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MEIN SCHIFF

Gemäß den Prinzipien der organischen Methode, auch konzentrische Methode genannt, wurden – wie bereits im Vorwort erwähnt – die vorangehenden Kapitel einer Beurteilung durch die Fakultät unterzogen, und nach einer zu unseren Gunsten ausfallenden Abstimmung wurde der Nuówēi-Gruppe die für die Fortsetzung des Projekts nötige Unterstützung bewilligt, eines Projekts zur Ausweitung einer Geschichte, die uns in die Zeit mitnehmen wird, als im 21. Jahrhundert die ersten Mitglieder einer Sippe aus einem fernen, vergessen Land namens Norwegen nach China auswanderten. Auch Mitglieder anderer norwegischer Familien emigrierten, besonders in der Zeit vor dem Siebzigjährigen Krieg, doch obwohl die Zahl ihrer Nachfahren in der Chinesischen Föderation groß ist, können diese sich nicht mit den ersten Bohre-Emigranten an Bedeutung messen. Der Grund unserer ausschließlichen Fokussierung auf diese spezielle Familie leuchtet ein: Wir tun dies, weil die Long-Dynastie, die seit tausend Jahren mehr oder weniger die Führung der Chinesischen Föderation innehat – und die diese Führung mit facettenreicher Weisheit und einer hochentwickelten Vorstellungskraft betreibt –, jene ersten Mitglieder aus dem Geschlecht der Bohre als ihre Stammmütter und -väter betrachten.

Gleichzeitig mit der hier folgenden Präsentation unserer Forschungsergebnisse möchten wir darauf hinweisen, worin nunmehr die Herausforderung besteht: Während wir uns im vorigen Teil unserer Erzählung auf eine kurze Periode und auf ein begrenztes Gebiet konzentrieren konnten, werden die folgenden Teile sowohl zeitlich als auch räumlich eine weit größere Ausdehnung aufweisen und somit denjenigen, die den Wurzeln der Long-Dynastie, ihrer erstaunlichen women guóijā, auf die Spur zu kommen trachten, höhere Anforderungen abverlangen. Auf der anderen Seite jedoch mag darin auch ein Ansporn zu finden sein, da wir wissen, dass die heutigen Leserinnen und Leser über einen Vorteil verfügen, der in der sogenannten Glanzzeit des Romans weniger verbreitet war: die Fähigkeit zur Erkennung triangulärer Zusammenhänge, historischer Verschiebungen sowie der mehr oder weniger verborgenen Fernverbindungen.

In der Version der Ōuzhōu-Gruppe findet Laila Berger keine Erwähnung, doch nach Auftauchen der Chronik von Little Green, und nachdem wir auch bis dato unbeachtete Quellen untersuchen konnten, haben wir uns dafür entschieden, an dieser Stelle einen Teil ihrer fiktionalisierten Geschichte einzufügen, wobei es nicht unnatürlich scheint, mit dem Kaffeekränzchen zu beginnen, das Laila zusammen mit ein paar anderen Familienmitgliedern anlässlich eines der großen öffentlichen, in den 1960er-Jahren in Norwegen stattfindenden Ereignisse veranstaltete. Die Idee dazu war ihr am Wochenende davor gekommen, als sie am Sognsvannsee zufällig ihrer Cousine Kaja und ihre Tante Maud über den Weg gelaufen war. Sie sah die beiden viel zu selten, obwohl sie immer las, was Maud in der Zeitung schrieb, und deshalb lud sie beide für den kommenden Donnerstag zu sich nach Tåsen ein. »Kaffee und Kuchen und viel zu lachen«, sagte sie. Kaja wollte gern kommen, doch Maud lehnte entschieden ab. »Ich suche lieber Zuflucht in der Hütte im Krokskogen«, sagte sie. »Ich will mich am besten so weit wie möglich von diesem anachronistischen Unsinn fernhalten. Wer weiß, vielleicht bekommt das Leben endlich einen Sinn, wenn ich eine Libelle entdecke, die nach mir benannt wird.« Maud lachte, und obwohl sie nicht verstand, worüber ihre Tante lachte, lachte Laila mit.

Zu Hause angekommen, rief Laila ihre Großmutter an und lud sie ebenfalls ein. »Eigentlich hatte ich vorgehabt, an diesem Tag etwas mit deiner Mutter zu unternehmen«, sagte Rita. »Bjørg und ich treffen Ragnhild und Hilde in Halvorsens Conditori, das haben wir schon im Sommer ausgemacht, wir haben bloß vergessen, das Rote Kreuz, oder nein, ein rotes Kreuz im Kalender zu machen.« Ragnhild, Tochter des Reeders Albert Bohre, war die Cousine von Lailas Mutter und Hilde ihr einziges Kind. Sie wohnten in Vålerenga. »Na, dann verlegen wir das Halvorsens doch einfach hierher«, sagte Laila, »als Vorwand, dass wir uns hier treffen. Ich verspreche dir eine Torte, die mindestens genauso gut ist wie im Halsvorsens.«

»Ja, vielleicht wäre es das Beste, in dieser traurigen Stunde zusammenzuhalten«, sagte Rita.

Damit war für diesen Donnerstag Ende August der Kaffeetisch gedeckt, und besonders nett fand Laila, dass ihre Mutter bei ihr zu Besuch war – das kam inzwischen immer seltener vor. Sie versammelten sich im Wohnzimmer, alle das Gesicht einem Tandberg-Fernsehgerät zugewandt, einem Produkt, das Lorang Berger, Lailas Vater, seinerzeit stolz von seinem Arbeitsplatz nach Hause getragen hatte, ein Apparat mit einem Kasten aus Teakholz und einer praktischen Tür, die vor den Bildschirm geschoben werden konnte, doch hier und jetzt wollte keine von ihnen etwas zwischen sich und die Schwarz-Weiß-Bilder schieben, deren Ausstrahlung bewirkte, dass auch der Rest des Landes, zumindest aber der Großteil der Bevölkerung, völlig gefesselt vor den Fernsehgeräten saß. Vor einigen Monaten noch waren auf demselben Bildschirm Bilder von beunruhigenden Ereignissen wie den Morden an Martin Luther King und Robert Kennedy, von den Studentenunruhen in Paris und der Invasion in der Tschechoslowakei gezeigt worden, und auch wenn viele Menschen davon aufgerüttelt worden waren, gab es doch nichts, was das norwegische Volk lieber mitansehen wollte als das langsame Ritual, bei welchem die Kaufmannstochter Sonja Haraldsen mit dem Kronprinzen Harald vermählt wurde. Der Thronerbe hatte sich eine Frau aus dem Volk zur Gattin gewählt. Das stellte alles in den Schatten. Eine willkommene Ablenkung. Ein Märchen, an dem die meisten teilhaben wollten.

Lailas Vater zeichnete für die Marzipantorte verantwortlich. »Ich hätte Konditor im Grand Hotel werden sollen«, sagte Lorang Berger, als er sich mit dem Wunderwerk in der Tür zeigte, fast ebenso stolz wie früher, wenn er mit neuen Sensationen aus der Radiofabrik Tandberg nach Hause gekommen war. Sogar die Marzipandecke hatte er mit Krone und Herz und den Namen der Brautleute dekoriert. Er stellte das Teakholztablett – alles musste jetzt aus Teak sein –, mit dem Meisterwerk auf dem Tisch ab und zog sich zurück, indem er irgendetwas über einen Kameraden, das Lanternen und ein kaltes Pils murmelte.

Bjørg, Lailas Mutter, saß mit regungslosem Gesichtsausdruck am Tisch. Ragnhild hatte eine Hand leicht auf ihren Arm gelegt, und Laila beobachtete, wie sie ihn ab und zu drückte. Ragnhild war Kinderkrankenschwester in Ullevål, und Laila wusste, dass sie Bjørg oft nach Arbeitsschluss in Gaustad besuchte. Kaja wischte sich Tränen aus dem Gesicht, versuchte aber gleichzeitig, sie zu verbergen. Rita, ihre Großmutter, war dagegen rasend vor Wut. »Es ist furchtbar«, sagte sie. »Jetzt wurde der Kampf, Norwegen zu einer Republik umzugestalten, wieder für Jahrzehnte unmöglich gemacht.«

Laila versuchte, sie zum Schweigen anzuhalten. »Vergiss nicht, Großmutter, du bist jetzt in Rente, du solltest es ein bisschen ruhiger angehen.«

»Nur weil ich eine Emerita bin, habe ich nicht zu arbeiten aufgehört«, sagte Rita, »einmal Paläontologin, immer Paläontologin.«

»Warst du nicht im Sommer auf Spitzbergen?«, fragte Ragnhild.

»Ja, meine siebte Spitzbergen-Tour«, sagte Rita sichtlich stolz. »Mehr werden es kaum werden. Aber du weißt ja, ich musste mir diese Dinosaurierfußspuren in den Kreidezeitschichten am Grønnfjord ansehen. Genauso alt wie das Patriarchat.« Sie lachte und zwinkerte Hilde zu. »So weit oben im Norden hat man solche Spuren noch nie gefunden. Ein Beweis für die Kontinentalverschiebung. Diese Landstücke müssen einst viel weiter südlich gelegen haben.«

Hilde, Ragnhilds Tochter, schien sich über Rita Bohre zu amüsieren. Oder ihr Anerkennung zu zollen, weil sie als ältere Frau immer noch aufbegehrte. Hilde war in einem dünnen Afghanenmantel und mit blauer John-Lennon-Brille erschienen. Rußschwarze Augen und Sommersprossen über der Nase. Laut Ragnhild saß sie die meiste Zeit in ihrem Zimmer und hörte sich Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band und ähnlich unbegreifliche Musik an. Das heißt, während sie nebenbei ihr letztes Jahr an der Berufsschule absolvierte. Laila schielte neidisch zu ihr hinüber. Sah sich selbst vor zehn Jahren, als ihr noch alle Möglichkeiten sperrangelweit offenstanden.

Rita ließ sich nicht beruhigen, weder vom Kaffee noch von der Marzipantorte. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum ich hier sitze«, sagte sie. »Die norwegische Monarchie ist doch irgendwie das Allernorwegischste überhaupt. Und was ist?« Wie zur Ablenkung schenkte Laila ihrer Großmutter ein kleines Glas Likör ein, aber es nützte nichts. »Man holt sich einen dänischen Prinzen und gibt ihm den Künstlernamen Harald«, fuhr sie fort, »und dieser dänische Prinz heiratet seine englische Cousine. Sie bekommen einen Sohn, der sich mit seiner schwedischen Cousine verheiratet. Und diese Inzucht wird dann als etwas unverkennbar Norwegisches angebetet.« Rita schnaubte. Hilde lachte noch mehr.

»Ich dachte, du hättest dich von jeglicher Rassenhygiene distanziert«, sagte Ragnhild. »Erinnerst du dich nicht an dein Geburtstagsfest kurz vor Kriegsbeginn?«

Rita schnaubte erneut.

Laila war einfach nur neugierig. Jedes Mal, wenn der Kronprinz in Nahaufnahme gezeigt wurde, betrachtete sie eingehend sein Gesicht. Woran dachte er?

Bjørg, ihre Mutter, hatte mehrere Monate lang nicht gesprochen, weshalb alle überrascht waren, als sie mit einem Klirren den Teller abstellte und plötzlich den Mund aufmachte: »Das hättest du sein können«, sagte sie, an Laila gewandt. »Du hättest Königin von Norwegen sein können. Und sieh dich jetzt an. Sitzt hier herum ohne eine anständige Arbeit. Mit einem Bankert! Wer wird dich jetzt noch wollen?«

Alle schauten Bjørg an. Rita vergaß ihren eigenen Ärger und wollte ihre Tochter zurechtweisen, doch die fing zu lachen an, als wäre das alles als Scherz gemeint, und vielleicht war es das ja auch, das konnte man bei Bjørg nie wissen. Gleich darauf, als Sonja und Harald aus der Domkirche traten und den draußen versammelten Menschen zuwinkten, versank Bjørg wieder in sich selbst und schien das Geschehen auf dem Bildschirm vergessen zu haben, saß nur da und polkte an einem Zipfel der Krone herum, die noch auf dem halben Stück Marzipantorte zu erahnen war, das auf ihrem Teller lag.

»Mach dir nichts draus, Laila«, sagte Rita leise und hob ihr Likörglas.

Das tat Laila auch nicht, aber es war unmöglich, nicht zurückzudenken. An die Zufälle. Oder an Kaja. Oder an ihre Kindheit. An ihre traurige, aber nichtsdestotrotz schöne Kindheit. An das Poesiealbum. »In vielerlei Hinsicht«, sollte Laila als Erwachsene sagen, »gibt es nichts, woran ich mich besser erinnere als an diese sadistische Erfindung.«

Es ist Ende des Jahres 1940, und Laila ist neun Jahre alt. Die gleichaltrigen Mädchen befinden sich in einer Lebensphase, in der Poesiealben auf einmal im Mittelpunkt ihrer Welt stehen. Es ist schon seltsam mit solchen Erscheinungen. Im Jahr davor hatte kein Mensch über Poesiealben gesprochen, und ein halbes Jahr später waren sie wieder vergessen, der Staffelstab wurde an jüngere Mädchen übergeben. Aber jetzt, für einige Monate, sind Poesiealben das Um und Auf, sie werden überallhin mitgenommen, aufgeklappt, überall wird hineingeschrieben, überall daraus vorgelesen. Und natürlich geht es auch darum, wer die schönsten hat, obwohl sich die Auswahl auf einige wenige Ausführungen beschränkt und es noch keine herzförmigen gibt, die sollten erst zehn Jahre später aufkommen, oder solche mit einem kleinen Vorhängeschloss, die sich den Anschein gaben, als wären sie streng geheim, obwohl ein Fingerschnippen genügte, um sie zu öffnen.

Aber die Verse, die hineingeschrieben wurden, waren immer die gleichen. Variationen von »Rosen sind rot, Veilchen sind blau …« und »Ich flechte einen Kranz aus den schönsten Worten …« und »Lev vel« (»Ein schönes Leben«), im Kreuz geschrieben, wie im Gedenken daran, wie kurz das Leben ist. Unni, Britt und Kari haben in ihren Alben bald alle Seiten voll mit übertrieben herzlichen Grüßen und Glanzbildern in Gold und Glitzer. In Lailas Buch aber ist nur die erste Seite mit Text beschrieben, und eine kleine Zeichnung von einer Elfe befindet sich noch darin, nicht von einer Freundin, sondern von Tante Maud.

Laila trotzt ihrer Verlegenheit, geht durch den Schulhof und bietet den anderen ihr Album an, wie eine ausgestreckte Hand, doch die Mädchen kehren ihr den Rücken zu, was Laila nicht verstehen kann, oder eigentlich kann sie es, denn sie hat es vom ersten Schultag an in allen Variationen erfahren. Niemand will mit ihr spielen, niemand mit zu ihr nach Hause kommen, niemand will ihre Freundin sein. Man mochte vielleicht glauben, es habe mit ihrem Aussehen zu tun, mit ihren hellen Haaren und ihren Augen, die vom Blauen ins Violette überwechseln konnten, oder mit ihrem scheuen Wesen, dem auch etwas Träges oder Melancholisches anhaftete.

»Deine Mutter ist geistesgestört«, flüstern sie hinter ihr. Kleine Messer, die sie aufritzen. »Deine Mutter ist irre«, sagen sie. »In Gaustad ist ein Loch im Zaun«, johlen sie.

Das Unverständnis von Kindern. Aber es war schon etwas dran an der Sache, denn in dem Jahr, bevor Laila in der Schule begann, wurde Lailas Mutter, Bjørg Bohre, verheiratete Berger, in die psychiatrische Anstalt Gaustad eingeliefert. Ab und zu wohnte sie zu Hause, genauso oft aber war sie in Gaustad, und die Aufenthalte in der Klinik wurden immer länger. »Wo ist Mama?«, fragte Laila manchmal, wenn sie von der Schule heimkam. »Noch in der Klinik«, sagte ihr Vater und strich ihr übers Haar. »Du weißt ja, ihre Nerven sind etwas aus dem Gleichgewicht, sie braucht Ruhe.« Erst als Laila älter wurde, erzählte er ihr von den Stimmen, die ihre Mutter hörte, überall, Stimmen, die ihr nichts Gutes wollten, sondern ihr von grausamen Dingen erzählten, die sie mit ihr anstellen würden. Lorang Berger hatte sehr bald begriffen, wie es um seine Frau bestellt war – »sie verschwindet vor mir, sie verschwindet in die Dunkelheit«, sagte er zu Rita, Bjørgs Mutter –, und die Familie übersiedelte von Skillebek nach Tåsen, damit er nicht mehr so einen weiten Weg zurücklegen musste, wenn er sie in der Klinik besuchte. Auch aus einem anderen Grund stellte sich dieser Umzug als eine kluge Entscheidung heraus, denn einige Jahre später bekam Lorang Berger, ein fähiger Elektroingenieur, Arbeit in den neuen, prächtigen Anlagen der Radiofabrik Tandberg in Kjelsås. Lailas kleiner Bruder, manchen auch als Blue Norwegian bekannt, war darauf ganz besonders stolz und versäumte keine Gelegenheit, seinen Vater zu der am Maridalsvann gelegenen Fabrik zu begleiten oder die vielen neuen Produkte zu bewundern, die Tandberg in seiner Glanzzeit in Umlauf brachte, nicht zuletzt die Tonbandgeräte. Erst als Erwachsene wurde Laila bewusst, was ihr Vater in dieser anstrengenden Zeit durchgemacht haben musste. Sie erinnerte sich noch, wie sie zum ersten Mal eine Ahnung davon bekommen hatte, welcher Art die Probleme ihrer Mutter waren. Das musste direkt vor einer Geburtstagsfeier gewesen sein. Ihr Vater hatte eine Melodie gepfiffen, während ihre Mutter am Küchentisch saß und die Schokoladentorte verzierte. Plötzlich war ihre Mutter zusammengesunken und hatte zu schluchzen begonnen, und ein Streifen Puderzucker war von dem »Alles Gu«-Schriftzug auf der Torte auf den Tisch hinunter gelaufen. Schnell war ihr Vater herbeigeilt und hatte die Mutter ins Schlafzimmer gelotst, dann hatte er einen Arm um Laila gelegt und gesagt, alles würde gut werden, woraufhin er einfach an der Stelle, wo ihre Mutter die Arbeit unterbrochen hatte, weiterarbeitete und alles fertig schrieb, den Namen, die Jahre. »Wer einen Schaltplan zeichnen kann, der kann auch eine Torte mit Puderzucker verzieren«, sagte er und gab seiner Tochter einen Kuss auf die Wange. »Du kannst jetzt die kleinen Kerzen draufstecken.«

Einmal fiel Laila eine Fotografie ihres Vaters in die Hände, eines jungen, fast nicht wiederzuerkennenden Mannes an Bord eines Segelboots. »Das war einmal meins«, sagte er auf ihre Frage hin. »Auf einer Segelfahrt mit diesem Boot habe ich deine Mutter kennengelernt. Bei der Killingen-Insel. Sie war Paddeln mit Ritas Kajak. Ich habe sie gefragt, ob sie mich auf eine Weltumseglung begleiten will.« Ihr Vater lachte, wirkte dabei aber auch ein wenig verlegen. Vielleicht weil er dachte, Bjørg sei nie irgendwo anders gesegelt außer durch sich selbst, in einem weißen Zimmer in Gaustad. Als sie von Skillebekk weggezogen waren, hatte er das Boot verkauft. Laila begriff, dass ihr Vater einen Verzicht geleistet, einer Möglichkeit entsagt hatte. Dass er vielleicht ein anderes Leben gelebt haben könnte, ein anderes als das, in dem er Tonbandgeräte für Vebjørn Tandberg konstruierte.

Laila hatte nicht verstanden, was mit ihrer Mutter nicht stimmte. Sowohl zu Hause als auch in dem Zimmer in Gaustad verbrachte sie mitunter viel Zeit damit, ihre Mutter zu beobachten, die auf einem Stuhl saß und aus dem Fenster starrte, auf eine Aussicht, die sie ganz offensichtlich nicht interessierte. Oder sie hielt ihre Augen auf die kleine Märklin-Lokomotive gerichtet, die sie auf die Fensterbank gestellt hatte und die ihr anscheinend Trost spendete. Manchmal hatte sie einen kleinen Geigenkasten auf dem Schoß liegen, fast wie eine Puppe. Nur selten war sie geringfügig anwesender, und dann sprach sie auch ein paar Sätze, wenn sie im Gemeinschaftsraum saßen oder im Erker, wo sie ihre Blue-Master-Zigaretten rauchen durfte, oder sie erzählte etwas bei einem Spaziergang in den Laubengängen zwischen den Gebäuden. Mitunter las sie Laila eines der Gedichte vor, die sie geschrieben hatte. Denn wenn sie überhaupt etwas tat, dann schreiben, Gedichte schreiben. Als Laila und Bård noch klein waren, hatte sie ihnen oft vorgelesen. Hauptsächlich Lyrik. Die Texte anderer. Von Rita hatte sie die Anthologie mit persischen Gedichten übernommen, ein wunderschönes, gebundenes Buch, das Rita von einem gewissen Mr. Carlton bekommen hatte. »Dieses Buch ist in Persien gewesen«, flüsterte sie Laila zu, »es ist mit der Eisenbahn gefahren.« Viele dieser für Laila unergründlichen Gedichte konnte ihre Mutter auswendig, auf Englisch. Als sie noch Kinder waren, hatte sie ihnen manchmal vorgesungen. Kirchenlieder. Oder Lieder in der mystischen neunorwegischen Sprache. Auch das eine oder andere deutsche, von Schubert oder Schumann, oder wie sie alle hießen.

Erst als sie älter wurde, bekam Laila mehr darüber zu hören. Nicht nur über die beiden Brüder ihrer Mutter, Harald und Sigurd, die im Krieg gestorben waren, sondern auch von ihrer Trauer über den Verlust ihrer Freundin. Nach allem, was Laila verstand, war ihre Mutter nach Esthers Verschwinden nicht mehr dieselbe wie früher. Bjørg hatte von den Verhaftungen jüdischer Frauen und Kinder im Morgengrauen des 26. November 1942 gehört. Sie hatte Lorang gebeten, nicht in die Arbeit zu gehen, damit er auf Laila aufpassen konnte, und war zu Esthers Versteck gelaufen. Aber es war zu spät. Jemand hatte Esther denunziert. Nur der Geigenkasten war noch da. Bjørg war auf der Brücke gestanden, als die Juden an Bord der »Donau« zusammengepfercht wurden, bevor das Schiff noch am selben Nachmittag nach Stettin ablegte, eine Zwischenstation vor der letzten Etappe nach Auschwitz.

Lailas Poesiealbum blieb leer, abgesehen von Tante Mauds Eintrag. Das heißt, sie konnte einen widerwilligen Bård dazu bewegen, einen Vers hineinzukritzeln, den sie ihm selbst diktierte. Ihr Vater schrieb einen Gruß hinein. Erst als sie als Erwachsene wieder in dem Album blätterte, sah sie, dass er »Lev Selv« (»Leb dein eigenes Leben«) geschrieben hatte. Als Kreuz. Eines Tages, als sie das Album mit in die Klinik nahm, schrieb ihre Mutter eines ihrer Gedichte hinein, mit Füllfeder und in einer so schönen Handschrift, dass Laila der Mund offenstand. Danach starrte ihre Mutter die Füllfeder an, als handle es sich um ein kleines Raumschiff, ein Gefährt, das sie auf Reisen zu fernen Planeten mitnehmen konnte. Manchmal dachte Laila, dass es ihrer Mutter gut gehe, alles in Ordnung mit ihr sei, solange sie nur in sich selbst verbleiben konnte. Dass Gaustad für sie dasselbe war wie das Schneckenhaus für den Einsiedlerkrebs.

In diesen Jahren wohnte Laila oft bei ihrer Großmutter. Damals bedurfte sie sehr stark jener Qualität Rita Bohres, die wir als ihre bedeutendste erachten: die Fähigkeit, den Menschen Lebensmut einzuflößen – eine Fähigkeit, die von den Gründern der Long-Dynastie gūwū genannt wurde und der sie ganz besondere Hochachtung entgegenbrachten. In regelmäßigen Abständen nahm Rita Lailas Kopf zwischen ihre Hände und sagte: »Nichts ist wie ein kleines Mädchen«, um sie dann auf die Stirn zu küssen, bevor sie hinzufügte: »das noch sein ganzes Leben vor sich hat.« Für sie war es ein Trost, draußen in Lysaker mit Rita Bohre zusammen zu sein, in dem großen Haus, mit der Eiche wie ein Filter zwischen Terrasse und Fjord, ein Baum, in dem sie auch kletterte, hoch oben auf allen Ästen, die ihr Gewicht trugen. Wer brauchte schon Freundinnen, wenn man hier sein konnte, wenn man im Garten auf den Grünflächen umherlaufen, alle Räume der Villa erforschen oder sich mit seiner Großmutter unterhalten konnte, während sie an ihren Fossilien herumwerkelte, oder mit Dagny, der Haushälterin, die Laila an ihren täglichen Verrichtungen teilhaben ließ, oder wenn man einigen der sonderbaren Menschen aus der Nachbarschaft begegnete. Doch dann, im Alter von zwölf Jahren, passierte etwas mit Laila. Es war, als sei die Schläfrigkeit von ihr abgefallen und sie habe sich aufgerichtet, verwandelt. Sie lächelte öfter. Ein vorsichtiges, schiefes Lächeln. Ihr fiel auf, wie die Leute sie heimlich ansahen. Nicht weil sie schön war, sondern weil ihr Gesicht aus irgendeinem Grund Neugier in ihnen weckte.

Zu der Zeit fragte einer von Ritas jüngeren Lysaker-Freunden, ein Künstler, ob er Laila malen dürfe. Rita hatte ihn bereits damals kennengelernt, als sie an der vieldiskutierten Zeitschrift Neon mitgewirkt hatte. Laila spielte manchmal mit einem seiner Söhne, und so kam es, dass Rita Laila eines Nachmittags im Frühherbst an nach reifem Obst und Beeren duftenden Gärten vorbei hinunter zum Strandveien begleitete, zu dem weißen Haus, wo der Maler, in kariertem Hemd, ihnen die Tür öffnete und sie in sein Wohnzimmer hereinbat.

Was Laila von diesem Nachmittag am besten in Erinnerung geblieben war – zusätzlich zu dem schönen Kachelofen –, war die Art und Weise, wie der Maler, der Kai Fjell hieß, an dem Tisch beim Fenster gesessen und sie gemustert hatte. Als versuchte er, ihre Persönlichkeit aus ihr herauszulocken. Nur ein einziges Mal sollte sie später einem Mann mit einem so prüfenden Blick begegnen. Still saß sie auf dem Stuhl, während sie den Bleistift über das Papier streichen hörte. Er war lange beschäftigt, fing immer wieder von vorn an, während er mit stechendem Blick abwechselnd sie und das Papier betrachtete. Als Rita, die in den Garten hinausgegangen war, wieder hereinkam, warf der Maler ihr einen Blick zu und vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich kriege es nicht hin«, sagte er und lachte. »Ich weiß nicht, woran es liegt. Sie hat ein Geheimnis, das ich nicht einfangen kann. Vielleicht weil es erst zur Hälfte entfaltet ist.«

Laila bekam seinen letzten Entwurf zu sehen. Die Zeichnung wies eine so frappante Ähnlichkeit mit ihr auf, dass sie einen kurzen Schrei ausstieß. Das heißt, die wenigen Striche förderten in ihrem Gesicht etwas zutage, das sie davor im Spiegel noch nie bemerkt hatte. Sie dachte: Sehe ich mich jetzt vielleicht zum ersten Mal? Doch Kai Fjell war nicht zufrieden. »Du hast eine Gabe«, sagte er. »Eine Form der Schönheit, die so selten ist, dass sie fast unsichtbar ist.« Während er das sagte, strich er ihr auf dieselbe, tröstende Weise durchs Haar wie ihr Vater.

Ereignisse wie diese verliehen ihr ein geheimes Selbstvertrauen, wurden ein Panzer, machten sie stark und ließen sie traurige Dinge wie das mit dem Poesiealbum vergessen. Die Wörter, die sich in sie eingeritzt hatten. Die Angst, eines Tages so zu enden wie ihre Mutter. Ihr war bewusst, dass auch ihre Großmutter, besonders als sie noch klein gewesen waren, befürchtet hatte, Bård und ihr könnte eine unvorteilhafte Last als Erbe mitgegeben worden sein. Laila, die verwandelte Laila, wies solche Gedanken alle von sich. Sie machte sich einen Spaß daraus, Bilder aus Wochenzeitschriften auszuschneiden und sie auf die frei gebliebenen Seiten ihres Poesiealbums zu kleben. Bilder der Königsfamilie, der Prinzessinnen Astrid und Ragnhild, besonders aber von Prinz Harald. Ihre Großmutter rümpfte darüber die Nase, aber Laila lachte bloß. »Wart’s nur ab«, sagte sie. »Ich werde Königin von Norwegen.«

Das war natürlich nur so dahingesagt, etwas, das sie im Spaß geäußert hatte. Hätte sich der Zufall jedoch auf ihre Seite geschlagen, hätten sich ihre Worte bewahrheiten können, und das alles dank Kaja, ihrer Cousine, die erst mehrere Jahre später, auf dem Gymnasium Berg, Lailas erste richtige Freundin wurde. Tante Maud war aus dem Stadtzentrum nach Korsvoll gezogen, weil sie näher an dem großen Waldgebiet der Nordmarka wohnen wollte. Sehr früh schon hatte Kaja bemerkt, dass Laila gemobbt wurde, nicht durch solche offensichtliche Hänseleien wie in der Grundschule, sondern etwa in Form von Bemerkungen über ihre Haare oder ihre Röcke – manchmal fiel es ihr ein, einen der Röcke ihrer Großmutter anzuziehen –, und die beiden schlimmsten Quälgeister der Schule waren auch die beiden schlimmsten ihrer Kindheit. Eines Tages nach Schulschluss, als diese beiden Ränkeschmiedinnen mit ihren Eistüten in Tåsen am Kiosk standen, ging Kaja zu ihnen hin, schnappte sich ihre beiden Tüten und rieb ihnen, gleichzeitig, die Gesichter damit ein – Laila stand etwas weiter weg und war beeindruckt von der Schnelligkeit und Koordination dieser Bewegungen. »Von jetzt an sind alle Arten von Röcken erlaubt!«, rief Kaja. »Noch so ein spöttischer Kommentar von euch und ihr kriegt was Härteres ins Gesicht als nur Eiscreme!«

Kaja hatte etwas Steinhartes und Zielgerichtetes an sich. Nach dieser Episode – und die Gerüchte darüber verbreiteten sich rasch – hörte Laila für den Rest ihrer Schulzeit keine einzige vorlaute Bemerkung mehr.

Die beiden Cousinen hatten einander gefunden, obwohl Kaja als frech und extrovertiert galt, Laila dagegen als sanft und schweigsam, und das auch noch, nachdem das Träge und leicht Tranceartige von ihr abgefallen war. Kaja war verrückt nach Filmen – ihre Mutter behauptete, sie habe das von ihrem verstorbenen Vater, Sigurd Bohre. Kaja tapezierte die Wände ihres Zimmers mit Bildern von Marlon Brando, James Dean und Montgomery Clift; Laila legte diesbezüglich einen weit geringeren Eifer an den Tag, aber es machte ihr Spaß, mit Kaja ins Kino im Stadtzentrum zu gehen und sich alle neuen Filme anzusehen, die dort gezeigt wurden. Danach lagen sie oft noch schwatzend in ihrem Zimmer, und an einem dieser Abende zog Kaja sie ins Vertrauen über einen Verdacht, den sie schon seit längerem hegte: »Ich glaube, Sigurd ist nicht mein Vater. Es gibt da etwas, das meine Mama mir nicht erzählen will. Vielleicht ist er berühmt. Ein Schauspieler!« Sie schaute Laila mit ihrem dramatischsten Blick an. »Ich will ein Filmstar werden«, sagte sie, »ich glaube, das steckt in mir drin.« Kajas Ziel war es, bemerkt zu werden. Einmal erschien sie mit komplett weiß geschminktem Gesicht in der Schule. Sie sagte zu Laila: »Wir müssen uns von den anderen abheben!« Laila dachte, dass sie das auf einfachere Weise zustande bringen müsste.

Auch in einem anderen Punkt unterschieden sich die beiden Cousinen: Durch das Kontaktnetz ihrer Mutter, die Journalistin war, verkehrte Kaja lange Zeit in den nobleren Kreisen der Stadt, will heißen, in Gesellschaft der Prominenz, die es damals eben so gab. Zudem war Kaja wie besessen von Françoise Sagans Roman Bonjour tristesse, auch von der Schriftstellerin selbst, und in dem Sommer, nachdem sie ihr Abitur gemacht hatte, durfte sie sich von einem Freund ihrer Mutter einen offenen Sportwagen leihen. Sie sausten mit Kopftüchern durch die Gegend, und genau wie ihr französisches Vorbild fuhr Kaja barfuß, Laila war noch nie auf so vielen mondänen Festen gewesen, überall Jazz und massenhaft Katzen, geöffnete Weinflaschen und Männer, die einen Jargon sprachen, den nur sie selbst verstanden. Aufgrund dieses Bekanntenkreises konnte sie dann auch eines Spätsommers zwei Einladungen vor Laila auf den Tisch knallen: »Wir werden, liebe Freundin, auf den Abschlussball der Militärakademie gehen. Und weißt du, wer auch auf diesem Ball sein wird?«

»Paul Newman mit seinen blauen Augen?«, scherzte Laila.

»Kronprinz Harald«, sagte Kaja. »Aber sieh dich vor. Er gehört mir.«

Diese unvorhersehbaren Zufälle, die alles auf den Kopf stellen können.

In der Chronik von Little Green finden wir folgenden Passus: »Was die Frage betrifft, wie Laila aus Tåsen zu Laila of Norway wurde, neige ich zu der Vermutung, dass Huldra 5 sich als der wichtigste Faktor erwiesen hat.«

Da steht sie nun also, Laila Berger, in einem neuen Kleid, eines Abends Ende August 1959. Und in dem Saal wimmelte es nur so von anderen Mädchen in neuen Kleidern, alle in heller Aufregung und umgeben von Kadetten in Ausgehuniform. Plötzlich stand der Kronprinz vor ihr und unterhielt sich mit ihr. Laila glaubte zuerst, er wechsle nur aus Höflichkeit auf einer seiner Runden einige Worte mit ihr, genau wie mit allen anderen. Doch er blieb stehen, unterhielt sich lange mit ihr. Und aus seinen Augen konnte sie herauslesen, dass sie ihm gefiel, er womöglich sogar hingerissen von ihr war. Er lachte und glaubte, es sei ein Scherz, als sie ihm erzählte, sie habe Bilder von ihm in ihrem Poesiealbum. Sie tanzten Swing, und er stellte sie einigen seiner Jahrgangskameraden vor. Gedanken kollidierten in Lailas Kopf, Gedanken, die indessen auch stark von Zweifel geprägt waren. Doch dann, in einer kurzen Pause, stieß Kaja zu ihnen, in deren Blick etwas Hitziges lag und die Laila unter irgendeinem gewichtigen Vorwand und mit einer galanten Entschuldigung regelrecht von dem Kronprinzen wegzerrte. Später entdeckte Laila den Kronprinzen beim Tortentisch, wo er gerade mit einem anderen Mädchen plauderte. Perlenkette und Perlenohrringe. Kurzgeschnittenes Haar. Dieses Mädchen, erklärte Kaja, sei vom Kronprinzen eingeladen worden. »Sie ist bloß eine alberne Kleidernäherin«, sagte sie, »mit der wird er bald fertig sein.« Laila fragte sich, wieso Kaja sie vom Kronprinzen weggezerrt hatte und wieso sie tags darauf keinen Kontakt mehr zu ihr wollte und auch nicht in den Tagen und Wochen danach. Wie dem auch sei: Es sollten mehrere Jahre vergehen, ehe sie und Kaja wieder miteinander sprachen.

Laila war darüber nicht enttäuscht, sie hatte nie davon geträumt, Königin zu werden. Dafür jedoch hatte sie einen anderen Traum, und Anfang September, nur wenige Tage nach dem Ball der Militärakademie, geht sie an Bord des neuesten Schiffs der Norwegischen Amerikalinie, der MS Bergensfjord, und obwohl sie nur zu einer kleinen Kabine auf einem der untersten Decks geleitet wird, wo sie sich auf die schmale Koje setzt und das Herz des Schiffs schlagen oder eher singen hört, weiß sie, dass sie erst jetzt wirklich vor der Möglichkeit einer Verwandlung steht – in etwas völlig Unerwartetes. Und sie sollte recht behalten.

Woher kam diese Reiselust? Man hätte alle fragen können, die sie kannte, und niemand hätte vermutet, dieses zurückhaltende Mädchen könnte plötzlich ihren Koffer packen und sich Arbeit auf einem Schiff suchen, das auf dem Atlantik kreuzte. Hätte man Laila selbst gefragt, ihre spontane Antwort hätte gelautet, dieser unergründliche Drang sei von einem Ton geboren worden, einem Ton, der aus einem Wald aus Tönen herausgewachsen und zu ihrem Ton, zu einer Berufung, geworden war.

Eine von Lailas Lieblingsbeschäftigungen war es, ganz nahe vor ihrem Huldra-Radiogerät zu sitzen, oder richtiger: vor dem Schrankmodell dieses vom Arbeitsplatz ihres Vaters in Kjelsås stammenden Wunders. Es hatte mehrere Versionen des Modells Sølvsuper gegeben, doch jetzt war Huldra 5 angesagt. »Unser Flaggschiff«, wie Lorang es nannte. Laila hörte entweder Musiksendungen oder Platten, besonders die Jazzplatten, die Großonkel Henry aus Amerika schickte und die hierzulande nicht so leicht zu bekommen waren. An einem Tag, der wie alle anderen begann, aber nicht wie alle anderen enden sollte, hatten sie gerade ein neues Paket aus Brooklyn bekommen, und nachdem Laila aufs Geratewohl in die Schachtel hinein- und sich eine LP mit dem Titel Miles Ahead herausgegriffen hatte, der Musik zuerst nur mit halbem Ohr lauschend und währenddessen in einer Wochenzeitschrift lesend, durchschnitt bei einer der Nummern nach einer knappen Minute plötzlich ein Trompetenton die Harmonien und attackierte sie gnadenlos, was zur Folge hatte, dass sie die Zeitschrift fallen ließ und aufstand. Als hätte sie ein Signal vernommen und wäre jetzt bereit, zur Tat zu schreiten. Bereit zum Aufbruch. Verwundert lauschte Laila dem Trompetenton, der aus dem verworrenen Bläserarrangement herausdrang, griff nach dem Cover und sah, dass die melancholische Ballade »My Ship« hieß und die Lippen, die diesen unwiderstehlichen Laut formten, einem Musiker namens Miles Davis gehörten.

Sie unterzog das Paket von Großonkel Henry einer eingehenderen Untersuchung und entdeckte noch mehr Schallplatten von Miles Davis, und in den darauffolgenden Wochen spielte Laila sie so oft wie möglich, Birth of the Cool, ’Round About Midnight und Milestones, aber aus irgendeinem Grund, vielleicht weil dieser Songtitel ihr als Erstes ins Auge gesprungen war, wurde »My Ship« von Miles Ahead zu ihrer Lieblingsnummer, gegen die nicht einmal »Bye Bye Blackbird« ankam. Immer sah sie bei diesen Tönen das schnittige Luxus-Kreuzfahrtschiff Stella Polaris vor sich, den unvergleichlichen, weißen Schiffsrumpf mit Goldplanken am Bug, ein Schiff wie aus dem Märchen.

Darin besteht das Rätsel in Lailas Leben, das sie immer wieder zum Nachdenken bringt. Ein Ton, der sie getroffen hat, physisch. Lange Zeit war sie leicht schlafwandlerisch durchs Leben gegangen, fast wie zum Schutz, um weniger anfällig zu sein für Neckereien und Mobbing. Auch »My Ship« war am Anfang eine Spur nebelhaft, bis dann die Trompete alles durchschnitt, auch in ihr, und zu einer Einladung wurde: Bitte, fang an zu leben. Beginne damit, die Quelle dieses Tons ausfindig zu machen. »Ich weiß nicht, was mein Vater und meine Mutter mir als Erbgut mit auf den Weg gegeben haben, aber ich weiß, nichts hat mich mehr geformt als der Ton einer Trompete«, sagte sie als Erwachsene zu Little Green, die dieses Zitat in ihre kurze Chronik aufgenommen hat.

Laila wollte nach Amerika, und auch wenn sie womöglich den Traum im Hinterkopf hatte, im Rockefeller Center einem amerikanischen Prinzen, einem Magnaten, zu begegnen – es waren schon größere Wunder geschehen als das –, wollte sie in erster Linie Miles Davis spielen hören, ihn spielen sehen, herausfinden, ob er auch in Wirklichkeit diese reinen Töne hervorzubringen vermochte, die sie mit solch chirurgischer Präzision trafen. Sie wusste, dass er oft in Manhattan spielte, zum Beispiel im New York Plaza Hotel oder im Birdland, sie hatte sich bei Leuten umgehört, die sich in solchen Dingen auskannten, und deshalb also wollte sie nach New York und heuerte auf einem Schiff der Norwegischen Amerikalinie an, genauer gesagt auf der Bergensfjord, und weil sie bereits zweimal in den Sommerferien im Hotel Continental gearbeitet hatte, bekam sie einen Job als Kabinenmädchen in der Touristenklasse.

Es erscheint nicht unangemessen, uns an dieser Stelle ein wenig mit der Norwegischen Amerikalinie zu befassen, einem Phänomen, das gewissermaßen die Linienführung der norwegischen Seele einfängt. Denn obwohl Norwegen als Seefahrernation – man stelle sich vor: ein Land mit einigen wenigen Millionen Einwohnern, und für einige Jahre im Besitz der drittgrößten Handelsflotte der Welt – sich am absteigenden Ast befand, gelten die 1950er-Jahre als goldenes Zeitalter der NAL-Atlantiküberquerungen, und so ist es auch kein Zufall, dass das stolzeste aller Amerikaschiffe in jenem Dezennium vom Stapel gelassen wurde: die MS Bergensfjord, ein Schiff, das die Tradition der DS Bergensfjord weiterführen sollte, die, bevor sie schließlich verkauft wurde, 33 Jahre lang für die Reederei im Einsatz gewesen war.

Aus diesem Grund stand Laila so verliebt vor der neuen Bergensfjord. Kein anderes Schiff war mit solchen Kurven ausgestattet – wenn, dann höchstens die bereits erwähnte Stella Polaris, mit ihren Linien, die wie von den Sternen herabgeholt wirkten. Bis dahin hatte Laila kein Wasserfahrzeug bestiegen, das größer war als die Nesodd-Fähre zur Halbinsel nahe Oslos, doch nun befand sie sich plötzlich an Bord eines schwimmenden Palasts oder, warum nicht, einer ganzen kleinen Stadt: Sie hatte sich diese Welt nie vorstellen können, die gut hundert Kabinen für die Passagiere der ersten Klasse und die fast achthundert in der Touristenklasse. Obwohl die Reisenden dazu angehalten wurden, sich in ihrem Teil des Schiffs aufzuhalten, konnte Laila sich nicht zurückhalten, sondern packte die Gelegenheit beim Schopf, um sich frei auf dem Schiff zu bewegen, sich einen Eindruck zu verschaffen von dem Leben auf den Sonnendecks, auf dem Sportdeck und dem Promenadendeck, wo sie die verschiedenen Gerüche des Schiffs inhalierte, angefangen beim Bug bis hin zur Brücke, Treibstoff, Putzmittel, Parfüm, Salzwasser. Sie warf einen Blick in die Speisesäle, in denen die Mahlzeiten mit einem Glockenspiel oder durch einen Gong angekündigt wurden und wo es Fruchtcocktail, Schildkrötensuppe mit Sherry, gefülltes Mignon Rossini, Omelette Surprise und Champagne Sherbet zu essen gab; sie schlich sich für einige Sekunden in die Salons und Festsäle, in die Bars und ins Verandacafé, in den Wintergarten und in die Bibliothek, zum Swimmingpool und in den Gymnastiksaal auf Deck D, lief mit blinzelnden Augen umher, denn es fehlte wirklich an nichts, nicht einmal dann, wenn einem der Sinn danach stand, sich die Haare schneiden oder sich rasieren zu lassen, oder wenn man – Gott behüte – krank wurde.

Die größte Überraschung bot für sie jedoch die Dekoration. In den Speisesälen und Salons waren Arbeiten der besten norwegischen Maler und Holzschnitzer, Keramiker, Textil- und Glaskünstler ausgestellt, und als Laila im Speisesaal der Touristenklasse Per Krohgs riesiges, sich über eine ganze Wand erstreckendes Gemälde Journey of Dreams bewunderte, dachte sie sich dieses Schiff wie das Osloer Rathaus, ein Stück repräsentatives Norwegen, das wie ein verlockendes Werbeplakat übers Meer schwamm.

Selbstverständlich gab es auch ein Orchester an Bord, das an mehreren Orten auf dem Schiff spielte – auf dem Promenadendeck etwa, wenn das Wetter schön war –, jedoch fand Laila nur abends Gelegenheit, es sich anzuhören, im Festsaal draußen an der Hufeisenbar der Touristenklasse. Für gewöhnlich schlich sie sich nach oben, stellte sich nahe an die Tür und tat, als warte sie auf jemanden. Die Passagiere saßen an kleinen Tischen im Kreis um eine freie Fläche, auf der einige Paare tanzten, und für ein paar Sekunden war es ihr unmöglich, nicht daran zu denken, dass sie noch vor wenigen Tagen mit einem waschechten Kronprinzen Swing getanzt hatte.

Während sie von draußen zuhörte, summte sie die bekanntesten Melodien mit und studierte die fünf Musiker auf dem Podium, alle in schwarze Hosen und schwarze Smokingsakkos gekleidet, doch anstatt ihren Blick auf den Trompetenspieler zu heften, war ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Bassisten gerichtet, den Mann, der zwischen dem Orchesterleiter am Flügel und dem Schlagzeuger stand und sein großes Instrument balancierte, denn er war der einzige Schwarze, und tatsächlich mochte sein Gesicht an jenes von Miles Davis auf dem Cover von Milestones erinnern, wo er auf einem Stuhl lungerte und einen mit prüfendem Blick ansah. Laila hatte dieses Bild sehr oft angestarrt, und es war, als ob sie in dem Blick des Mannes hinter dem Kontrabass auf dem Podium eine Erwiderung fände. Ihr war klar, dass er ein außerordentlich fähiger Musiker sein musste, ansonsten hätte er diesen Job nicht bekommen, sie hatte auf dem Schiff sonst keinen einzigen schwarzen Menschen gesehen – er war ihr sofort nach dem Rettungsbootmanöver am ersten Tag nach dem Ablegen aufgefallen, ein Gesicht, das unter all den weißen herausstach. Laila lauschte heimlich, hörte, wie gut er war, hörte es an dem Ton, denn in seinen Bassläufen steckte ein Singen, das sie sonst für gewöhnlich nicht hörte, ein eigentümlicher Drive oder wie sie es nennen sollte. Wie sehr er von den anderen Musikern geschätzt wurde, war auch an dem fortwährenden Nicken und den anerkennenden Blicken abzulesen, besonders zwischen ihm und den beiden Bläsern, dem Saxofonisten und dem Trompeter.

Er sticht wirklich heraus, dachte sie auf dem Weg in ihre Kabine. Ein stolzes, aristokratisches Antlitz. »Cooler« als irgendjemand sonst an Bord.

Es war einer der letzten Abende, und während die Orchesterleute ihre Sachen zusammenpackten, blieb Laila noch stehen. Der Bassist kam auf sie zu – sie war ihm natürlich aufgefallen, nachdem sie mehrere Abende hintereinander dicht neben der Tür gestanden hatte – und fragte sie, vorsichtig, höflich, ob sie eine Runde an Deck mit ihm spazieren wolle, er könne ein wenig frische Luft gebrauchen. Auch in seiner Stimme lag ein besonderer Rhythmus, in der Art, wie er sprach. Ihr fiel der hässliche Blick auf, mit dem der Kellner, der die Gläser von den Tischen abräumte, sie bedachte – oder ihn, den schwarzen Mann, der sich die Freiheit nahm, sich mit einer weißen Frau zu unterhalten.

Sie gingen hinaus, nach oben, bis ganz auf das oberste Sonnendeck. Er hatte zwei Coca-Cola geholt. Niemand sonst war dort. Es war ein stiller Abend, und die Luft wirkte eher angenehm kühlend als kalt. Der Kielwasserstreifen, weiß in der Dunkelheit, hing wie ein langer Schweif hinter dem Achterende. Das Meer war ruhig und der Himmel zeigte alles, was er an Sternen zu bieten hatte, auch Stella Polaris, den Polarstern. »Wir sind an Bord eines Raumschiffs«, sagte er. »Oder einer riesigen Füllfeder«, sagte sie. Er hieß Richard Ellison und kam aus Washington. Er legte seinen Arm um sie und fragte, ob ihr kalt sei. Ohne langes Drumherum lehnte sie ihren Kopf an seinen Hals und musste dabei an die Blume denken, die sie als Kind am liebsten gemocht hatte, das Stiefmütterchen, zu dem sie auch »Tag und Nacht« gesagt hatten. Später erinnerte sie sich nicht mehr, worüber genau sie gesprochen hatten, in ihrem Körper pochte ein Puls, den sie nie zuvor gespürt hatte und der jedenfalls nicht dagewesen war, als sie mit dem Kronprinzen getanzt hatte, und das Ganze endete damit, dass sie zusammen nach unten gingen und ohne ein Wort eine Kabine fanden, in der sie für ein paar Stunden allein sein konnten, und auch von diesen Stunden hatte Laila nicht viel in Erinnerung behalten, sie fühlte sich unwiderstehlichen Kräften ausgesetzt, angeschmiegt an einen Körper voller Musik, in einer kleinen Kabine auf einem riesigen Schiff auf einem der Weltmeere, und sie war klein und gleichzeitig unendlich groß.

Sie bereute es keine Sekunde. Sie glaubte erst auch nicht, dass jemand sie gesehen hatte.

Aber jemand hatte sie gesehen.

Das wurde ihr bereits klar, als sie in der Mannschaftsmesse ihr Frühstück aß. Viele seltsame Blicke, auch von einigen der Frauen, die achteraus in der Wäscherei arbeiteten. Vielleicht nicht unbedingt böse gesinnt, sondern eher, als könnten sie nicht glauben, was sie soeben gehört hatten.

Erst am Abend – am letzten Abend, an dem das Farewell Gala Dinner stattfand –, fiel ihr auf, dass Richard verschwunden war. Als das Orchester im Festsaal zu spielen begann, fehlte plötzlich der Bassist. Laila hörte sich um. Nein, es habe ihn niemand gesehen. Schließlich fragte sie den Purser. »Haben Sie den Orchesterbassisten gesehen?«

Er blickte sie scharf an. »Sie meinen den Neger?«

»Ich meine Mr. Ellison«, sagte Laila.

»Er ist verschwunden«, sagte der Purser. »Wir haben überall nach ihm gesucht, er ist spurlos verschwunden.«

»Aber ein Mann« – um ein Haar hätte sie gesagt: ein schwarzer Mann – »kann doch nicht einfach verschwinden.«

Sie wagte nicht, den Gedanken zu denken, aber der Purser dachte ihn für sie. »Wir fürchten, er könnte über Bord gegangen sein. Es wird erzählt, er soll heimlich getrunken haben. Sehr traurig. Aber Sie wissen ja, wie die sind, die Neger«, sagte er und schnitt eine Grimasse. »Vielleicht war er betrunken und wollte frische Luft schnappen« – es war, als hörte Laila »trunken vor Liebe« in ihrem Kopf. »Vielleicht musste er sich übergeben und hat sich über die Reling gebeugt, da kann man leicht das Gleichgewicht verlieren.« Der Purser machte eine Pause, und Laila kam es vor, als ob er ihr einen vorwurfsvollen Bick zuwarf. »Es könnte natürlich auch Selbstmord gewesen sein«, fuhr er fort und zupfte leicht an seiner stattlichen Uniformjacke. »So was kommt vor. Und wenn es in der Nacht passiert, fällt es keinem auf. Wir müssen Bericht erstatten, wenn wir morgen New York anlaufen. Höchst bedauerlich. Warum interessiert Sie das so?«

Laila verstand sofort. Sie hatten ihn schlicht und einfach über Bord geworfen. Rasend vor Wut, weil ein schwarzer Mann sich an ein weißes Mädchen rangemacht hatte, hatten sie ihn einfach umgebracht. Gelyncht. Es war Laila nicht möglich, jemanden zu beschuldigen oder anzuzeigen, aber sie war sich sicher, dass es einer der Kellner gewesen war, zusammen mit einem gewissen zweiten Maschinisten. Die beiden hatten mehr drauf, als nur Omelette Surprise und Champagne Sherbet zu servieren oder Motoren zu warten. In der Mannschaftsmesse hatten sie Laila zuerst nur angestarrt, mit einem Ausdruck in den Augen, als ob sie befleckt wäre, dann mit einem kalten Grinsen.

Das Motto der NAL lautete »Hands Across the Sea«, aber hier schien kein Wille vorhanden zu sein, einander die Hände zu reichen, zumindest nicht einem schwarzen Musiker, der die seinen um ein unschuldiges norwegisches Mädchen gelegt hatte, ganz gleich wie sehr dieses unschuldige norwegische Mädchen das selbst gewollt hatte.

Der Gedanke, im Rockefeller Center auf einen reichen Amerikaner zu treffen, war bloß ein alberner Tagtraum gewesen, aber sie hatte ehrlich und aufrichtig gehofft, Miles Davis in einem New Yorker Club spielen zu sehen, etwas Grenzensprengendes zu erleben. Doch als sie am Pier 42 in Manhattan anlegten, brachte sie es nicht einmal über sich, an Land zu gehen, so groß war ihre Erschütterung, sie konnte weder das Birdland noch das Café Society besuchen. Obwohl sie Bård versprochen hatte, Jeans und Platten für ihn einzukaufen, lag sie die meiste Zeit weinend in ihrer Kabine. Diese Reise, die ein Triumph hätte werden sollen, endete mit einer Heimkehr in Scham.

Sechs Wochen später stellte sie fest, dass sie schwanger war.

Mehrere Jahre war sie zu Hause, mit ihrem Sohn. Bewahrte sich ihre Würde trotz hässlicher Kommentare. Es war wie ein Wiederaufleben der Piesackerei aus ihrer frühen Schulzeit, aber jetzt konnte nicht einmal Kaja mehr helfen. Besonders bei ihrer Großmutter spürte sie anfangs großen Kummer und merkte, wie Rita sie beobachtete, gleichsam alles mitverfolgte. Bisweilen dachte sie sogar selbst: Jetzt breche ich zusammen, genau wie Mutter. Fange an, Stimmen zu hören. Sie sah ein Leben in einem Sessel in Gaustad vor sich, nur unterbrochen von elektrischen Stromstößen durch den Kopf, sofern man ihr nicht einfach gleich den »weißen Schnitt« angedeihen ließ. Ein Schnitt, und für den Rest des Lebens lallendes Glück. Aber so kam es nicht. Stattdessen spürte sie eine merkwürdige Kraft. Sie war immer stark gewesen. Schüchtern und stark, gleichzeitig. Sie knickte nie ein, zerbrach nicht. Auch damals in der Schule war sie nicht daran zerbrochen. Sie wusste nicht, woher diese grundlegende Stärke kam, aber ihre Großmutter hatte jedenfalls keinen Grund, sich ihretwegen Sorgen zu machen. Erhobenen Hauptes schob Laila den Kinderwagen durch die Stadt. »Der Storch hat ihn gebracht«, sagte sie, wenn die Leute sie nach dem Kind fragten.

Wie als eine Art Unterstützung hatte sie ihn nach dem König benannt, Olav. Sie wusste, er würde es nicht leicht haben im Leben. Die anderen Kinder würden ihn fragen, ob er bei der Weihnachtsaufführung den Lebkuchenmann spielte, und niemand würde etwas in sein Poesiealbum schreiben wollen – falls es die dann noch gab.

Sie bekam einen Halbtagsjob bei der Zeitung Telegrafen. Olav ging in den Kindergarten, und wenn sie abends etwas zu erledigen hatte, passte sein Großvater auf ihn auf. »Das Leben nimmt seinen Lauf«, sagte Lorang, während er die Arme um sie legte, was er oft tat. Trotzdem wusste sie sich von allen mit Blicken bedacht, die so etwas wie Mitleid darstellten. Sie war ein Mensch, dessen Leben durcheinandergeraten war. Als ihre Mutter nun also bei dem Kaffeekränzchen ihren Spott mit ihr trieb – im Scherz oder auch nicht –, sprach sie lediglich aus, was viele dachten. Wenn Laila schon nicht Königin von Norwegen geworden war, hätte sie sich zumindest eine interessantere Arbeit suchen können. Und sich kein Bankert anhängen lassen sollen. Oder noch schlimmer: einen Mulatten.

Doch einige Wochen vor der Hochzeit des Kronprinzen war etwas geschehen.

Eines Samstags war sie vor dem alten Radioschrank stehen geblieben, den Bård irgendwann in sein Kellerzimmer hinuntergetragen hatte, nachdem ihr Vater neuere, modernere Tandberg-Wunder im Wohnzimmer aufgestellt hatte, und hatte das alte, schöne Huldra-Gehäuse betrachtet wie ein Gefährt, das sie vergessen hatte, ein Rettungsboot, und plötzlich war es, als vernähme sie abermals diesen hohen, reinen Ton – einen Ruf, den sie völlig verdrängt hatte.

Eilig suchte sie die alten Miles-Davis-Platten heraus und spielte sie ab. Den ganzen Abend lang. Und nachdem sie mehrmals der gedämpften, suchenden Trompete in »My Ship« gelauscht hatte, formte sich in ihr ein Entschluss: Ich muss diese Reise zu Ende bringen. Ich bin ja nie angekommen. Womöglich hatte der Gedanke sie bereits einige Monate zuvor gestreift, denn in diesem Frühling hatte sie hintereinander zwei Postkarten bekommen. Die eine stammte von Roar, ihrem Vetter, Kajas Bruder, und kam aus Paris. »Durchbrich die Ketten, Laila, es ist Revolution!«, stand mit Filzstift in großen roten Buchstaben auf der Rückseite. Die andere war von Bård, und der Poststempel stammte aus Los Angeles. »Wie steht’s um dein Schiff?«, hatte der Bruder mit blauem Kugelschreiber geschrieben.

Am nächsten Tag begann sie mit der Reiseplanung. Olav war längst alt genug, um einige Wochen ohne sie auszukommen, und sie wusste, dass Lorang mindestens genauso gut auf ihn aufpasste wie sie selbst. Laila wollte die inzwischen hauptsächlich für Kreuzfahrten genutzte Bergensfjord auf einer ihrer wenigen Reisen über den Atlantik nach New York nehmen, und diesmal als Passagierin. Ich muss endlich einen Fuß auf Miles Davis’ Land setzen, soviel bin ich Mr. Richard Ellison schuldig, dachte sie.

Es war also etwas geschehen in Lailas Leben, und während im Fernsehen die Bilder von Sonja und Harald im offenen Wagen auf dem Weg durch die Stadt gezeigt wurden, vom Volk bejubelt, sprach sie in die Luft, oder eigentlich eher halb ihrer Mutter zugewandt: »Das war dumm, diese Sache mit dem Kronprinzen, aber ich will wieder verreisen. Nach New York. Und zwar mit der Bergensfjord.«

Plötzlich wurde es still, abgesehen von der servilen Moderatorenstimme, die murmelnd berichtete, was ohnehin zu sehen war, als säßen vor dem Bildschirm lauter Blinde, denen alles vorgekaut werden musste.

Kaja war es, die das Schweigen brach: »Da sitzt du einfach so da, völlig ruhig, und erzählst uns, du fährst nach Amerika, als würdest du mal eben zum Einkaufen runter in den Laden gehen?« Sie lachte und lachte.

Halb hatte Laila erwartet, sie würden sich über sie lustig machen. Ihr mit Warnungen kommen: »Nicht noch mehr Kinder, Laila!« Solche Dinge. Aber in Kajas Lachen hörte sie Zustimmung, und nachdem sie lange genug gelacht hatte, klatschte sie am Ende doch in die Hände: »Gewiss doch! Bravo!«

»Super«, sagte Ragnhild, »das war aber auch an der Zeit.« Sie legte Bjørg eine Hand auf die Schulter und entlockte sogar Lailas Mutter ein Lächeln. Die beiden verband seit ihrer Kindheit ein besonderes Verhältnis. In Gaustad beobachtete Laila zuweilen, wie sie ohne ein Wort zu sprechen beieinander saßen, zwischen sich die Märklin-Lokomotive, und ihre gemeinsame Zeit genossen. Als ob sie auf Reisen wären, Erinnerungen teilten. Einmal hatte Bjørg gesagt: »Die haben mir so viel Elektrizität durch den Körper gejagt, dass ich die Lokomotive da von selbst zum Laufen bringen könnte.«

Rita kam zu Laila herüber und setzte sich neben sie, rüttelte sie mit einer Hand an der Schulter. »Fein, das wird schön«, sagte die Großmutter. »Wir brauchen alle eine Arche, und die Bergensfjord ist so gut wie jede andere. Eine neue Kreuzung. Das wird die Dinge wieder an ihren Platz rücken. Das spüre ich.«

Auch Hilde, Ragnhilds Tochter, schien neidisch auf Laila zu sein, die in ein Land reiste, in dem im Jahr davor der Ausdruck »summer of love« geboren worden war, ein Land, in dem »flower power« praktiziert wurde.

»Mal ehrlich, ist das Ganze nicht ziemlich vertrottelt?« Wieder war es Rita, die auf den Bildschirm deutete, auf den Wagen, der gerade die Karl Johans gate in Richtung Schloss hinauffuhr. »Was sitzen wir hier herum und schauen uns diesen unnötigen Zirkus an? Warum schreitet die Menschheit so langsam voran? Oder, mit etwas mehr Selbstkritik: wir Frauen?« Sie stand auf. »Braucht jemand eine Mitfahrgelegenheit? Erster Halt: Gaustad.« Hilde lachte, fischte ihre blaue John-Lennon-Brille heraus wie zum Zeichen, dass sie mit Rita und Bjørg mitfahren würde. Sie nahmen auch Ragnhild mit, die Hilde in die Seite stieß und ihr irgendetwas über die Magical Mystery Tour zuflüsterte.

Kaja wollte nur die kurze Strecke bis zu Mauds Haus mitfahren. »Eine gute Gelegenheit, ein paar Bücher zu mopsen, solange Mama sich im Krokskogen versteckt«, sagte sie und umarmte, oder eher umklammerte, ihre Jugendfreundin. »God tur, gute Reise«, sagte sie. »Und vergiss nicht, dass ›tur‹ auch Glücksfall bedeuten kann.«

Nur wenige Tage später befand Laila sich erneut an Bord der Bergensfjord. In ihrer Kabine legte sie sich aufs Bett, schwelgte in Erinnerungen und genoss sogar das Geräusch der im Schiffsrumpf pulsierenden Maschinen. Diesmal ereignete sich auf der Überfahrt nichts Dramatisches, und auch wenn sie keine Gelegenheit mehr hatte, das Birdland zu erleben, das in der Zwischenzeit bereits geschlossen hatte, konnte sie immerhin ein paar andere Jazzclubs besuchen, doch verglichen mit dem, was sie auf der Rückfahrt erlebte, waren das alles Nebensächlichkeiten, denn bei einem ihrer Schönwetterspaziergänge auf dem Promenadendeck fiel ihr plötzlich ein Mann auf, der sie anstarrte. Das heißt, er starrte nicht, sondern betrachtete ihr Gesicht auf eine Weise, die sie an ihren Besuch bei dem Maler Kai Fjell denken ließ. Der gleiche Blick. Als hätte ihr Gesicht etwas an sich, das er nicht einordnen konnte. Ein Geheimnis, das auf schamlose Weise seine Neugier weckte. Der Mann kam auf sie zu und stellte sich vor, bat sie um Verzeihung für seine Aufdringlichkeit und erklärte, sie sei ihm schon am ersten Tag aufgefallen, ihre Haltung sei die einer Königin. »Und Ihr Gesicht«, sagte er, »besitzt eine ganz besondere Ausstrahlung, und das sage ich nicht bloß, weil ich mit Ihnen flirten will.« Sie sah, dass er es wirklich ernst meinte. Er hatte sie gesehen. Ihr Gesicht. Es war herausgestochen. Obwohl ich es nicht weiß geschminkt habe, dachte sie.

Diese Worte leiteten ein Gespräch ein, und es war dies ein Gespräch, das alles auf den Kopf stellte. Nur wenige Jahre später sollte Laila aus Tåsen zu Laila of Norway werden.

Doch als sie damals alle in Tåsen im Wohnzimmer gestanden waren und voneinander Abschied genommen hatten, am selben Tag, als Kronprinz Harald seine Sonja ehelichte, hätte keiner, und Laila am allerwenigsten, geglaubt, dass ihr Leben jene Wendung nehmen sollte, die es schließlich nahm. Die anderen sollten sie noch oft daran erinnern, was sie kurz vor dem Abschalten der Fernsehübertragung gesagt hatte, während Sonja Haraldsen, oder jetzt einfach Sonja, sich durch das Stadtzentrum von Oslo hindurchwinkte: »Es muss schrecklich sein, so plötzlich im Rampenlicht zu stehen. Mit so etwas würde ich nie klarkommen. Es ist besimmt ein Fluch, berühmt zu sein.«

Femina erecta

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