fragwürdige Geschäfte abgewickelt. Hier geschieht, was die Stadtwächter und die Falkenauten nichts angeht.“
„Und warum sind wir hier?“
„Weil… Ach Dogan, ich weiß nicht wie ich anfangen soll!“
Esra warf die Arme hoch, verschränkte sie hinter ihrem Nacken und blickte Aki direkt in die zusammengekniffenen Augen. Sie wirkte aufgeregt.
„Kennst du das, wenn du dein Leben lang auf eine bestimmte Gelegenheit gewartet hast und dann ist es soweit und du weißt zum Dogan nicht, wie du es am besten anpackst, ohne was kaputt zu machen?“
Aki schwieg. Er begriff nicht, was das Mädchen meinte. Trotz allem war er neugierig. Sie hatte wieder begonnen, vor ihm hin und her zu tigern. Ein lauernder, zurückhaltender Tanz.
„Gut oder nicht…“ Sie rieb sich in einer Geste der Unsicherheit die hohe Stirn. „Ich muss irgendwo anfangen. Würdest du sagen, dass dir in letzter Zeit in deinem Leben ein paar eigenartige Dinge passiert sind?“
Aki zog die Augenbrauen hoch. „Tja, ja, das könnte man schon sagen…“
Und du bist definitiv eines davon , dachte er.
„Vielleicht auch Dinge, die gefährlich waren und dich fast umgebracht hätten?“
„Hm, ja…“
Esra nickte versunken, zufrieden.
„Die nächste Frage ist wichtig, denk gut drüber nach. Hattest du in letzter Zeit einmal das eigentümliche Gefühl, dass irgendetwas oder irgendjemand dicht hinter dir geflüstert hat, ohne dass wirklich jemand da war?“
„Ähm.“
Das ist verrückt , dachte Aki. Und er dachte kurz an die Sekunden, nachdem er damals seine Wohnung verlassen hatte. Als er fortging und knapp den bewaffneten Fremden entkommen war. Dieses Flüstern und ein starker Windstoß im Treppenhaus.
„Vielleicht habe ich das“, sagte Aki vorsichtig.
„Ja… ich wusste es.“
Ihre schwarzen, unergründlichen Südlandaugen blitzten und funkelten wie ein Sommergewitter. Sie sah ihn kurz aus den Augenwinkeln und sagte: „Ich erzähl dir mal was. Musst mir nicht glauben… ach was, das tust du eh nicht. Aber hör’s dir mal an, ja? Nur… nur zuhören.“
Aki rieb sich resigniert den Nasenrücken.
„Fein, danke… Du bist nicht gläubig oder? Nein, du siehst nicht so aus. Das ist gut. Denn es ist so…“ Sie holte tief Luft. „Es gibt da eine Geschichte. Teile davon stehen im heiligen Buch Ga’an. Die Geschichte sagt, dass alle Dinge, die geschehen, von irgendetwas… angestoßen worden sind. Für alles, was passiert gibt es eine Ursache. Einen Anfang. Es heißt, wenn etwas angestoßen wurde dann bildet die Kette der Ereignisse, die daraufhin folgen, einen Pfad in der Zeit. Soviel sagt das Buch Ga’an. Das Buch Do’on sagt aber mehr.“
„Es gibt kein Buch Do’on!“, unterbrach Aki das Mädchen.
Ungeduldig winkte Esra ab. „Ja, nicht mehr. Es wurde vernichtet. Aber weißt du, Menschen haben einen Hang dazu, alte Geschichten zu erzählen, vor allem Großmütter und Großväter. Legenden, mit denen sie groß geworden sind. Ich glaube, dass Teile vom Buch Do’on noch immer in den Köpfen herumgeistern, nur weiß keiner mehr so genau, dass sie wirklich aus dem Buch Do’on sind. Man findet sie in Liedern, Gedichten oder… in Kinderreimen.“
Sie machte eine kurze Pause. Da Aki nichts erwiderte, erzählte sie weiter.
„Es gibt da eine Legende aus dem Nordland. Und die sagt, dass manchmal Dinge auf der Erde angestoßen werden, die einen auffälligen Pfad in die Zeit graben. Es heißt, dass diese Pfade oder Ereignisse von heiligen Wesen angestoßen werden. Es sind… ihre Spuren.“
Esra warf Aki einen schnellen, ängstlichen Blick zu, der keine Regung zeigte. „Was aber wirklich, wirklich interessant an der Legende ist… es heißt, dass Menschen, die auf einen solchen Pfad stoßen, ihn streifen oder betreten und Teil der angestoßenen Ereignisse werden, dass diese Menschen es deutlich spüren können. Im Nordland nennt man ihn den Weg der dunklen Königin .“
Ein Schimmer des Erinnerns verunsicherte Aki. Der Weg der dunklen Königin , das hatte er schon einmal gehört. Als er klein war. Aber von wem?
„Als du vorhin an mir vorbeigegangen bist, da hast du mich nicht gestoßen. Du hast mich gar nicht berührt. Und ich habe dich nicht gesehen. Aber… ich habe dich gefühlt. Du hast… ich weiß nicht, es war wie eine Sturmbö. Es hat mir die Haare ins Gesicht geweht. Und dann hörte ich ein Flüstern, genau an meinem Ohr. Ich bin so erschrocken. Und da habe ich das Gleichgewicht verloren.“
„Was? Ich habe Wind gemacht? Was soll das denn heißen?“
„Natürlich hast du nicht wirklich Wind gemacht.“ Esra blinzelte, schien nach Worten zu ringen. „Ich weiß nicht wie ich’s sonst sagen soll. Aber ich habe es gespürt. Und als ich im Wasser war, da habe ich gewusst was es ist. Oh Dogan, ich habe so ewig darauf gewartet, du kannst dir nicht vorstellen, wie lange! Schon mein ganzes Leben habe ich nach einer Spur gesucht und hier ist sie, hier sitzt sie, genau vor mir! Und was sagst du mir? Dass du ein Wegemeister bist! Das klingt nach einer Spur!“
Ihre Stimme war jetzt laut, hektisch und überschlug sich. Aki neigte sich zurück als fürchtete er, von ihr angefallen zu werden. „Nach einer Spur von was?“
Bebend sagte Esra: „Nach einer Spur von Magie, natürlich.“
Aki wagte nicht, sich zu rühren. Er fühlte, wie sich die feinen Härchen in seinem Nacken sträubten. Und dann hörte er das Schloss klicken. Jemand öffnete die Türe, doch die versprochene Stunde war noch nicht um. Esra schrie, machte einen Satz zur Seite und riss den Hocker zu Boden. Sekunden später stürmte ein bärtiger Mann in den Raum, breit und bullig, schwarzes kurzes Haar und offenbar zu allem bereit.
„ESRA!“, brüllte er. „WAS GEHT HIER VOR?“
Zielsicher griff er nach Akis Kehle und zerrte ihn hoch. Akis Luftröhre quetschte sich zusammen und er röchelte, die Hände hilflos an den Armen des Mannes.
„Nein! Nein, lass ihn, lass ihn heil! Ich brauche ihn!“, kreischte Esra, sprang dem Mann auf den Rücken und packte seine Arme.
„WAS REDEST DU?“
„Er wandelt auf dem Weg der dunklen Königin, verstehst du?“
Etwas Seltsames geschah mit dem Gesicht des Mannes. Die wilden, wütenden Züge erschlafften und fielen in sich zusammen. Für einen Augenblick war sein Gesicht leer. Da löste er die Hände von Aki, der keuchend gegen den Tisch krachte.
„Oh Dogan, bitte nicht schon wieder!“, stöhnte der Mann.
„Nein, du verstehst nicht, diesmal ist es wirklich wahr! Ich bin mir absolut sicher!“, rief Esra.
Der Mann schüttelte sie wie eine lästige Fliege von seinen Schultern. „Du bist dir immer absolut sicher ! Verdammter Dogan, wann hört dieser Mist nur endlich auf? Hast du ihn hergebracht um ihm deinen Hokuspokus einzureden? Ich fass es nicht! Andelin und ich haben uns Sorgen gemacht, es hieß, du wärst mit einem Mann nach Liga verschwunden und…“
Er brach ab und biss sich auf die Lippen. Ein dunkles, wildes Rot flammte bis hinauf zu den Haarwurzeln. Esra hörte nicht zu.
„Saleh, er zeigt alle Zeichen, ich habe es selbst gespürt, es haftet Magie an ihm! Ich weiß ich habe es schon oft gesagt aber diesmal ist es anders, alles ist anders, es ist die Wahrheit!“
Aki stützte sich mit einem Arm auf dem Tisch ab, mit dem anderen rieb er seine schmerzende Kehle. Er konnte kaum schlucken und ein grässlicher Hustenreiz juckte ihn im Hals. Der Mann, Saleh, ein Berg von einem Südländer, ließ von Esra ab und streckte Aki eine Hand hin.
„Tut mir leid, mein Freund. Ich habe Falsches gedacht.“
Wütend, mit tränenden Augen wandte Aki sich ab und hustete.
„Oh Dogan“, sagte Saleh entschuldigend. „Das war meine Schuld. Besser, du gehst nach Hause, mein Freund und vergisst das alles. Du darfst diesem Mädchen kein Wort glauben.“
„Nein!“, Esra warf sich vor die Tür. „Wenn du ihn wegschickst, rede ich nie mehr ein Wort mit dir, nie mehr, bis an dein Lebensende und deine Asche wird in den Abfluss fließen! Dogan verfluche dich, Saleh! Er ist meine einzige Chance!“
Verdutzt strich Saleh über seinen kurzen, dichten Bart und schüttelte den Kopf. Zu Aki, der allmählich wieder Luft bekam, sagte er:
„Sie ist ein dummes Kind, weißt du, besessen von Magie aber sonst ganz in Ordnung.“
Er seufzte. „Vielleicht kann ich dir einen Vorschlag machen, mein Freund. Du siehst verhungert aus. Komm mit uns Abendessen, damit ich das gut machen kann. Und so macht auch Esra keinen Aufstand. Wir können deine Kleider trocknen“, fügte er mit einem Blick auf Akis Beutel hinzu. „Und ich stelle dich später Herrn Andelin vor.“
Aki zog eine Grimasse. Es gab nicht viele Dinge, die er weniger wollte als länger mit diesen Beiden in einem Raum zu sein. Saleh indessen hatte nachdenklich Aki, Akis Beutel und Esra betrachtet, die mit ausgebreiteten Armen vor der Tür stand, heftig atmend. Sein Gesichtsausdruck als er Esra ansah wurde sanft, nachgiebig. Für einen Augenblick schien er sich angestrengt zu besinnen.
„Man sieht, dass du ein Graufell bist“, sagte Saleh plötzlich. „Suchst du vielleicht Arbeit? Oder etwas Anderes? Ausweispapiere? Es würde sich für dich lohnen, Herrn Andelin kennen zu lernen. Man sagt, dass er alles für dich finden kann, egal was es ist.“
„Alles?“, fragte Aki nach einigen Sekunden des Schweigens langsam.
Der Laden von Andelin Novac war in Govina bekannt. Andelin bewohnte ein Haus im fünften Stockwerk direkt unter dem Dach. Man erreichte ihn vom Hause Liga in weniger als zehn Minuten. Es genügte, zwei weitere Brücken zu überqueren, eine Treppe hinauf. Die Tür zu seinem Laden war rot gestrichen und ein kleines goldenes Schild begrüßte den Besucher: Konsum und Antiquitäten Andelin Novac, Öffnungszeiten 7 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, Willkommen .
In Govina sagte man sich, dass man alles bei ihm finden konnte was man sich wünschte. Und wenn etwas nicht verfügbar war, dann besorgte Herr Andelin das Gewünschte in weniger als drei Tagen, auch seltene Stücke aus Süd- und Nordland. Herr Andelin hatte zwei Mitarbeiter, die für ihn verkauften, seine Regale in Ordnung hielten und Buch führten. Es waren ein Mädchen namens Esra und ein Mann, der hieß Saleh.
Soweit man wusste lebten sie bei Herrn Andelin. Neben seiner Kammer im Dachgeschoss. Angeblich waren sie früher einmal Graufelle gewesen, die Herr Andelin von der Straße holte als er noch Falkenaut im Tempel war. Doch das waren nur Gerüchte und denen schenkte keiner Beachtung.
Aki, Saleh und Esra stiegen die Treppe hinauf und Saleh sagte: „Herr Andelin hat bis neun Uhr ein Geschäft abzuwickeln. Besser, wir stören ihn nicht. Gehen wir gleich hinten hinauf, dann kann Aki seinen Beutel abstellen.“
Und die Drei gingen an der Tür vorbei. Eine kleine Feuerleiter reichte von der hölzernen Ebene vor dem Laden weg, kroch am Haus entlang und endete scheinbar sinnlos in der Luft. Esra kletterte behände auf die Leiter und verschwand nach kurzer Zeit im Dach des Hauses.
„Geh du zuerst“, sagte Saleh zu Aki.
Zittrig zog sich Aki auf die Feuerleiter. Unter ihm, weit unter ihm war die Straße, in der sich viele Menschen drängten. Sofort bekam er ein flaues Gefühl im Magen und schwitzige Hände.
„Komm schon!“
Esras Kopf tauchte aus dem Dach auf und er sah das große Loch unter den Ziegeln, wo sie hineingeklettert war. Sie streckte eine Hand aus und half ihm. Dann stand Aki in dem wunderlichsten Zimmer, das er jemals gesehen hatte. Saleh und Esra bewohnten, treffend gesagt, das Dach des Hauses. Über seinem Kopf und schräg zur Seite waren die Dachziegel. An den schweren Dachbalken hingen Kleider und Zettel. An Nägeln, die in die Balken hineingeschlagen wurden, waren Taschen, eine Öllampe und Werkzeug befestigt.
„Das da ist meine Ecke.“ Esra wies nach links auf einen Platz zwischen dem Dach und der eigentlichen Hauswand, wo ein Haufen Decken und Kissen sich türmten. Auf einer Kiste stand eine heruntergetropfte Kerze im Halter und daneben lag ein Stapel Bücher. Ein halbgegessener Apfel vertrocknete friedlich auf dem obersten Buch. An einem Balken daneben waren in einem wilden Durcheinander Zeitungsausschnitte geheftet, die man vom Bett aus betrachten konnte. Auf der rechten Seite lag eine Matratze mit Leinendecke, halb verhängt von einem bunten Tuch, wie Aki es aus den südländischen Stoffläden kannte. Eine Landkarte von Asthenos war auf dem Boden ausgebreitet, in der Punkte mit Farbe markiert worden waren. Auf einem silberüberzogenen Tablett lag eine Pfeife, daneben Bücher in der Sprache des Südlandes.
„Hier schlafe ich“, erklärte Saleh, der hinter Aki hereingeklettert war. Staunend betrachtete Aki den Raum. Es roch nach Apfel, Zimt und etwas Würzigem, das Aki nicht einordnen konnte. Saleh, der große Südländer, hatte sich auf der Matratze niedergelassen. Nachdenklich betrachtete Aki ihn. Etwas in seinem Ausdruck erinnerte Aki an die fahrenden Schausteller aus Pion, die manchmal nach Jordengard gekommen waren. Er sah Aki gerade und mit klarem Blick in die Augen. Sein kurzer, schwarzer Bart war ebenso sauber nach der Art der Schausteller geschoren. Er trug darüber einen kunstvollen, langen Schnauzer. Ein schmaler Bartstreifen zog sich um das Kinn und die Kiefer hinauf bis zum Haaransatz. Seine Kleider waren nach neu-acalanischer und nicht nach südländischer Art. War er ein Südländer oder doch Lithoaner? Aki war sich nicht sicher.
Esra stand stolz und lauernd neben ihm. Die beiden hätten Geschwister sein mögen, doch Aki wurde den Eindruck nicht los, dass sie beide in ihrer neu-acalanischen, trüb-gräulichen Gewandung wie verkleidet aussahen. Er dachte sich die bunten, verzierten und bestickten Kleider des Südlandes. Der verwahrloste Dachboden schien nicht die richtige Umgebung für diese beiden ungewöhnlichen Menschen zu sein. Seine Wut auf die beiden war verflogen, so schnell wie ein Flügelschlag.
„Was macht ihr denn im Winter?“, wollte Aki wissen, das große Loch im Dach im Blick.
„Im Winter ziehen wir in die Vorratskammer neben Andelins Zimmer. Dann werden die Sachen zum Kühlen hergebracht und wir tragen unsere Habseligkeiten rein. Im Sommer ist’s hier aber sehr schön!“, sagte Esra.
„Wenn es kalt ist, schlafen wir auch bei Andelin auf dem Boden, er hat einen Ofen. Zum Glück kommt das aber nicht oft vor“, kam es von Saleh.
„Ja, er schnarcht ganz fürchterlich!“, klagte Esra.
„Und…“, verwirrt griff Aki nach einem Fernglas, das an einer Schnur vom Dachbalken herabhing. „Wieso nehmt ihr euch nicht eigene Kammern? Bezahlt er euch nicht?“
Esra lachte nachsichtig. „Doch, sogar gut. Aber versuch mal, in Govina eine Kammer zu mieten! Die meisten Leute schlafen direkt in dem Raum, in dem sie auch arbeiten. Wir leben ja schon beinahe wie die Oberstädter hier.“
„Andelin zahlt uns außerdem das Essen, Kleider und die Schmiergelder an die Stadtwache. Wir sind nicht gemeldet in Litho, wir zahlen keine Steuern. Eigentlich… sind wir wie du, mein Freund, nur haben wir mehr Glück gehabt.“
Esra hatte ein trockenes Gebäck aus einem Kästchen an der Wand gezogen und streckte es Aki hin. „Bis heute Abend muss das reichen. Andelin kocht immer, als ob wir in feiner Gesellschaft wären. Du wirst dich wundern.“
Eine Stunde später lag Aki ausgestreckt auf Esras Bett. Sie hatte sich mit einem vergilbten Buch neben den rauchenden Saleh gesetzt und flüsterte leise mit ihm. Er solle doch schlafen hatten sie gesagt aber Aki dachte nicht im Traum daran. Den Kopf zur Seite gelegt starrte er direkt auf die Zeitungsausschnitte, die Esra an das Holz geklebt hatte („Hinweise auf magische Vorgänge, ich mach sie jede Woche neu!“): KETZER IN DER UNTERSTADT: WER VERTEILTE DIE HETZSCHRIFTEN? – WO IST DER TEMPELHERR – OBERSTÄDTER SCHWER VERLETZT – TOD EINES FALKENAUTEN: MORD?
Aber diese Neuigkeiten waren nicht der Grund, weshalb Aki nicht schlafen konnte. Es war ein Bild in einem Artikel, der betitelt war mit: WER HAT IHN GESEHEN? Das schwarz-weiße Porträt zeigte einen blassen Mann, der eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte und dessen ausdrucksloses Gesicht über und über bedeckt war mit Tätowierungen. Es war der Mann, der Raik begleitet hatte, an dem Tag als Aki ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Zweifellos, es war genau dieser Mann.