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MAUD-LAND

Ihr Zentrum in der Welt ist die Hütte, und besonders dann, wenn sie eingeschneit, halb unsichtbar im Gelände liegt. Sie nennt es Maud-Land. Das ganze Waldgebiet der Nordmarka ist Maud-Land.

Es geht auf den Abend zu, und sie sitzt an dem kleinen Tisch vor dem Fenster. Im Kamin schlagen die Flammen hoch und das Feuer im Küchenofen brennt gut. Die eine Hand am Rand des aufgeschlagenen Buchs, mit der anderen die Teetasse umklammernd – seit sie Rita Bohre kennengelernt hat, trinkt sie wieder mehr Tee –, hält sie ihre Augen nicht auf die Buchseiten gerichtet, sondern auf den verschneiten See, auf die Loipe, die von Heggelia hierherführt. Sie wartet, und obwohl es sich bei dem Buch um den neuen Roman von Thomas Mann handelt, kann sie sich nicht darauf konzentrieren. Sie wartet. Er wird hierherkommen, zu ihr. Sie wartet auf ihn, hier, im Maud-Land.

Sogar in dem Sommer, als beide zu Besuch waren, als sie beide gegeneinander abwog, betrachtete sie sie als Gäste in ihrem Reich, einem Reich, über das sie herrschte, seit sie klein war. Wenn sie in der Hütte im Krokskogen war, kehrte immer auch ihre Kindheit zurück, und besonders deutlich in jenem Sommer, als ihre Sinne durch das Umgebensein von zwei Männern auf eine Weise geweckt wurden, die sie bereits vergessen gehabt hatte, Erinnerungen an die Jahre, in denen sie gemeinsam mit ihrem Vater zum Wandern hierhergekommen war. Alles, was sie über den Wald wusste, hatte ihr Vater ihr beigebracht. Im Frühling hatte er ihr gezeigt, wie man Weidenflöten schnitzte, so dass man die »Morgenstimmung« von Grieg darauf spielen konnte, er hatte sie die Namen von Tieren und Vögeln, Pflanzen und Insekten gelehrt, ihr die Biberspuren gezeigt, sie dazu angeregt, stehenzubleiben und dem Hacken des Dreizehenspechts zu lauschen, hatte in den Wipfel einer Kiefer auf der anderen Seites des Sees gedeutet, wo ein Fischadler sein Nest hatte, oder gegen einen morschen Stamm getreten, damit sie die Pilze, die Larven, das wimmelnde Leben darin studieren konnte, während sie gleichzeitig eine Zweigestreifte Quelljungfer bei ihrem Flug tief über dem Wasser einer Bachmündung beobachteten, Cordulegaster boltonii, wie er zu erzählen wusste, ein Name, den sie bis heute im Gedächtnis behalten hat. »Benannt nach James Bolton, einem Insektensammler aus dem 18. Jahrhundert. Stell dir vor, keiner weiß mehr, wer du bist, aber dein Name wird von einer Libelle weitergetragen.«

An den Wochenenden, die sie in der Hütte verbrachte, streifte sie für gewöhnlich allein in der Gegend umher. Sie mochte es, sich auf einen Stein zu setzen in dem Glauben, alles sei still, nur um dann festzustellen, dass die Stille aus einer Unzahl von Geräuschen bestand, dass es vor Leben überall nur so brodelte, raschelte, kroch, schnurrte und summte; dort konnte sie sitzen, je nach Jahreszeit, und zusehen, wie alles in Veränderung war, junge Bäume schossen aus der Erde empor, Bruchholz lag morschend auf dem Boden. Am allerliebsten mochte sie den Wald, nachdem es geregnet hatte, den Wohlgeruch, der dann in der Luft lag, wenn Fichtenzweige ihr die Schultern mit Regenwasser benetzten oder die Regentropfen auf einem Spinnennetz den Eindruck in ihr erweckten, sie stünde vor einer kleinen Galaxie.

Der Wald war eine andere Welt, vor allem durch das Moos, die dicken, grünen Teppiche, die mitunter große Flächen bedeckten. Deshalb, glaubte sie, zog sie sich immer grün an, wenn sie eine Waldwanderung unternahm, wie um eins zu werden mit ihrer Umgebung. Nur weniges konnte sie so in seinen Bann ziehen wie das Sonnenlicht, das auf feuchtes, grellgrünes Moos fiel, für sie war es wie ein eigener Planet; dann konnte es geschehen, dass sie sich hinunterbeugen musste, um zu sehen, ob etwas dort unten lebte, winzige Lebewesen. Bryophyta, dachte sie. Ich werde diesen Moosplaneten Bryophyta nennen. Ihr Vater, ein Bewunderer von Linné, hatte ihr diesen Namen beigebracht, genau wie viele andere lateinische Namen. Allgemeinbildung nannte er das.

Maud Evensen war in Jevnaker aufgewachsen. Ihr Vater war Büroleiter bei der Glasfabrik Hadeland und behauptete, Mauds Haar sei bei ihrer Geburt dunkel gewesen, hätte aber, weil sie sich so oft vor glühender Glasmasse aufgehalten habe, einen rötlichen Schimmer angenommen. Und es stimmte, als Kind hatte sie häufig das Werk besucht, die Glashütte mit dem Schmelzofen, wo die Glasbläser ihr dabei halfen, kleine Gegenstände zu formen, nicht selten Tiere, die sie im Wald gesehen hatte. Sie war stolz auf seinen Arbeitsplatz, stolz, wenn sie den Zug in die Stadt hinein nahmen und sie zusammen mit ihrer Mutter oder dem Vater den Kaufhäusern einen Besuch abstattete, Steen & Strøm, und besonders das Christiania Glasmagasin, die Abteilungen mit den glitzernden Schalen und Karaffen, Schüsseln und Vasen. Ihr Vater hatte ihr vorgeschlagen, sie solle in der Glasfabrik zu arbeiten beginnen, aber sie wollte etwas anderes werden. »Was denn?«, fragte er. »Ich will eine Elfin sein«, sagte sie. »Eine Lichtelfin.« »Du bist eine Elfin«, entgegnete er daraufhin, »aber das kannst du nicht dein ganzes Leben lang bleiben.« »Dann will ich Waldhüterin werden.«

Sie hatte mehrere Waldhüter getroffen, hatte in ihren kleinen Kojen gesessen und sich gedacht, das müsse die schönste Arbeit der Welt sein.

Ende März. Es ist das Jahr 1940. Maud sitzt am Tisch, vor sich den neuen Roman von Thomas Mann, Lotte in Weimar. Sie liest ihn auf Deutsch, auch wenn sich ihre Einstellung zum Deutschen in den letzten Monaten geändert hat, doch jetzt hat sie das Buch ganz vergessen, denn in dem immer noch über dem Waldrand hängenden Licht sieht sie einen Skiläufer mit schönen Schwüngen über den Nibbitjern kommen, er wechselt zwischen Diagonalschritt und kraftvollem Doppelstockhub, wirkt dabei aber entspannt, als ob es ihn keinerlei Anstrengung kostete oder er damit verdeutlichen wollte, er könne noch länger in diesem Rhythmus weiterlaufen, das 50km-Rennen am Holmenkollen, wenn es sein müsse. Er weiß, dass ich ihn beobachte, denkt Maud, er sieht den Rauch aus dem Schornstein. Sie hat Herzklopfen, kommt dann aber ins Zweifeln, schaut mit angestrengten Augen, und als der Skiläufer die Spur verlässt und in die zur Hütte führende, teils verwehte Loipe hinüberwechselt, erkennt sie, dass es Sigurd ist, der auf sie zugleitet.

Nicht Harald.

Unfähig aufzustehen, bleibt sie unschlüssig sitzen, bis sie hört, wie Sigurd sich draußen den Schnee von den Skiern klopft. Noch immer verwirrt, zweifelnd – er kommt unangemeldet – antwortet sie auf sein Türklopfen: »Komm rein.«

War es so? Wurde hier – ein Leben entschieden?

Obwohl sie versucht, ihre Enttäuschung zu verbergen, scheint Sigurd etwas zu ahnen, und er verwendet die ersten Minuten darauf, ihr zu erklären, viel zu umständlich, wie sie denkt, weshalb er es ist, der auf der anderen Tischseite Platz genommen hat, und nicht sein Bruder. Er lässt Harald entschuldigen, er sei verhindert, im Theatercaféen seien zwei Kellner krank geworden und Harald habe einspringen müssen, es tue ihm schrecklich leid, Sigurd solle sie von ihm grüßen lassen, erklärt er, wobei er mit kleinen Worten und Gesten gleichzeitig sein Unverständnis darüber zum Ausdruck bringt, dass ein Mann nicht alles, sogar seine Arbeit, dafür opfere, um eine Verabredung mit einer so attraktiven Frau wie Maud einzuhalten.

Sie schüttelt ihre Verwirrung ab, sie hat ja nichts gegen Sigurd, der jetzt einen kalten Schinken aus dem Rucksack holt, eine Gabe von Onkel Albert – der Schiffsreeder schaute immer mit irgendwelchen Leckereien vorbei –, dazu eine Dose grüne Erbsen, ein Abendessen also, Kerzenlicht, und hinterher kümmert Sigurd sich um den Abwasch und sie verbringen den Abend auf dem Sofa, Maud holt eine Flasche aus dem kleinen Lager mit Kräuter- und Gewürzschnaps – »gebrannt nach altem Geheimrezept«, wie ihr Vater gesagt hatte – und nimmt zwei kleine, glitzernde Gläser von dem Regal über dem einen Fenster, auf dem eine Reihe unterschiedlicher Gläser aufgestellt ist, alles Gläser, die in der Glasfabrik hergestellt wurden und die sie einzeln, im Rucksack, über einen Zeitraum von mehreren Jahren von Jevnaker hierherverfrachtet hat, das war ihr Ritual, zerbrechliche Gläser auf unwegsamen Pfaden durch dichten Wald transportieren, und immer die kleinsten Gläser aus ihren Lieblingssets, Edvard, Rondane oder Marie, Letzteres mit facettiertem Fuß und Scherenschliff am Kelch. In dem von draußen hereinfallenden Licht sahen sie oft aus wie eine Sammlung Riesendiamanten, und wenn sie allein war und beim Lesen an einem davon nippte, hielt sie es zwischendurch gegen das Fenster oder, abends, gegen die Paraffinlampe, und malte sie sich in ihrer Fantasie aus wie Zauberscherben, wie etwas, das ihr die Fähigkeit verlieh, die Welt auf andere Weise zu betrachten.

Maud hört Sigurd einen Monolog halten, hört aber nicht wirklich zu, sie ist immer noch durcheinander, weiß nicht, warum sie mit ihm und nicht mit Harald hier sitzt, weiß auch nicht, worüber sie mit ihm reden soll, wenn sie allein sind, nur sie beide, er studiert Jura, und davon versteht sie nichts; sie unterhalten sich ein wenig über Filme, ausgerechnet Filme, das heißt, eigentlich redet nur Sigurd, er geht mindestens einmal die Woche ins Kino, weiß alles über die Filmstars Clark Gable und Joan Crawford; das Gespräch gerät bald ins Stocken, sie blickt zum See hinaus, zu der kaum sichtbaren Loipe, danach in sein Gesicht, das dem Rita Bohres ähnlich ist, und sinnt darüber nach, wie ein Sohn, trotz äußerer Ähnlichkeit, sich so sehr von seiner Mutter unterscheiden kann, denn anders als mit ihm, lief das Gespräch immer wie von selbst, wenn sie Rita Bohre gegenüber saß.

Nichtsdestotrotz ist da die Erinnerung, wie nervös sie war vor ihrer ersten Begegnung mit dieser Mutter, einer Frau, die von sich reden gemacht hatte, die bei Nansen persönlich Rat einholte und mit Persönlichkeiten wie dem Kunsthistoriker Max Qviller und dem Theologen Konrad Steen bekannt war – ja, nicht nur bekannt, sondern sie war mit ihnen aufgewachsen. Für Maud hatte Rita Gemeinsamkeiten mit der Hauptfigur in Lotte in Weimar, sie war eine Frau, die Männer beeinflusst hatte, einschließlich ihrer Söhne, und um sich vorzubereiten, oder aus Angst vor ihrer eigenen Unzulänglichkeit, war Maud vor ihrem ersten Treffen in eine Bibliothek gegangen und hatte sich aus einer Historikerzeitschrift einen Artikel herausgesucht, den Rita Bohre, damals noch sehr jung, nach ihrer Rückkehr von einer Persienreise verfasst hatte und der von Schah Abbas handelte, dem bekanntesten Herrscher der Safawiden in der dritten persischen Glanzzeit des 16. und 17. Jahrhunderts, Schah Abbas, der nach der Wiedereroberung verlorener Gebiete sein Reich durch Diplomatie, Handel und religiöse Toleranz stabilisiert hatte. Und – am wichtigsten, laut Rita Bohre – durch Kultur. Schah Abbas war es gewesen, der Isfahan zur Hauptstadt, zu einer der schönsten Städte der damaligen Zeit gemacht und in Isfahan den Bau der großen Moscheen mit ihren unvergleichlichen Mosaiken veranlasst hatte.

Zuerst war Maud eher ängstlich gewesen als beeindruckt bei dem Gedanken, einer Frau gegenüberzutreten, die in jungen Jahren in solcher Art und Weise über einen Menschen geschrieben hatte, über eine Kultur, von der Maud nicht das Geringste wusste.

Es war ein Tag im Mai vergangenen Jahres, als sie in der von Sherryduft erfüllten Villa in Lysaker zu Gast war, und während Harald und Sigurd im Wohnzimmer sitzen geblieben waren, hatte Rita sie mit hinaus in den Garten genommen, in dem mehrere Obstbäume blühten und Blumenbeete Duftwellen ausströmten, und als Rita plötzlich lachend auf die riesige Eiche kletterte, wusste Maud nicht, ob das von der älteren Frau als Test gemeint war, wo sie doch beide Röcke trugen, aber dann folgte sie ihr doch nach, überrascht, mit welcher Leichtigkeit Rita sich von einem Ast zum nächsthöheren emporhangelte, es war ihr anzusehen, dass ihr das Klettern im Blut lag und sie genau wusste, wohin sie steigen musste, bestimmt war sie schon ihr ganzes Leben immer wieder auf diesen Baum geklettert, Maud entdeckte Spuren kleiner Plattformen auf verschiedenen Höhen, und nachdem Rita keine Anstalten machte, wieder hinunterklettern zu wollen, blieben sie dort sitzen, zwischen Laubsängern und Ringeltauben, und später erst fiel Maud wieder ein, was Rita als Einleitung gesagt hatte, nämlich wie seltsam es doch sei, wenn man sich vorstelle, dass auch der Mensch – sofern man die zeitliche Perspektive weit genug anlegte – mit dieser Eiche verwandt sei. Bei diesen Worten strich sie mit den Fingern über die wunderschönen Zeichnungen der Borke.

Maud, mit ihrer Verbindung zum Wald, fühlte sich wie zu Hause in dem Baum, und ohne dass es aufgesetzt wirkte, brachte sie das Gespräch auf das Thema Reisen. »Ich träume davon, einen anderen Kontinent zu sehen, aber es kommt immer etwas dazwischen«, sagte sie. »Du solltest den Mr. Carlton-Faktor nicht unterschätzen«, sagte Rita. »Was ist das?«, fragte Maud. »Dabei geht es darum, wie die Zufälle unser Leben steuern«, sagte Rita, und während das Rauschen in der Baumkrone ihnen die Illusion eingab, die ganze Eiche sei in Bewegung, verriet sie Maud, eigentlich sei das Ziel ihrer ersten langen Reise gar nicht Persien gewesen. Allerdings habe dieses Land schon immer eine Faszination auf sie ausgeübt, und zwar wegen eines alten Globus im Antiquariat ihres Vaters. Ein großer Holzglobus. Aufgrund der Lackierung oder der Farbabstufungen in den verschiedenen Holzschichten hätten einzelne Länder besonders einladend geleuchtet, und schon als sie noch ganz klein gewesen sei, hätten diese Länder, darunter auch Persien, eine eigenartige Sehnsucht in ihr hervorgerufen. Nach den Geschichtsstunden über die Antike sei ihr zudem aufgefallen, wie groß Persien verglichen mit dem alten Griechenland war, und es habe sie geärgert, dass ihre Kenntnisse an der griechischen Grenze zur Türkei endeten. Beim Drehen des Globus sei ein Drang in ihr erwacht, diese Grenze zu überqueren, Länder in weiter Ferne zu bereisen, besonders Indien und China: Wie wenig sie doch gewusst habe über diese großen goldenen Holzflächen im Osten im Vergleich zu den Ländern im Westen.

Maud genoss es, dort in der Eiche zu sitzen und die ältere Frau, vielleicht ihre zukünftige Schwiegermutter, erzählen zu hören. Umgeben von jungen Blättern, leuchtenden Blättern, grünen Blättern. Als befänden wir uns auf dem Planeten Bryophyta, dachte sie.

Als Erwachsene hatte Rita beschlossen, in den fernen Osten zu reisen, und das, obwohl sie eine Frau war und alle behaupteten, eine Frau könne allein keine langen Reisen unternehmen. Doch als der schreckliche Krieg endlich zu Ende war und die Grenzen wieder geöffnet wurden, entdeckte Rita, dass sie schwanger war. Anstatt jedoch ihre Reisepläne auf Eis zu legen, tat sie etwas beinahe Verbotenes. Sie erzählte ihrem Mann nichts von der Schwangerschaft, sagte nur, sie werde für einige Wochen oder Monate verreisen, entsprechend dem Plan, von dem sie ihm bei ihrem Kennenlernen erzählt hatte, und im April 1919 brach sie dann auf, zuerst nach Paris, wo sie ein Ticket für den neu eröffneten Simplon-Orient-Express erstand, der einer weiter südlich gelegenen Route folgte als der ursprüngliche Orient-Express, mit einem Seitenzweig nach Athen, denn falls sie es doch nicht bis nach Indien oder noch weiter ostwärts schaffen sollte, wollte sie, nach all den Geschichtsstunden, zumindest Athen sehen, die Wiege der europäischen Zivilisation. »Schau, dort«, flüsterte Rita plötzlich und zeigte auf einen dicken Zweig weiter oben, auf dem ein dunkler Vogel vor seinem Loch saß. »Ein Star«, konnte Maud anhand seines gelben Schnabels und der grün glänzenden Brust erkennen. Sturnus vulgaris, sagte sie.

Rita musterte sie mit neugierigen Augen.

»Und dann?«, fragte Maud. Tja, dann habe sie Mr. Carlton getroffen, sagte Rita, einen britischen Ingenieur, mit dem sie sich einen Tisch im Speisewagen geteilt habe, und als sie Belgrad erreicht hätten, sei das mit Athen schnell wieder vergessen gewesen, denn sie habe sich von ihm überreden lassen, ihn weiter nach Osten zu begleiten, auf seine Kosten, und auf ein Lachen von Maud hin fügte Rita hinzu, ja, es sei nicht ausgeschlossen, dass Mr. Carlton ein bisschen verliebt in sie gewesen sei, doch er habe sich im Zaum zu halten gewusst, ein echter Gentleman, der sich noch auf die viktorianischen Tugenden verstand. Sie erreichen Istanbul, doch das ist nicht alles, Mr. Carlton will weiter, und Rita geht mit ihm. Mit dem Zug und anderen Transportmitteln, durch Täler voller Pfirsichbäume, setzen sie ihre Reise fort und erreichen Teheran. Mr. Carlton hat einen Auftrag im Süden, kann aber auch Zeit für ein paar Abstecher erübrigen, etwa nach Persepolis. Rita hatte weder geplant, schwanger zu werden, noch diese Ruinen zu sehen oder in großen verbeulten Autos zu sitzen, bei denen das Gepäck auf dem Dach festgezurrt lag wie auf einem Kamel. Nun aber stand sie in Mr. Carltons Schafslederjacke auf einer großen Steinterrasse, mitten in der Einöde gewissermaßen, und versuchte, vor sich zu sehen, was zu Dareios’ und Xerxes’ Zeiten ein Zentrum der Welt war. »Dort habe ich meinen ›persischen Blick‹ herausgebildet, wie ich ihn nenne«, sagte sie.

Maud saß ganz still, den Rücken gegen den Stamm gelehnt. Die Vorstellung, so etwas erleben zu dürfen!

»Bevor wir wieder getrennte Wege gingen«, sagte Rita, »schenkte Mr. Carlton mir ein hübsch eingebundenes Buch mit persischer Poesie, in dem auch die Rubaiyat enthalten waren, in englischer Übersetzung. Ein Abschiedsgeschenk.«

Sehr bald schon hatte Maud gemerkt, dass die Begegnung mit Rita Bohre wichtig für sie war. Dass sie davon beeinflusst worden war, anders zu denken begonnen hatte. Aber was war mit den Jungs? Sah sie in Harald und Sigurd nur deshalb etwas Bewundernswertes, weil sie Rita Bohres Söhne waren, eine Qualität, die sie unter Umständen gar nicht besaßen?

»Darf ich dir noch ein Glas anbieten?«, fragt Maud.

Dankend hält Sigurd ihr sein Glas entgegen, als sei er sich im Klaren darüber, dass er auf Hilfe angewiesen ist, etwas sich in ihm lösen muss, wenn das hier gut ausgehen soll.

Sie stellt ihm Fragen über die Före, die generelle Schneelage, die Loipen. Wie lange er hierher gebraucht habe. Sigurd ist von Skisport begeistert, mehr noch als Harald. Und mehr noch als über die amerikanischen Filmstars weiß er über die norwegischen Skifahrer, von Thorleif Haug bis hin zu Lars Bergendahl. Sie selbst kann sich für Sport eher wenig begeistern. Für Maud sind die Skitouren an sich eine Freude. Nicht das schnelle Vorankommen, sondern die Art und Weise der Fortbewegung, ein Durch-den-Wald-Segeln, fast ohne Krafteinsatz. Schon mit dreizehn, vierzehn Jahren hatte sie die ansehnliche Strecke bis hierher zur Hütte allein auf Skiern zurückgelegt, folgte ohne Zögern den ganz oder halb ausgefahrenen Loipen von zu Hause aus bis zum Nibbitjern, das eine Mal eine westliche Route über den Ringkollen, dann wieder auf einer Loipe östlich des Øyangensees und weiter Richtung Süden. Auf diesen Skitouren durch den Wald wurde Maud sich schließlich auch der Tatsache bewusst, dass die Nordmarka, dieses riesige Naturgebiet, die größte Ressource der Stadt war, etwas für eine Hauptstadt ganz und gar Einzigartiges. Solange es die Nordmarka gab, brauchte es in Oslo keine Sanatorien.

Hier im Maud-Land war sie vergangenen Winter auch auf die beiden Brüder gestoßen. Über dieses Aufeinandertreffen, ein geradezu physisches, hätte sie ihre eigene Mr. Carlton-Geschichte erzählen können. Es war ein frostblauer Sonntag, so kalt, dass alles knisterte und der Schnee beim Hinaustreten vor die Hütte dieses herrliche Knirschen von sich gab, dann die Stockhübe wie ein Zweitaktmotor, der die Skier mit gleichmäßigen Swisch-Lauten vorantrieb. Schon seit sie klein war, schon seit sie zum ersten Mal Skier angeschnallt hatte, wusste Maud, dass sie in ihrem Element war, denn für sie war der Schnee ein eigenes Element, eines, das nicht im Entferntesten mit Wasser verwandt war, sondern mit dem mystischen fünften Element, dem »Äther«; wirklich spürte Maud, wie sie im Dahingleiten auf den Skiern mit den höheren Luftschichten in Kontakt kam, von Gedanken erfüllt wurde, die nicht mit jenen zu vergleichen waren, die sie sonst hatte. Wenn sie mürrisch oder bedrückt war, legte sie die Skier an und lief, ruhig und lang, und immer gewann sie dabei ihre Ausgeglichenheit zurück. An jenem Sonntag nun war sie über den Oppkuven und Langlia gelaufen und stand jetzt an einer Loipenkreuzung auf der Anhöhe gleich östlich des Kikuttoppen. Leichte Schneeflocken, Silberspäne, flogen einige Sekunden lang durch die Luft. Zum Ausruhen auf die Stöcke gestützt, überlegt sie, ob sie weiter Richtung Norden zum Sandungensee laufen soll – sie sitzt gern dort in der Hütte auf ein Schwätzchen – oder einfach zur Hütte zurückkehren. Im selben Moment flitzt ein Mann an ihr vorbei die Loipe zur Kikut-Hütte hinunter, und weil sie plötzlich Lust auf eine Tasse Kakao bekommen hat und regelrecht in seinen Windschatten hineingesogen und dadurch weitergetrieben wird bis zu der Stelle, an der die Schussfahrt beginnt, folgt sie ihm, wobei sie beim Hinunterbrausen zu dem Platz vor dem Eingang der Gästehütte fast mit zwei jungen Männern kollidiert, die gerade ihre Skier abschnallen, sie muss so abrupt abbremsen, dass sie hinfällt. Sie stürzt sonst selten, doch jetzt wirft es sie sozusagen auf der Karl Johans gate der Nordmarka zu Boden. Nicht nur vor einem, sondern gleich vor zwei Männern.

Sie lachten, halfen ihr auf und fragten, ob »die Slalomfahrerin« sich drinnen mit ihnen an einen Tisch setzen wolle, und sie scherzten mit ihr und luden sie auf Lapskaus und Mineralwasser ein, und während des Essens lernten sie einander kennen.

Magisch, dachte sie.

Sigurd sitzt auf der anderen Tischseite und sieht sie an, schweigend, als könne er ihr beim Nachdenken zusehen, als wüsste er, dass sie Zeit zum Nachdenken braucht, dass er behutsam vorgehen muss. Mit einem Nicken deutet er zu dem Korb mit Brennholz. Sie nickt zurück. Er steht auf und legt ein Scheit im Kamin nach, bleibt stehen, bis die Birkenrinde zündet und die Glut sich in Feuer verwandelt.

Auch der Sommer nach dieser Begegnung hatte einen magischen Schimmer. Einen noch magischeren als ihre früheren Sommer in der Hütte. Bereits in den Jahren nach ihrer Konfirmation war Maud ständig allein in der Hütte gewesen, hatte sich eine Mitfahrgelegenheit zum Damtjern besorgt und war von dort aus weitergelaufen, zuerst bergauf durch schwieriges Gelände, ehe die Landschaft flacher wurde und sich mit Erreichen des Stubbdaltjern und der Ringmyrene öffnete, während sich im Westen der Gyrihaugen vor dem Horizont abzeichnete. Danach wieder abwärts auf den Gråbergtjern zu, wo sie dann nicht dem Weg zu den Almen rund um die Lauvlia-Hütte westwärts folgte, erst recht nicht, nachdem der Skiverband dort ein Lokal eröffnet hatte, sondern sie wählte ihren eigenen, kaum sichtbaren Pfad über den Bakåsen hinunter zum Nibbitjern, an dessen Westseite die Hütte lag und wo die eingeatmete Luft belebender wirkte als Menthol.

Der Wald war magisch. Oder verleitete sie dazu, sich auf die Suche nach dem Magischen zu begeben. Sie hatte nie Angst im Dunkeln gehabt, hatte sich schon als Kind nie abschrecken lassen von den vielen Volksmärchen, nur zu gern hätte sie das Übernatürliche gesehen, erlebt; schon als kleines Mädchen war sie, und das sogar allein, bis zu den dunkelsten Stellen des Urwalds vorgedrungen, hatte unter das Sturmholz geguckt, Kobolde und Trolle angerufen, aber nichts gesehen. Kreuz und quer war sie in der Gegend umhergestreift, und besonders eine Stelle auf dem Steilhang unter dem Oppkuven hatte sie oft aufgesucht, ein Plätzchen, das ihr allein gehörte, oder sie saß an einem überwucherten Teich und beobachtete eine im Wasser schwimmende Schlange, folgte den Tierfährten, entdeckte einen Baum, in dem ein Raufußkauz nistete, einen anderen, in dem ein Eichelhäher sein Nest hatte, es gefiel ihr, nie zu wissen, was sie hinter dem nächsten Hügel erwartete, im Dämmerlicht leuchtende Feldblumen oder ein Elch, der ganz still am Rand eines Sumpfs stand. Als Erwachsene dachte Maud manchmal, dass nicht ihre Eltern sie geformt, sie zu der gemacht hatten, die sie war, sondern der Wald. Sie verlief sich nie, konnte eine Landschaft wiedererkennen, auch wenn sie erst ein einziges Mal dort gewesen war, an einer kleinen Vertiefung etwa, einer Bachkrümmung, und wusste sofort: Hier bin ich schon einmal gegangen, jetzt weiß ich, wo ich bin – eine Fähigkeit, die tief in ihr drinstecken musste, die allen Menschen gegeben sein musste, von vor viertausend Jahren, als der Mensch noch nicht so gelebt hatte wie heute. Einmal, als Maud allein in einem Schutzverbau übernachtete, den ihr Vater am Sumpfufer aufgebaut hatte und in dem sie im Frühling gelegen und die Birkhahnbalz beobachtet hatten, sah sie auf dem Rückweg aus der Entfernung einen Wanderer, einen Mann, der später allen erzählte, er habe die Huldra gesehen, in grünem Gewand und anmutig wie eine Offenbarung, das sei wirklich wahr, sogar ihren Schweif habe er gesehen, als sie entschwunden sei. Maud hatte gekichert, als sie die Geschichte hörte, aber nichts gesagt.

Dann, nach einer enttäuschenden Jugend, stellt sie fest, das Magische war die ganze Zeit da, direkt vor ihrer Nase, und es hat nichts mit Kobolden und Trollen zu tun, sondern das Magische ist die Liebe. Das Problem ist nur, dass sie zwei Menschen liebt. Sie hat sich in beide verliebt, in Sigurd und Harald, ist ihnen gleichzeitig vor die Skier gefallen, beiden verfallen. Sie fühlt sich zu beiden hingezogen.

In jenem Sommer hatten die Brüder sie mehrmals in der Hütte besucht. Es war unschwer zu erkennen, dass auch sie diesen Ort für etwas Besonderes hielten, versteckt am Nibbitjern, wo sie beim Frühstücken zu den schönen, knorrigen Kiefern unten am Wasser sehen konnten. In Europa herrschte Unruhe, Hitler hatte an der Tschechoslowakei angebissen und gierte jetzt nach Polen, doch im Maud-Land, in Mauds Kopf, kreisten alle Gedanken um diese zwei jungen Männer und die Frage, für welchen der beiden sie sich entscheiden sollte. Eines Abends, als draußen Blitze den Horizont zwischen den Fichtenwipfeln durchschnitten und Donnerkrachen die Wände zum Zittern brachte, saßen sie zu dritt in der Hütte und lachten, und so war dieser Sommer, ein Sommer mit hohem Puls, voller Anspannung und Lachen, voller Harzduft, intensiver Blicke und zweideutiger Aussagen. Eines Morgens stand sie allein mit Sigurd am Türabsatz, und gemeinsam betrachteten sie den Elfennebel über dem See. »Magisch«, sagte Sigurd. Ja, dachte sie, magisch. Am Nachmittag ging sie mit Harald zum Schwimmen, und als sie eine kleine Insel erreichten, kamen Enten geflogen und landeten direkt neben ihnen auf dem Wasser. »Magisch«, lachte Harald. Ja, eine gefährliche Magie, dachte sie.

Aber für wen entscheidet sie sich? Auf dem stillen Wasser in einer Sommernacht sitzt Maud in dem kleinen Boot an den Rudern, legt eine Pause ein und betrachtet die beiden Männer, die achtern auf der Ducht sitzen und sich gegenseitig aufziehen. Wen sollte sie küssen? Wer von ihnen würde sie zuerst küssen?

Und jetzt sitzt Sigurd hier bei ihr mit roten Wangen, ob von der Kaminwärme oder dem Kräuterschnaps, weiß sie nicht. Sigurd, von dem die meisten sagen würden, er sei der Attraktivere. Ein Nansen. Und an gesellschaftspolitischen Fragen weit mehr interessiert als sein Bruder. Er hat wieder zu reden begonnen, ringt nach Worten, es ist ihr unbegreiflich, wie so jemand Jurist werden kann, noch dazu Rechtsanwalt, aber es gab wohl auch Kanzleien, in denen er nur herumzusitzen und die richtigen Paragrafen herauszusuchen brauchte. Als sein Blick auf den Thomas-Mann-Roman fällt, ist es, als ob ihm plötzlich etwas einfiele, etwas über Harald, eine Andeutung, und es gefällt ihr nicht, was er da andeutet, Harald als Frauenbetörer, der im Theatercaféen als Casanova bekannt sei, der alleinstehende Frauen anmacht und dann mit zu ihnen nach Hause geht, es scheint, als wolle Sigurd das eigentlich gar nicht sagen, aber vielleicht ist das alles ja doch ganz genau geplant, vielleicht ist das seine Art, ihr Skepsis gegen einen Konkurrenten einzupflanzen, seinen Bruder anzuschwärzen, sie kann nicht wissen, ob es wahr ist, doch die Worte versetzen ihr einen Stich, denn sie hat sich für Harald entschieden, oder glaubt es zumindest, immerhin ist er es, auf den sie voller Ungeduld gewartet hat.

An einem der letzten Sommerwochenenden kamen die Brüder wie gewohnt zu ihr in die Hütte. Für Sigurd war es nur ein Tagesausflug, aber Harald blieb, sie gingen wandern, und in der Luft hing ein wohliger Duft nach Fichte und Kiefer, und auch nach ihm, sie war wie im Taumel, und sie pflückten Blaubeeren, die sie auf dicken Grasbüscheln sitzend verspeisten, und sammelten Pfifferlinge, die er später in reichlich Butter röstete und mit Brot servierte, bon appétit, Mademoiselle, und damals, ja, damals musste sie sich wirklich in ihn verliebt haben, denn als sie ihn am nächsten Tag frühmorgens aus dem zweiten Schlafzimmer hinausgehen hörte, stand sie auf und beobachtete vom Fenster aus, wie er sich unten bei der Felskuppe auszog, wie er nackt in der Morgensonne stand und sich anschließend ins Wasser warf, als wolle er den ganzen See erkunden, zumindest aber in alle nähergelegenen Buchten hineinschwimmen, denn eine Besonderheit des Sees bestand darin, dass man ihn nie ganz sah, er hatte seine versteckten Winkel, und sie stand am Fenster und sah ihn schwimmen, lange, mit kräftigen Armzügen – die ihm sein Vater beigebracht hatte, wie er später erzählte –, bevor er, endlich, wieder an Land kroch, nackt auf dem Felsen stehen blieb und sich von der Sonne trocknen ließ, doch was sie beeindruckte, war nicht seine Nacktheit, der Anblick seines nassen, sehnigen Köpers, sondern die gierige Art seines Schwimmens, als wolle er das labende Nass umarmen, es in Besitz nehmen, und genauso stellte sie sich auch den Liebesakt mit ihm vor, dass er einfach in sie hinein-, über sie hinweg-, durch sie hindurchgleiten würde, als wäre sie ein Element der Natur.

Außerdem war Harald ein Leser. Wie sie. Sigurd dagegen las keine literarischen Werke. In der Hütte stand ein kleines Bücherregal. Buch für Buch hatte Maud über die Jahre mit hierhergenommen, alle sorgfältig ausgewählt, Bücher, die man mehrmals lesen konnte, die sich nie erschöpften, Victor Hugo und Leo Tolstoi und André Gide, Selma Lagerlöf und Cora Sandel, auch das war zu einem Ritual geworden, genau wie bei den kleinen funkelnden Gläsern: ein Buch finden, das es wert war, hierhertransportiert, in dieses Regal gestellt zu werden, und an jenem Sonntag sprachen sie über einen Roman von Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, den sie beide gerade in dänischer Übersetzung gelesen hatten, und Harald sagte, er selbst sei ebenfalls ein Kellermensch, woraufhin Maud lachte und fragte, warum, ja, weil das Wort Kellner vom lateinischen Wort für Kellermeister komme, sagte Harald und stupste sie neckend an, war das denn die Möglichkeit, dass man so etwas nicht wusste, ob sie denn ihren Linné nicht kenne?

Sie glaubte, sie hätte sich entschieden. Doch als sie Sigurd das nächste Mal begegnete, seiner Nansen-Gestalt gegenüberstand, wurde sie wieder unsicher.

Und jetzt sitzt er hier. Sigurd. Umgeben von einer Art Dunst. Einer Entschlossenheit. Als unternehme er einen dreisten Putschversuch. Soll sie ihn fragen, ob er Karten spielen will? Vorbeugen. Ablenken. Sie tut es nicht. Ist er in sie verliebt? Wie um diese Möglichkeit genauer zu untersuchen, unterzieht sie ihn einer eingehenden Betrachtung, wobei irgendetwas in ihrem Blick gelegen haben muss, denn plötzlich beginnt er zu lachen und sagt, sie sehe ein bisschen aus wie Ingrid Bergman, er habe eine Fotografie des schwedischen Filmstars gesehen, auf dem sie einen Pullover anhabe, der dem von Maud ähnlich sehe, das Muster sei fast dasselbe. Er steht auf, um noch Brennholz aus dem Unterstand draußen zu holen, er will, dass es gut brennt. »Bald alle«, sagt er beim Zurückkommen in die Stube. Sie versteht nicht. »Das Holz«, sagt er. »Wir müssen im Sommer wieder welches hacken«, sagt sie. »Du bist optimistisch«, sagt er, »glaubst du, der Krieg wird uns verschonen?« »Krieg oder nicht. Ich brauche Wärme«, sagt sie.

Der Satz bleibt in der Luft hängen.

Nach diesem ruhelosen Sommer traf sie Rita Bohre erneut, diesmal unter einem Vorwand, denn Maud hatte sie gefragt, ob sie Fotos von ihr schießen dürfe. Ihre Begeisterung für die Fotografie verdankte Maud übrigens ihrer Mutter. Ihre Mutter, Tochter eines Redakteurs beim Ringerikes Blad, war »Hausfrau«, versuchte aber, ihre Tochter dazu zu ermutigen, etwas mehr aus sich zu machen. Eines Tages hatte sie alte Zeitungsausschnitte aus der Aftenposten herausgesucht, Reisebriefe, verfasst von der Botanikerin Hanna Resvoll, Eindrücke aus Spitzbergen, aus Monaco, und obwohl diese Reisebriefe für Mauds spätere Karriere wichtig gewesen sein mochten, war es etwas anderes, das eine unmittelbare Folge nach sich zog, etwas, das ihre Mutter im Vorbeigehen erwähnt hatte: Hanna Resvoll hatte schon früh zu fotografieren begonnen, sogar in Farbe. Als Maud das gehört hatte, hatte sie sich ebenfalls einen Fotoapparat angeschafft. Und während sie Rita in der Svartebukta in Lysaker fotografierte, nahm Maud den Faden ihres letzten Gesprächs wieder auf und fragte, was Rita eigentlich mit einem »persischen Blick« meine, worauf Rita, verlegen über das Posierenmüssen, mit der Hand in Richtung des Fjords oder des Horizonts ausholte und erklärte, ein solcher Blick bedeute eine erweiterte Perspektive, ein Herausheben der Gedanken aus ihren gewohnten Bahnen. Nach ihrer Reise, nachdem sie in Persepolis ihre Hand an eine der Säulen gelegt und gespürt hatte, dass das wirklich war, habe sie sich oft dazu gezwungen, sich gewissermaßen über ihr eigenes Land hinaus zu erheben, es aus der Distanz zu betrachten. Was wäre Norwegen, wie würde Norwegen jetzt aussehen, wenn die Perser über die Welt herrschten? Das Wichtigste aber sei das Staunen über den unerbittlichen Gang der Geschichte, Zivilisationen, die hervorwüchsen und wieder zugrunde gingen. Als sie dort auf der Hochebene im Staub gestanden habe, um die Überreste von etwas zu betrachten, das in der Antike eine kulturelle Hochburg gewesen war, hätten sich ihr einige Fragen aufgedrängt: Wie konnte eine blühende Stadt zu einer Wüste verkommen? Wie konnte man eine solche Kultur erschaffen, alle diese stolzen Säulenreihen, nur um dann wieder in die Mittelmäßigkeit, in die Armut zurückzufallen? »Ein persischer Blick ist auch das Wissen um den flüchtigen Charakter des Daseins, darüber, dass nichts Bestand hat, dass alles in Veränderung begriffen ist«, sagte sie und wand sich gequält, wie um nachzufragen, ob die Fotostunde bald zu Ende sei. »Außerdem habe ich gelernt, eine Sache von zwei Seiten zu betrachten«, sagte sie, als Maud das letzte Bild schoss, von dem sie im Nachhinein sah, dass es von allen Porträts das Beste war. »Ich habe gelernt, dass die Grausamkeiten in der Regel gleich verteilt sind. In den Geschichtsbüchern sind die Perser die Schurken. Aber Istachr mit seinen Riesenstatuen ebenso wie Persepolis wurden von Alexander dem Großen zerstört. Die Bibliothek von Persepolis ist in Flammen aufgegangen, leider auch die mit Goldschrift auf Pergament geschriebenen Bücher der Avesta. Alexander war genauso ein Barbar wie alle anderen.«

Nachdem sie mit Rita Bohre gesprochen hatte, beschloss Maud, selbst ebenfalls einmal eine Reise, eine weite Reise anzutreten, aber vorläufig das kleine Bücherregal in der Waldhütte als Ausgangspunkt für einen »persischen Blick« zu nehmen. Eine kleine Bibliothek mit den allerhöchsten Gütern, mit Büchern, die Zeit brauchten, Büchern, die sie mehr als einmal lesen konnte. Auch das war ein Überwinden von Grenzen.

Über dieses Gespräch dachte Maud nach, während sie in der Dunkelkammer ein ums andere Mal Ritas Gesicht auf den Papierbögen hervortreten sah. Eine inspirierende Frau, dachte sie. Ich muss den Kontakt mit ihr aufrechterhalten. Und dann: War Rita womöglich ein Teil ihrer Liebe für Harald und Sigurd?

Aber für wen entschied sie sich?

Im Leben der meisten Menschen gibt es Tage, Wochen, in denen man intensiver lebt als jemals davor oder danach, und bei Maud Evensen war das in jenem Winter der Fall, bevor der Krieg nach Norwegen kam, in jenem Winter, als sie in zwei Männer verliebt war. Erst Mitte März entschied sie sich für Harald, und in der Woche darauf wollte er sich einen Tag freinehmen und am Freitag allein zu ihr in die Hütte kommen. Maud brach von Jevnaker aus auf, genoss die Tour, trotz eines merkwürdigen Gefühls von Kraftlosigkeit. Alles Unerlöste sollte jetzt erlöst werden. Sie war eine Anna Karenina, die einem ihrer ersten Treffen mit Wronskij entgegenblickte. Mit dem Unterschied, dass sie frei war, unverheiratet. Im Rucksack hatte sie ein neues Glas aus dem Weinglas-Set Alexandra, ein Kristallglas mit besonders schönem Dekor. Daraus würde Harald trinken dürfen. Sie war wie immer allein auf den Loipen, kreuzte Hasen-, Fuchs-, Elchfährten. Alles war weiß. Und sie glitt hindurch durch dieses Weiß, auf dem Weg zu etwas Entscheidendem. Mit voller Kraft stieg sie einen Hügelkamm hinan, dass der Schweiß nur so perlte und das Trikot sich an ihren Rücken klebte, um dann auf der anderen Seite beim Hinuntergleiten im kühlenden Luftzug auszuruhen. Sie konnte nicht genug bekommen von dem Porzellanlicht, den Loipen und Stockabdrücken, die wie ein feiner Saum, der Nationalsaum, vor ihr lagen. Norwegen und das Skifahren. Wir geben zu, dass dieses Phänomen Verwunderung in uns hervorgerufen hat, diese Leidenschaft für einen Sport, der selbst in der gegenwärtigen Epoche nur bei einem geringen Prozentsatz der Erdbewohner Interesse weckt. Kaum jemand weiß heute, was Skifahren oder Langlaufen ist, und noch weniger haben es je ausprobiert. Für die meisten wird es schwer nachzuvollziehen sein, warum ein gebrochener Stab bei einer Langlaufstaffel über längere Zeit hinweg wie ein nationales Trauma besprochen wurde oder warum gegen Ende der Wohlstandsphase von der Bewohnerschaft dieses Landes jährlich eine halbe Million neuer Langlaufski gekauft wurde, man wird nicht verstehen, warum nach dem schrittweisen Verschwinden des Schnees diese Ski-Aktivität Ausmaße erreichte, die an religiöse Anbetung grenzte, und weshalb sich die Menschen in diesem Land am Ende noch an die letzten, im Hochgebirge noch vorhandenen Schneekleckse klammerten. Für eine ausführliche Analyse dieser Eigenart vgl. Ling Luwei: Der Schnee als Blendwerk und Psychose (Shaoguan Y-1019).

Im März 1940 jedoch, als Maud ihre Skier gegen die Hüttenwand lehnte, gab es genug Schnee in der Nordmarka. Beim Öffnen der Tür, als ihr der altbekannte, eingebrannte Rauchgeruch entgegenschlug, versuchte sie, die Nervosität von sich abzuschütteln. Sie zog die Gardinen zurück und heizte den Ofen an. Dann, noch vor allem anderen, packte sie vorsichtig das neue Glas aus und stellte es auf das Regal über dem Fenster, wischte den Staub von den anderen Gläsern und betrachtete das Ergebnis, das von den Facetten gebrochene Licht, das die Innenwände in allen Spektralfarben zierte.

Bald würde Harald zu Besuch kommen. Bald würde die Liebe zu Besuch kommen.

Jetzt aber sitzt Sigurd schweigend hier bei ihr. Ein gutaussehender Nansen. Aber Sigurd hat ein Problem: Er ist ein Stockfisch. Er hat etwas Ingenieurartiges, Bubenhaftes an sich. Diese Begeisterung für Krieg und Waffen und Schlachten. Dann aber, als wüsste er sich von ihr geprüft, bewertet, beginnt er plötzlich, von einer Deutschlandreise zu erzählen – vielleicht, weil Maud Lotte in Weimar vom Küchen- auf den Esstisch gelegt hat –, die er und Harald zusammen mit ihrem Vater einige Jahre nach der Trennung ihrer Eltern unternommen hatten, er ist jetzt nicht mehr der trockene Jurist, sondern spricht enthusiastischer als sonst, mit einer Euphorie, die sie von ihm nicht kennt und die, wie sie glaubt, nicht allein auf den Schnaps zurückzuführen ist: Er habe wenig Kontakt zu seinem Vater gehabt, sei aber trotzdem mit ihnen mitgefahren, er habe Europa sehen wollen, erzählt er, und dass sie Hamburg besucht hätten, die Heimatstadt ihres Großvaters, ehe sie in die grünbewaldeten Gebiete Thüringens weitergereist seien, wo die Familie des Großvaters herstammte und wo er auch geboren war, in der Stadt Erfurt. Adolf Hitler war gerade in Deutschland an die Macht gekommen, sie hätten die Hakenkreuzfahnen gesehen, ihr Vater aber habe ihnen ganz andere Dinge zeigen wollen: kleinere Städte wie Arnstadt, wo sich Bach vier Jahre als Pianist betätigt hatte, Jena, wo unter anderem Hegel Professor gewesen war, und Weimar – ja, Weimar, Sigurd deutete auf das Buch, das zwischen ihnen lag –, die Goethe-Stadt, dann Eisenach mit der Wartburg, wo Luther seine deutsche Bibelübersetzung abgefasst hatte, und irgendwie hätte diese Reise, hätten diese Städte, die vor Kultur nur so strotzten, in ihm, Sigurd, den Wunsch, einen ernsthaften Wunsch ausgelöst, selbst eine Spur in der Gesellschaft zu hinterlassen, zu verstehen, welche Kräfte und Ideen es zu fördern galt.

Maud ist überrascht, versucht sich im Zaum zu halten, ist aber trotzdem überrascht, und nicht nur das, sie ist gefesselt, zum ersten Mal hingerissen von Sigurd, vielleicht weil sie von seinen Erzählungen über Deutschland hingerissen ist, sie, die bis jetzt immer der Meinung war, dass er zu gewöhnlich sei, zu technisch, zu eindimensional, sie findet das Wort nicht, doch jetzt fühlt sie sich angezogen von dieser neuen Seite an ihm, einem inbrünstigeren, einem visionäreren Sigurd, sie versucht, es zu unterdrücken, doch ihre Begeisterung lässt sich nicht unterdrücken, ein Feuer flammt auf in ihrer Magengegend, und nachdem sie erwähnt hat, wie spät es schon geworden sei, bald Schlafenszeit, hat sie nichts dagegen, dass Sigurd sie küsst, bestimmt vom Schnaps mutiger geworden, und sie lässt es geschehen, freiwillig und gleichzeitig unfreiwillig, vielleicht weil sie verwundert ist, oder eigentlich erleichtert, oder weil sie denkt, dadurch würde sich alles von selbst lösen, dies könne der Mr. Carlton-Faktor sein, der eine Zufall, der dich an einen neuen Ort führt; der eine Bruder erteilt ihr eine Absage, der andere erzählt von einer Reise und stellt dadurch alles auf den Kopf, und weil Maud keinen Widerstand leistet, wagt er noch mehr, ein bisschen benommen ist sie obendrein, das soll hier eingeräumt werden, nur ein paar Gläschen, aber gerade genug vielleicht, dass sie sich fügt, den Ingrid-Bergman-Pulli abstreift und zulässt, dass er ihr die Bluse aufknöpft, das Unterhemd hochhebt und mit seinen Lippen ihre Brustwarzen berührt, ein Stromstoß des Genusses durchfährt sie, und sie lässt es geschehen; eine Lust erwacht in ihr, mit der sie davor noch keine Bekanntschaft gemacht hat, eine Kraft ähnlich jener erschreckenden Stärke, die sie mitunter auf ihren Skitouren in sich spürt, wenn sie bereits sechs Kilometer hinter sich gebracht hat und glaubt, ohne Schwierigkeiten noch weitere sechs laufen zu können, sie wird von dieser Kraft mitgerissen, die stärker ist als ihr eigener Wille, nur dass sie nicht weiß, was sie will, und das weiß sie auch dann noch nicht, als Sigurd sie in das leicht kühle Schlafzimmer führt und ihr die restliche Kleidung abstreift, sich anschließend selbst auszieht und die Decke über sie breitet, mit ihr schläft, sie weiß nicht, ist es schön oder doch nicht so schön, und im Nachhinein bereut sie es und bereut es gleichzeitig nicht, bleibt noch lange liegen, nachdem er eingeschlafen ist, um noch einmal über das Geschehene nachzudenken, und ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen ist, dass sie, ungeachtet dessen, was sie jetzt denkt und fühlt, noch vor wenigen Stunden am Fenster gesessen und nach Harald Ausschau gehalten hat.

Am nächsten Morgen, während sie noch im Bett liegt, fährt Sigurd nach Hause. Den ganzen Tag lang streift sie wie im Taumel umher, nimmt eine Kleinigkeit zu sich, versucht Lotte in Weimar weiterzulesen, aber immer wieder entgleiten ihr die Wörter. Sie hat das Buch zu Weihnachten von ihrem Vater bekommen, er war auf Geschäftsreise gewesen und hatte es in Stockholm gekauft, wo sich Thomas Manns deutscher Verlag derzeit aufhielt. Auch Thomas Mann musste ins Exil, denkt Maud. Auch er war heute nicht mehr so kriegsbegeistert wie noch vor Beginn des letzten. Keine Rede mehr vom Krieg als Reinigung, als Befreiung, von der höheren geistigen Bedeutung des Krieges oder dem giftigen Komfort des Friedens. Auch Männer lernten im Alter dazu.

Apropos Exil, es war Sigurd, der ihr zum ersten Mal von dem Onkel erzählte, den sie nie kennengelernt hatten. Maud hatte sich bei der Mutter der beiden Brüder nach diesem Onkel erkundigt, als sie an einem Herbsttag neue Porträts von ihr machen durfte. Rita war ein wenig erstaunt über den Eifer, mit dem diese junge Frau das Fotografieren betrieb, aber Maud begründete es damit, dass sie Übung brauchte. Rita lachte darüber und servierte zuerst noch Tee im Kaminzimmer, Darjeeling. »Hanna und Thekla haben mich mit Darjeeling bekannt gemacht«, sagte sie, weil sie wusste, dass Maud schon von den Resvoll-Schwestern gehört hatte. Sie saßen in den Ohrensesseln, Rita in dem safrangelben mit Tiger- und Elefantenmuster, Maud in dem anderen, der mit blauem Samt mit einem Muster aus goldenen Schwertlilien bezogen war. Rita hatte die Sessel so aufgestellt, dass sie und Maud einander dicht gegenübersaßen, und erklärte, sie nenne diese Sessel Ost und West, weil der Mensch ebenfalls aus zwei Kontinenten bestehe und weil sie einen Gegenbeweis erbringen wolle zu der Strofe von Kipling, wonach Ost und West einander nie träfen. Wenn zwei Menschen so säßen wie sie jetzt gerade, sagte sie, dann brauche es gar nicht viel, um einen Austausch fruchtbarer Gedanken in Gang zu setzen.

Maud fragte Rita, ob sie eine Aufnahme von ihr bei der Arbeit machen dürfe, woraufhin Rita sie in ihr Zimmer im Obergeschoss mitnahm, ein Blatt Papier auf den Schreibtisch legte und mit einem weichen Bleistift zu zeichnen begann. Maud schoss Fotos und sah zuerst nicht, was Rita zeichnete, es erinnerte am ehesten an ein Ornament oder eine Maske. »Das ist der Kopfschild eines Trilobiten«, lachte Rita. »Ich habe einen hier, ein entfernter Verwandter.« Sie holte ein Fossil vom Bücherregal. »Ein Asaphus expansus. Aus dem Ordovizium. Ich habe ihn von Fridtjof Nansen bekommen.«

Jetzt sah Maud die Gelegenheit gekommen zu fragen: »Sigurd hat erwähnt, Sie hätten einen Bruder, den Sie nie gesehen haben – Henry, so heißt er doch? – und der sich sehr für die Naturwissenschaften interessiert … Aber Sigurd sagte auch, dass er jetzt als Journalist in Amerika lebt …?«

Denn inzwischen wollte Maud nicht mehr Waldhüterin werden, sondern Journalistin, deshalb übte sie sich auch so fleißig im Fotografieren. Rita reagierte zunächst mit Abwesenheit, als ob ihr etwas Vergessenes wieder eingefallen wäre, lehnte sich dann aber im Bürostuhl zurück und erzählte ihr von ihrem älteren Bruder Henry, dem Käfersammler, wie sie ihn nannte, der, nachdem er zuerst eifrig in Alexander von Humboldts Werk über dessen Reise durch Südamerika geblättert hatte, schon früh eine Begeisterung für das Leben und die Theorien Charles Darwins entwickelt hatte. Henry hätte die Idee gehabt, seinen norwegischen Landsleuten Charles Darwin näherzubringen, ein Unterfangen, das bis dahin noch von keinem so richtig in Angriff genommen worden war, und als Teil dieser Arbeit wollte er nach Edinburgh reisen und sich dort auf die Spuren des jungen Darwin begeben. Etwas jedoch sei in Schottland vorgefallen, erzählte Rita. Das sei 1916 gewesen, zur Zeit des Krieges, und Henry habe der Versuchung nicht widerstehen können, für eine norwegische Zeitung zu schreiben, über die dramatischen Ereignisse zu berichten, und im Zuge dessen sei er in etwas verwickelt worden, das er den »Untergang der Dinosaurier« genannt habe, bei dem es sich jedoch in Wirklichkeit um eine Schlacht in der Nordsee handelte, genannt die Skagerrakschlacht, bei der Tausende junge Menschen ihr Leben lassen mussten. Henry, der bis dahin blind darauf vertraut hatte, dass die Entwicklung den Menschen auf immer höhere Ebenen befördern würde, sei durch dieses Erlebnis völlig desillusioniert worden. Direkt im Anschluss an dieses Ereignis sei er mit dem Schiff nach Amerika gereist und habe sich geschworen, nie wieder nach Europa zurückzukehren. Aber ja, es stimme, er arbeite bei einer kleinen Zeitung in Brooklyn, die sich Nordisk Tidende nenne.

Rita stand auf. »Erst neulich hat er übrigens etwas geschrieben, das dich vielleicht interessieren könnte, er hat mir den Ausschnitt in einem Brief mitgeschickt.« Sie ging zu einem seltsam aussehenden Möbelstück, vermutlich aus Mahagoni, einem hohen, schmalen Kabinettschrank mit vielen Schubladen und einer Art tempelähnlichem Giebel. »Das nennt sich Arche, wegen dem Prachtstück da oben«, lächelte Rita. »Genauso wichtig wie ein eigenes Zimmer ist eine eigene Arche. Das heißt, ein eigenes – und nicht zuletzt würdiges – Projekt.« Wieder ein Lachen, so als lache sie über sich selbst. Doch dann, wieder ernster: »Hier sammle ich alle meine Notizen, Notizen für das, was einmal mein Hauptwerk werden soll, Femina erecta. Über die Zukunft und die Möglichkeiten der aufgerichteten Frau. Eine Abrechnung mit der Krokodilmentalität.« Allerdings schnitt sie dabei eine ironische Grimasse, während sie aus einer der Schubladen einen Brief heraussuchte. »Hier, ein Interview, das Henry mit einer amerikanischen Dichterin namens Marianne Moore geführt hat. Sie wohnt gleich neben ihm in Brooklyn. Lies es, wenn du magst. Nur vergiss nicht, es mir wieder zurückzugeben. Da steht etwas drin, das möglicherweise in Femina erecta Verwendung finden könnte. Du willst also Journalistin werden? Wahrlich kein Honigschlecken. Für eine Frau.«

Maud wurde neugierig auf die Arche. Was versteckte sich noch in den Laden?

Sigurds Mutter. Haralds Mutter.

Sie dreht eine kurze Runde auf den Skiern, kann aber keine rechte Freude dabei entwickeln, nicht am Schnee, nicht an ihrem Dahingleiten, und kehrt wieder in die Hütte zurück. Sie sollte das letzte Scheit aufbrauchen, denkt sie und geht zum Fenster. Sie sollte heimfahren, denkt sie, lässt die Hand auf dem Buch ruhen, ohne zu lesen, und wie sie so dasitzt, wie in einem betäubten Zustand, sowohl sicher als auch verunsichert über die Sache mit Sigurd, kommt ein weiterer Skiläufer über den Nibbitjern, kraftvolle Stockeinsätze, als befände er sich in direkter Nähe eines ersehnten Ziels, bevor er auf die schmale, zur Hütte hinführende Loipe wechselt. Schon aus weiter Entfernung hat sie ihn erkannt: Harald.

»Hallo? Jemand zu Hause?« Ein fröhliches Rufen beim Aufschlagen der Tür. Er hat sich freigenommen, obwohl er wusste, dass sein Chef deshalb sauer sein würde. »Ich musste dich sehen«, sagt er. Er würde gern noch mehr sagen, hält aber inne. Augen, die vor Sehnsucht brennen, in denen jedoch eine Veränderung stattfindet, als ihm bewusst wird, dass irgendetwas vorgefallen sein muss. Er fragt nach Sigurd, ob sie es schön gehabt hätten. Sie nickt nur, und wie um Zeit zu gewinnen, um herauszufinden, wie sie mit der Situation umgehen soll, bereitet sie ein Essen zu, tischt die Frikadellen auf, die sie von zu Hause mitgenommen hat und die sie Harald gestern hatte servieren wollen; dazu kocht sie Kartoffeln, Blumenkohl, und sucht aus dem Rucksack die Preiselbeermarmelade heraus. Während sie mit dem Rücken zu ihm steht, sitzt Harald in der Stube und singt »Over the Rainbow«, ohne dabei Bedeutung in den Text zu legen, glaubt sie jedenfalls, er ist bloß aufgeregt, will einfach gern singen, wechselt dann auch, irgendwie unmotiviert, zu einem anderen Lied über, »Tea for Two«, eher gesummt diesmal, er kann gut singen und tut das auch oft, obwohl laut Sigurd und Harald eigentlich Bjørg die mit der Gesangstimme in der Familie ist. Sie essen, doch die Spannung zwischen ihnen ist eine andere als früher, und das Gespräch verläuft schleppender als sonst, Harald holt Wasser aus dem Schmelzkessel auf dem Ofen, kümmert sich um den Abwasch, und nach einem viel zu lang dauernden Austausch leerer Phrasen, fällt ihr ein, dass sie ihn nach ihrer Deutschlandreise fragen wollte, Sigurd habe das erwähnt, sie sei neugierig geworden, sie holt die Flasche mit Vaters Kräuterschnaps, schenkt zwei Gläser ein, von denen Harald das neue bekommt, das sie eben erst mitgebracht hat, eines aus dem Alexandra-Set, und hält dann ihr eigenes Glas gegen das Licht der Paraffinlampe, als suche sie Hilfe in dem Dekor oder in der Vorstellung, es könne sich um die Scherbe eines Zauberspiegels handeln, eine »Zauberscherbe«.

Harald erzählt eine andere Version dieser Reise als sein Bruder, nicht von ihrer Fahrt durch Deutschland, sondern vom Schlusspunkt ihrer Reise, als sie in Wien gelandet waren, jetzt Hauptstadt eines geschrumpften Landes, in seiner habsburgischen Blütezeit aber, vor dem großen Krieg, so rammelvoll von Kultur und Ideen, Malern, Schriftstellern, Komponisten, dass man an das antike Athen denken mochte, aber nicht darauf will Harald hinaus, sondern auf seine Begegnung mit der Wiener Kaffeehauskultur, die so bestimmend wurde für seine Berufswahl, denn während Sigurd und der Vater in die Museen gegangen waren, um sich Albrecht Dürers Gemälde anzusehen, hatte Harald sich die Kaffeehäuser angesehen, und obwohl er noch jung war, gerade erst konfirmiert, hatte er sich sofort angezogen gefühlt von diesen Orten, wo man sich an einen Marmortisch setzen, einen Kaffee und ein Glas Wasser bekommen und währenddessen die Zeitung lesen oder den Diskussionen lauschen konnte. »Stell dir das vor, Maud, in ein und demselben Lokal konnte man die Menschen in zwölf verschiedenen Sprachen sprechen hören!« Während der Vater und Sigurd echohallende Museen und karge Schlösser durchforstet hatten, war Harald im Café Central, im Café Museum, im Sperl oder im Landtmann gesessen und hatte deren Atmosphäre eingesogen, Kaffee getrunken und auf Holzhaltern befestigte Zeitungen aus ganz Europa durchgeblättert, und es in vollen Zügen genossen. Dort, sagt er zu Maud, habe er seine Vision gehabt, die Idee, selbst irgendwann ein Kaffeehaus zu besitzen, zu betreiben, ein Lokal, in dem Menschen aller Nationalitäten zusammenkamen, wo sie an einem Marmortisch mit einer Tasse Kaffee, einer Zeitung sitzen konnten, sich unterhalten, diskutieren konnten, er habe sogar schon einen Namen für sein zukünftiges Etablissement gefunden: Café Agora. »Alles, was man braucht, ist ein Silbertablett mit einer Tasse Kaffee und einem Glas Wasser«, sagt er zu Maud, so euphorisch, dass er beinahe ins Stottern gerät.

Das Kaminfeuer ist ausgegangen. Maud überlegt. Zwei Brüder. Der eine spricht über Hegel, über die geschichtliche Entwicklung, die Gesellschaft; der andere träumt bloß davon, ein Café zu eröffnen.

Doch dann, Haralds Stimme in einem anderen Tonfall: »Wenn man darüber nachdenkt, ist es doch erstaunlich. Wien, sozusagen einmal die Hauptstadt Europas. Dann feuert einer eine Pistole ab, und alles bricht auseinander.«

Sie sagt, sie müsse ein bisschen Ordnung machen, die Asche aus dem Kamin schippen. Sie wolle die Hütte abschließen. »Wir müssen los«, sagt sie, »ich habe nicht vorgehabt, so spät noch hier zu sein, du hättest gestern kommen sollen.«

»Lass uns noch warten«, sagt er, »es dauert noch eine Weile, bis es dunkel wird, außerdem ist der Himmel klar, und es ist Vollmond, hab’s gestern Abend gesehen.« Sie setzt sich wieder, und weil Lotte in Weimar immer noch auf dem Tisch liegt, befragt er sie zu dem Buch, sie haben, wenn sie allein waren, immer hauptsächlich über Literatur gesprochen, und so geht es in der Diskussion bald um die Frage: Thomas Mann oder Hermann Hesse, Maud ist begeistert von Thomas Mann, Harald dagegen, der ganze Nächte mit der Lektüre von Der Steppenwolf und Narziss und Goldmund verbracht hat, schwört auf Hesse. Ob man sich die beiden vielleicht wie Sigmund Freud und Carl Gustav Jung vorstellen könne?, fragt Harald jetzt und gießt sich noch einen Schnaps ein, lobt die Geheimrezeptur von Mauds Vater, bevor sich das Gespräch dann um Lotte in Weimar dreht, obwohl, eigentlich ist es nur Maud, die redet, die ganz ausgefüllt ist von dieser Erzählung, besonders vom letzten Kapitel, in dem Mann in einem langen – wie heißt es – inneren Monolog Goethe selbst zu Wort kommen lässt, und weil Harald das Buch noch nicht gelesen hat, berichtet sie von dem bald siebzigjährigen Goethe, der nach einem erregenden Traum, und hier muss sie ihren ganzen Mut zusammennehmen, mit einer Erektion aufwacht, sie schlägt das Buch auf und versucht, Goethes Gedanken zu übersetzen, der dieses Phänomen beinahe stolz zur Kenntnis nimmt: »Was in aller Welt, in dem mächtigsten Zustande! In all seiner Pracht! Das ist gut, alter Mann.« Maud lächelt verlegen, vielleicht war es doch zu gewagt, diese Stelle laut vorzulesen, denkt sie und blickt auf den Tisch hinunter, während Harald von seinem Kräuterschnaps trinkt, sie merkt, dass er ihn nicht verträgt, dass er anfängt, ihr seltsame Blicke zuzuwerfen, näher auf dem kleinen Sofa an sie heranzurücken. Konnte es an dem liegen, was sie ihm über Goethe und seinen Ständer vorgelesen hat? War es falsch von ihr, einer Frau, ein solches Wort in den Mund zu nehmen? Sie konfrontiert ihn mit dem, was Sigurd ihr erzählt hat, dass er sich nach der Sperrstunde im Theatercaféen nach leichter Beute umsehe, nach gelangweilten, alleinstehenden Frauen; es klingt vorwurfsvoller, als sie es gewollt hat. »Das ist nur einmal vorgekommen«, sagt er, »ein einziges Mal, und das wird es nie wieder, sie war Sekretärin bei einem Verlag, eine Jugendbekanntschaft, es war ein Fehler«, sagt er. »Es hat nichts bedeutet.« Verzweiflung liegt in seinem Blick, so als habe er keinen Schimmer, wie sie davon erfahren haben konnte. Dann stimmt es also, denkt Maud, und obwohl es sie eigentlich nicht ärgerlich stimmt, rückt sie ein Stück von ihm weg.

Wie um sie zurückzugewinnen, beginnt er, lang und breit davon zu erzählen, was er in der letzten Zeit im Café so alles gesehen und gehört habe. Von dem Schauspieler, der neulich Abend auf den Tisch geklettert sei und eine Passage aus Hamlets Monologen zum Besten gegeben habe. Harald steht auf und ahmt ihn nach: »Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten!« Er ist betrunken, er nuschelt.

»Du vergisst das Korrektiv gegen Ende«, sagt Maud, »dass wir nämlich auch ›diese Quintessenz aus Staub‹ sind.« Doch was Harald jetzt nicht mehr will, ist reden, schwer atmend rutscht er zu ihr hinüber und versucht, sie zu küssen. Sie weist ihn zurück. »Du musst gehen, Harald«, sagt sie. »Ich kann nicht«, sagt er, »hab zu viel getrunken.« »Du musst gehen«, sagt sie. »Ich kann nicht, meine Stöcke sind kaputtgegangen«, sagt er. »Ich hab dich herlaufen sehen, sie sind nicht kaputt«, sagt sie. Er fährt hoch, wackelig, steht schon draußen bei der Hüttenwand, wo seine Skier lehnen, kommt wieder herein und zeigt ihr die zerbrochenen Stöcke. Er muss sie selbst kaputtgemacht haben, denkt sie, er ist verrückt, was ist bloß los mit dem Idioten. »Ich muss auch fahren«, sagt sie, »es ist kein Holz mehr da.« »Wir können welches hacken«, sagt er. »Das ist leichter gesagt als getan«, sagt sie. »Wir könnten uns ja auf andere Weise warmhalten«, sagt er. »Wir müssen gehen, ich muss runter zum Damtjern, nach Stubbdal, bevor es zu dunkel wird. Wenn du nicht nach Hause willst, kannst du in der Lauvlia absteigen und dort übernachten.« Sie steht auf. Er steht zugleich mit ihr auf. Sie sieht seinen Blick. Jetzt wird es gefährlich, denkt sie.

Und dann passiert es, nicht im Schlafzimmer, wie sie es sich erträumt hat, es sich ausgemalt hat, zumindest bis Sigurd gekommen ist, sondern in der Stube, mitten auf dem Boden, auf einem Flickenteppich, und nicht zärtlich wie in ihrer Vorstellung, sondern mit roher Kraft, obwohl sie keinen Widerstand leistet. Sie hätte, dachte sie später, mit ihm schlafen können, doch auf abstruse Weise hatten die Umstände dazu geführt, dass sie stattdessen mit Sigurd, seinem Bruder, geschlafen hat, und darum auch verweigert sie sich ihm jetzt, obwohl sie, zumindest einige Sekunden lang, Lust verspürt, weil sie ihn liebt, zumindest lange geglaubt hat, dass er es ist, den sie liebt, doch weil sie denkt, dass sie ihn auf eine Weise betrogen hat, ihm untreu gewesen ist, gerade eben erst, kann sie sich nicht dazu überwinden, und dann wird er gewalttätig, sie sollte ihn schlagen, treten, denkt sie, bringt es aber nicht über sich, sie sträubt sich, wenn auch eher passiv, woraufhin er ihr die Hose herunterreißt und sie nimmt, brutal, obwohl sie keinen Widerstand leistet, und woran sie sich hinterher am besten erinnert, ist sein Brüllen beim Orgasmus. Wie ein Tier, denkt sie. Es schien irgendwie unmöglich, dass ein Mensch so einen Laut ausstoßen konnte. Was sie vor allem empfindet, ist Angst, und sie bleibt still und regungslos liegen. Später denkt sie: Vielleicht steckte in diesem Brüllen genauso sehr eine Verzweiflung, eine Reue, eine Art Wut über sein eigenes Verhalten.

Er weiß, was er getan hat, ist nicht wiedergutzumachen. »Ich gehe«, sagt er. »Du bleibst«, sagt sie. Sie weiß nicht, warum, aber er muss bleiben. Beide müssen sie jetzt in der Hütte bleiben. »Ich gehe«, sagt er.

Im Zimmer begann es kalt zu werden, auch im Ofen war das Feuer längst erloschen. Im Brennholzkorb lagen nur mehr einige wenige große Scheite. Er verschwand nach draußen, nahm die Axt mit, sie dachte, er würde Anmachholz hacken, trockene Fichtenzweige suchen, aber er kam nicht zurück.

Lange lag sie so da, die Hose bei den Knöcheln, auf dem immer kälter werdenden Fußboden. Es war ihr egal.

So weit weg. So weit weg von dem, was sie sich vorgestellt hatte, als sie ihn schwimmen gesehen hatte.

Sie rappelte sich hoch, suchte nach etwas, womit sie sich abwischen konnte, brachte ihre Kleidung in Ordnung, ging hinaus, um nach ihm zu sehen. Wieso hatte er die Axt mitgenommen? Hatte er irgendetwas Dummes vor? Seine Skier waren weg. Die Stöcke ebenfalls. Über dem Wasser hing ein Mond, der die Landschaft blau färbte. Der Himmel, der Luftzug, kündigte trotzdem Veränderung an. Sie ging wieder hinein, legte sich hin, unter zwei Decken.

Im Zimmer war es nicht dunkel. Es war blau.

Am Morgen fiel dichter Schnee. Wie weiße, leichte Gardinen, eine hinter der anderen, Gardinen, die fielen und immer weiter fielen. Es musste schon lange geschneit haben. Schwerfällig stapfte sie in die Stube, wo ihr von den kleinen Gläsern auf dem Regal über dem Fenster ein mystisches Licht entgegenschlug, sie schienen zu strahlen, ein unnatürliches Leuchten trotz des grauen Wetters draußen. Plötzlich überfiel sie eine Raserei, sie hatte Lust, die Gläser auf den Boden hinunterzufegen, diese Gläser, die sie so zielstrebig, so voller Optimismus den langen Weg bis hierherauf zur Hütte transportiert hatte. Sie machte einen Schritt nach vorn, hielt dann aber inne.

Sie musste nach Hause, fühlte sich aber aller Willenskraft beraubt. Sie brauchte Wärme in ihrem Körper, etwas zu essen, Kaffee. Vier oder fünf Scheite lagen noch im Brennholzkorb. Keine Kienspäne. Ohne Zögern nahm sie einen der Sprossenstühle und zerbrach ihn in kleine Stücke, mit einem Zorn, der sie verblüffte, sie brachte es sogar fertig, die Sitzfläche in mehrere Teile zu zertreten, zu zertrampeln. Mit derselben Entschlossenheit riss sie einige Seiten aus Lotte in Weimar und verwendete sie zum Anheizen des Küchenofens. Ein Sakrileg? Ein gutes Buch, aber wertlos. Nichts als Worte. Was sollte man mit all den schönen Worten? Was sollte man mit Goethe, mit Mann, mit Weimar, mit der ganzen Kultur. Ein Witz. Verflucht sei Goethes erigierter Penis, verflucht die ewigen Erektionen der Männer, ihre unersättliche Geilheit, ihr Hang zur Gewalt! Das Feuer im Ofen brannte. Sie warf die Stuhlreste hinein, riss wie besessen Seiten aus Manns Roman und überantwortete sie dem Feuer, endlich dann auch eines der Holzscheite, setzte Kaffeewasser auf. Sie schaute zu dem kleinen Regal mit Büchern, die sie in die Hütte befördert hatte, sorgfältig ausgewählte Titel. Diese Bücher, die für sie einst hohe Werte repräsentiert hatten, jetzt standen sie da wie zur Verhöhnung. Sie war nahe daran, den ganzen Krempel in den Ofen zu werfen. Scheiße. Erst jetzt begann sie darüber nachzudenken, was am vergangenen Abend geschehen war. Es überkam sie so heftig, dass sie sich setzen musste. Sie war in Harald verliebt gewesen, hatte sich gerade deshalb zu ihm hingezogen gefühlt, weil es ihm spontan einfallen mochte, mit strahlendem Gesicht Shakespeare zu zitieren: Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Doch was geschieht dann? Er schändet sie, demonstriert das Gegenteil. Er hat recht, denkt sie bitter: Er ist ein Kellermensch.

Sie aß, trank langsam von dem Kaffee, schlürfte, holte Zuckerstückchen aus dem Schrank, tauchte sie in Kaffee, zögerte den Aufbruch hinaus, trank noch eine Tasse, packte, brachte die Hütte auf Vordermann, zog sich an, ging nach draußen. Noch immer fiel dicht der Schnee. Sie hatte Schneefall immer als das schönste Wetter empfunden. Besonders wenn es gerade erst anfing zu schneien, ganz ruhig zuerst, kleine weiße Daunen, dann dichter und dichter. Mitunter war sie so eifrig am Lesen, dass sie das aufgeschlagene Buch mit aufs Plumpsklo nahm, und es bereitete ihr immer eine Freude, wenn sie sah, wie die Flocken sich auf die Buchseiten legten und gleichsam die Bedeutung veränderten. Jetzt war diese Freude verschwunden. Die Flocken waren etwas Zerrissenes, in Stücke Zerfetztes.

Sie lief ohne Stöcke, wie als Kind, glitt hinunter zur Lauvlia, dort konnte sie sich ein Paar Stöcke leihen. Der fallende Schnee erzeugte eine Art Vakuum. Sie befand sich in einem leeren Raum. Sogar die Gedanken kamen ihr abhanden. Und wenn sie sich einfach vom Schnee, von all dem Weiß absorbieren ließe? Keine Probleme mehr. Sie trat in die Loipe, stieg heftig bergan. Auf einem Hügel entdeckte sie etwas Unbewegliches, aber Lebendiges. Im Schneetreiben konnte sie zuerst nicht erkennen, was es war. Doch dann: Ein Elch. Sie hatte schon Elche gesehen, mehrmals. Aber das hier war ein riesiger Elchbulle. Und er war weiß, fast eins mit dem Schnee. Hatte sie richtig gesehen? Ja, der Elch war weiß. Wie die Begegnung mit einem heiligen Tier, dachte sie. Einem Waldgott, kam es ihr in den Sinn.

Ganz still blieb sie stehen. Lange. Auch der Elch stand ganz still.

Der Schnee sank lautlos herab.

Magisch, dachte sie.

Irgendetwas rastete an seinem Platz ein. Oder wurde korrigiert, in einen größeren Maßstab gesetzt. Der Schnee, die Stille, der weiße Elch.

Sie musste eine der Bindungen zurechtrücken. Als sie sich wieder aufrichtete, war das Tier verschwunden.

Langsam glitt sie weiter, es schien ihr, dass es jetzt leichter ging. Fast war es, als würde sie das Skilaufen neu erlernen. Sie fand zu einem vergessenen Gleichgewicht zurück, empfand eine Art kindliche Freude inmitten von Trauer und Wut. Als ob etwas, trotz allem, von neuem begann. Oder weiterging.

Trotzdem war etwas verloren gegangen, vielleicht für immer, und sie hatte nicht nur einen, sondern beide der Brüder verloren.

Femina erecta

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