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Der Falke und die Sterne

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Über den Steinbögen spannte sich eine helle und einschüchternde Decke von hundert Fuß Durchmesser. Vor vielen Jahren hatte ein namenloser Künstler unzählige Sterne darauf gemalt. Sie leuchteten golden vor cremeweißen Wolkenfetzen. Im Mittelpunkt des Kreises war ein großer Falke mit silbernem Gefieder, die langen filigranen Flügel ausgebreitet. Von hohen und ebenso runden Glasfenstern aus blauem Mosaik geleitetes Licht füllte den großen Saal Himmelhall des Tempels.

Stuhlreihen, bogenförmig angeordnet, waren auf eine Art Altar gerichtet, ein hellovaler und niedriger Steinblock, auf dem links eine weiße und rechts eine schwarze Kugel ruhte. Der Steinblock selbst befand sich in der Mitte eines leise plätschernden Wasserbeckens, von dem aus ein kleines Rinnsal auf die Besucher zufloss und in einer unsichtbaren Absenkung im Boden verschwand. Himmelhall war kühl, es roch nach einer Mischung aus Tabak, Holz, Moschus und Erde.

Der Saal war bis auf die letzten Stühle voll besetzt und lautes Stimmengewirr hallte und echote durch Himmelhall. Vereinzeltes hysterisches Lachen, wütende Stimmen und beunruhigende Worte.

In der vierten Reihe von vorne, rechte Seite außen, hatte der Ingenieur Edgar Vonnegut mit seiner kleinen Nichte Berta Platz genommen. Edgar Vonnegut hatte erkennbare Mühe, sich in einen der Stühle zu quetschen, da sein Bauchumfang beinahe doppelt so breit war wie die vorgesehene Sitzfläche. Nach einigen Minuten war es ihm gelungen und er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann strich er seinen imposanten Schnurrbart in Form und öffnete in dem Moment, als er sich unbeobachtet glaubte, die Schnalle seines straffen Gürtels. Neben ihm kicherte Berta vernehmlich, die ihren Onkel nicht aus den Augen gelassen hatte. Sie warf ihren Hut mit den blauen Bändern auf den Boden, stellte die Fußspitzen auf den Stuhl ihres Vordermanns, richtete die Puppe auf ihrem Schoß aus und begann, sich neugierig umzusehen. Edgar Vonnegut murmelte ein paar strafende Worte und versuchte, sich nach dem Hut zu bücken. Schließlich gab er seufzend auf und tat es Berta gleich.

Dieser Morgen war… anders. Edgar hatte es bemerkt und wie hätte er es auch nicht bemerken sollen. Schon in dem Augenblick als er mit seinem nagelneuen Automobil in den Tempelhof eingefahren war, sah er es. Die gesamte Oberstadt hatte beschlossen heute zur Predigt zu erscheinen. Edgar wusste, die Gerüchte, die waren schuld. Das Gerede, die Sensationsgier und der Wunsch, es wie Besorgnis aussehen zu lassen. Aber Oberstädter machen sich äußerst selten Sorgen. Warum sollten sie auch? Konnte doch niemand Sicherheit in Gefahr bringen, die von zentnerweise Diamanten und Stacheldraht geschützt wurde. Edgars Augen schweiften umher. Erste Reihe, das Haus Sternberg mit Zia, Tochter und Gefolge. Daneben Marciella von Bahlow, die vollständig verschleiert war und, wie Edgar feststellte, ohne Großmutter Lyssa und Tochter Falka. Ganz in der Nähe die reiche Tänzerin Eleonora Bonadimani. Links außen der komplette Stadtrat mit Familien aufgereiht: Präsidentenfamilie Caspote, Magritte, Cixous und… Verdammmich Dogan , dachte Edgar. Mendax der elende Dreckwühler ! Adam Rothaar war nicht zu sehen und auch seine Frau nicht. Eigentlich niemand aus dem Haus. Edgar spürte ein kurzes Gefühl der Besorgnis. Konnte an dem Gerücht etwas dran sein, welches ihm heute vom Dienstmädchen mit der Milch überbracht wurde, dass Rothaars eigener Sohn genau in dieser Nacht…

In diesem Moment trat ein großer, hagerer Falkenaut auf den Steinblock in dem Wasserbassin. Er war barfuß und trug eine Kette um den Hals, an der eine einzelne weiße Feder befestigt war. Die Menge verstummte, nur um kurz darauf wieder in erregtes Murmeln auszubrechen.

Wo ist der Tempelherr , dachte Edgar, warum dieser einfache Falkenaut? Stimmt es, hat er die Stadt verlassen?

Der Falkenaut hob eine Hand und das Durcheinander erstarb. Sein ruhiger Blick wanderte über die Stuhlreihen.

„Anhänger des Dogan, Zirkel der Wahrheit, Lithoaner, hört, was das heilige Buch Ga’an über den Beginn der Welten sagt.“

Dogan, nicht das , dachte Edgar, heute wo Berta hier ist, Ruth wird mich umbringen…

„Am Anfang war Stille und eisige Todeskälte. Es gab keinen Horizont und keine Erde, die an den Himmel grenzte. Aber aus der Stille erhob sich der mächtige Himmelsfalke Dogan. Der Raum breitete sich vor ihm aus und die Zeit maß sich an seinem Flügelschlag. Auf verborgenen Wegen durchstreifte er die Sphären und erschuf so den Himmel. Denn dort, wo er war, begann alles zu sein. Da sah er unter sich zwei neugeborene Zwillingssterne und ein Himmelssturm erhob sich, fuhr durch das silbermatte Gefieder des Falken. Und Dogan wusste, hier sollte das Leben beginnen. Als der Sturm sich legte, fielen vom Himmel zwei Federn auf die Sterne. Eine schwarze und eine weiße Feder. Ein Raunen ging durch die Sphären. Und die dunklen Wesen begannen, auf dem schwarzen Planeten Do’on zu leben und die erleuchteten Wesen kamen und taten ihre ersten Atemzüge auf dem weißen Planeten Ga’an.

Der Himmelsfalke sah das Leben. Getragen auf den ersten Sonnenstrahlen flog er weiter. Die Wesen der beiden Sterne vergaßen den Falken nie und sie lebten die Wege ihres Lebens nach dem, was er ihnen gegeben hatte. Do’on die Zauberei und Ga’an die Weisheit. Dieses Wunder wurde verkündet von den Ergrauten und so wurde es zum Zeugnis vom Beginn des Lebens.“

In der Halle war es ruhig geworden und Edgar Vonnegut rutschte ungemütlich auf seinem Platz herum. Die Sache gefiel ihm gar nicht, vor allem wegen Berta.

„Die Wesen der Sterne lebten friedlich nebeneinander und gingen ihre eigenen Wege des Dogan. Bis zu dem Tag, an dem der Herr von Ga’an dem Wissenschaftler Asis befahl, ein Teleskop zu bauen, um den Falken am Himmel sehen zu können. Asis tat wie ihm geheißen und er schaute lange hinaus, doch den Falken fand er nicht. Als er müde wurde, die Sterne zu betrachten, wurde er von Neugier gepackt und sah hinüber zu dem Stern Do’on, um zu erfahren, was sie täten um dem Falken gefällig zu sein. Und da erblickte er die listige Hexe Yetunde, die von großer Schönheit war. Und Asis begehrte sie von diesem Augenblick an. Er baute einen mechanischen Falken, welcher ihn nach Do’on zu Yetunde bringen sollte. Es gelang, er flog hinüber und trat Yetunde gegenüber und sie erwiderte seine Liebe. Und ihre Liebe brachte Kinder hervor.

Die Wesen der Zwillingssterne wussten nicht was mit den Kindern zu tun sei, auf welchen Weg des Lebens sie sich begeben sollten, trugen sie doch beide Wege in sich. So beschlossen sie, mithilfe der Zauberei und des Wissens einen dritten Stern zu schaffen, auf dem diese Kinder leben sollten, bis sie ihren Weg gefunden hatten. Und so schufen sie die Welt und brachten ihre Kinder dort hin. Und sie nannten sie Menschen. Sie gaben ihnen ein Buch, das sie den Dogan nannten. Darin war der Weg des Do’on und der Weg des Ga’an geschrieben. Sie versprachen, ihre Kinder zurückzuholen, wenn sie bereit wären. Und die ersten Menschen schlugen den Weg des Do’on ein, denn er war mächtig und verheißungsvoll.“

Der Falkenaut räusperte sich mehrmals. Aus den Augenwinkeln sah Edgar Vonnegut zu seiner kleinen Nichte hin, die mit leuchtenden Augen an den Lippen des Falkenauten hing. Sie umklammerte ihre hässliche Stoffpuppe, die einen verrutschten Strohhut trug und dümmlich grinste.

Tausend schwache Punkte , dachte Edgar Vonnegut und sein methodischer Geist rebellierte. Woher kam der Falke? Und wie viele Kinder hatten Asis und Yetunde, damit sie einen ganzen Planeten bevölkern konnten? Der Do’on ist hier deutlich plausibler, wenn er von drei heiligen Kindern spricht. Und von den Fängern sagt dieser Prediger kein Wort – so als würde nicht die Hälfte von Litho von ihnen sprechen. Elender Schwachsinn und Berta wird daran glauben.

„Doch die Menschen missbrauchten den Weg. Sie kannten keine Mäßigung. Hass beherrschte die Welt. Riesige Reiche wurden geschaffen und die Menschen machten sich Himmelswesen zu Untertan, feuerspuckende, grauenhafte Flugmonster mit Hornpanzern, Dämonen und Geister. Manche Menschen wurden von der Zauberei übermannt und verwandelten sich in bösartige Flügelwesen. Schreckliche Kriege zerstörten unsere Welt. Der Himmel war erleuchtet von meilenhohen Feuern. Tod und Verderben herrschte über uns. Dann wurden die Meere schwarz und verschluckten Schiffe und Kreaturen und die Zeit begann sich zu krümmen. Ein großer Krieg entbrannte unter den Hexenvölkern. In der hundertjährigen Schlacht von Harmadon starben tausende von Menschen auf die schlimmsten Weisen. Als Yetunde sah, was aus ihren Kindern geworden war, schrie sie voller Schmerz. Alle Wesen, auch der Himmelsfalke, weinten. Am nächsten Morgen ging Yetunde und brach mit ihren bloßen Händen Steine aus der Erde Do’ons. Der Zorn der Hexe war groß. Sie schleuderte die schwarzen Steine auf die Welt, um ihre Kinder zu vernichten.“

Stummes Entsetzen folgte auf die Rede des Falkenauten und Edgar sah, dass Berta kerzengerade und mit offenem Mund saß. Ihr Kindergesicht war bleich geworden, Angst stand darin geschrieben. Die Puppe war ihr aus den Händen geglitten und zu Boden gefallen. Mühevoll hob Edgar sie wieder auf. Geistergeschichten , dachte er wütend, doch er konnte, er durfte nichts sagen.

Der Falkenaut fuhr fort:

„So steht es in den Schriften Ga’ans geschrieben. Nur wenige Menschen überlebten diese jammervolle Tat. Unter ihnen waren drei Krieger aus dem letzten Reich. Sie nahmen die ihnen verbliebenen vertrauenswürdigen Gefährten, bestiegen große Schiffe und verließen den Kontinent. Sie nahmen das Buch Dogan, rissen alle Seiten vom Weg des Do’on heraus und warfen sie ins Meer. Sie schworen, von nun an den Weg des Ga’an zu folgen und verbannten die Zauberei aus der Welt. Als sie den Inselkontinent Asthenos erreichten, trennten sie sich: Einer ging in den Norden, einer blieb im Süden und einer, König Vento, ließ sich mit seiner Frau Königin Eira in der Mitte des Landes am Fluss Aphel nieder und gründete die freie Stadt Litho. Von diesem Tag an hatte ein neues Zeitalter unter den Menschen begonnen. Wir, Lithoaner, müssen dafür sorgen, dass der Weg des Ga’an weiterbesteht und jede Ketzerei zerstört wird. Denn sie ist gefährlich und bedeutet den Tod!“

„Was du nicht sagst“, murmelte Edgar leise.

Eine halbe Stunde später stand Edgar Vonnegut vor seinem Automobil und mühte sich, mit schwitzigen Fingern den Schlüssel in das Schloss der Fahrertür zu zwängen. Berta hielt sich an seinem freien Arm fest und Edgar leierte immer dieselben Worte auf und ab:

„Das war nur eine Geschichte, Berta. Es gibt keine feuerspuckenden Flugmonster!“

„Aber“, wandte Berta heulend ein. „Der Falkenaut hat gesagt, die gibt es!“

Edgar verfluchte innerlich den Falkenaut und den ganzen Mist, der im Dogan stand. „Ja, das sagt er, weil er daran glaubt. Aber nicht alles, woran Leute so glauben ist wahr. Schau, Tante Ruth glaubt, dass wenn sie nicht jeden Abend eine Schale Milch vor die Tür stellt, Wichtel kommen und das Haus verwüsten. Sie hat’s schon so oft vergessen und gar nichts ist passiert!“

Berta schien kurz darüber nachzudenken.

„Aber“, bohrte sie hartnäckig weiter. „Falkenauten lügen niemals!“

„Doch, manchmal schon…“, sagte Edgar ohne nachzudenken.

„Glauben Sie, Vonnegut?“

Edgar zuckte zusammen. Klirrend fiel der Schlüssel auf den Kies. Langsam drehte er sich um.

„Oh“, grüßte Edgar verstimmt. „Herr Mendax.“

Der Herr des Hauses Mendax, der das Varieté Oberstadt gebaut hatte und außerdem einige Theater und Lichtspielhäuser betrieb, stand breit grinsend hinter Edgar und Berta.

Er war ein Mitglied des Stadtrates und in der Oberstadt genauso berühmt wie gefürchtet. Man hielt es für das Beste, sich von Mendax möglichst fern zu halten. Vielleicht rührte diese Angst daher, dass Mendax, der über alle Vorgänge in seinen Vergnügungsetablissements genau Bescheid wusste, über das Privatleben vieler Oberstädter delikate Details angesammelt hatte. Natürlich sprach er nie davon. Keiner wunderte sich, wie es dem armen und unbekannten Gehilfen einer Schaustellerfamilie aus dem Südland innerhalb von wenigen Jahren gelungen war, zum reichsten und mächtigsten Mann in Litho zu werden. Mendax war groß und schmal. Meist war er nach der neuesten Mode gekleidet. Heute trug er einen langen, grünen Mantel, einen schwarzen Zylinder und einen Stock mit einem silbernen Falkenkopf. Sein Gesicht erinnerte Edgar an einen Pantomimen, wegen der Blässe, dem breiten Mund und den schwarzen, blitzenden Augen. Er glich – so kam es Edgar an jenem Morgen vor – viel eher einer Figur aus dem Theater als einem realen Menschen. Wie gewöhnlich sprach er langsam und amüsiert:

„Ein Ratsherr der den Dogan in Frage stellt… Netter Skandal, wie? Hoffentlich hat das niemand gehört.“

Er lachte, nahm seinen Zylinder ab und sah Berta an, die verweint hinter Edgar stand und seine Hand hielt.

„Ich habe nicht den Dogan in Frage gestellt, sondern die Falkenauten“, sagte Edgar schwach.

„Das ist durchaus dasselbe!“

Mendax sah ausgesprochen fröhlich aus und schwieg. Edgar ärgerte sich. Wenn er nur gewartet hätte, bis sie im Auto saßen. Dann hätte er abfällig über den Dogan sprechen können und niemand hätte es mitbekommen. Mendax… Aber es passte. Mendax war immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

„Was willst du von mir?“, fragte Edgar ungehalten.

Endlich wandte Mendax den Blick ab und es schien als gelte seine Aufmerksamkeit plötzlich kilometerweit entfernten Dingen.

„Genau wie du, lieber Edgar, habe ich mir die Frage gestellt, was an den… sagen wir, Märchen dran ist, die hier herumgeistern.“

„Ich weiß nicht mehr als du auch.“

Mendax Mundwinkel krümmten sich etwas nach unten, doch Edgar hatte nicht den Eindruck, dass seine Laune sich verschlechtert hätte.

„Da haben wir einen ermordeten Falkenaut und einen, der abgehauen ist. Der Tempelherr wurde seit mindestens einer Woche nicht mehr in Litho gesehen. Und dann diese haarsträubende Geschichte mit Adam Rothaars Sohn. Die Oberstadt wird unruhig, mein Freund.“

Edgar bemühte sich, tief durchzuatmen.

„In Litho werden ständig Leute angegriffen. Und getötet. So ist das Leben.“

Ein Leuchten ging über Mendax Gesicht, als hätte Edgar endlich den Punkt getroffen, an den er gelangen wollte.

„Natürlich! Ja! Das ist Litho! Aber für gewöhnlich sind das Graufelle oder Unterstädter. Jedoch ein Falkenaut und der Sohn eines Ratsherrn… Ich denke, das hatten wir seit vierzig Jahren nicht mehr.“

Die Blicke der beiden Männer trafen sich. Edgar erbleichte und flehte zu allen Göttern, Falken und Wichteln, dass er es schaffen würde, sein Gesicht unter Kontrolle zu halten. Was wusste Mendax? Der Herr des mächtigen Hauses drehte sich mit einem kurzen Gruß und einem strahlenden Lächeln um und spazierte davon.

Edgar blieb fassungslos stehen und sah ihm nach. Gedanken rasten an ihm vorbei, Erinnerungen, dunkle Vorahnungen. Wenn ich nur wüsste , grübelte Edgar, wo er steckt … Eine kleine angstvolle Stimme neben ihm riss ihn aus seiner Erstarrung.

„Werde ich auch getötet?“

Verdammte Yetunde, Ruth wird mich bei lebendigem Leib häuten , dachte Edgar.

Litho

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