Читать книгу Femina erecta - Jan Kjaerstad - Страница 4
ОглавлениеNorwegen war ein Land am äußersten Rand jenes Kontinents, der Europa genannt wurde. Wer je die Halbinsel im Nordwesten Slawiens aus der Luft gesehen hat, wird sich gewiss schwer vorstellen können, dass diese Wildnis einst bevölkert war, dass es hier Städte gab sowie eine funktionierende Infrastruktur. Auf seinem Höhepunkt als Nation im 21. Jahrhundert soll das Land rund sieben Millionen Einwohner gezählt haben. Wir wissen nicht exakt, von wie vielen »Norwegerinnen und Norwegern« oder deren Nachfahren diese Landschaft heute bewohnt wird, jedoch können es kaum mehr als einige wenige Tausend sein. Sie werden als »der norwegische Stamm« bezeichnet, der sich zum Teil aus Krämerbarbaren zusammensetzt, die an der Randzone jener großen Einöde umherstreifen, die wir als Forum Europeum kennen, zum Teil aus Gruppen, deren Beschäftigung darin besteht, tagsüber die Erde zu durchwühlen und abends Kartoffelschnaps zu trinken.
Dass »Norwegen«, genauer gesagt das Norwegen des 20. Jahrhunderts, dennoch als ein kleines, aber spannendes und anregendes Forschungsfeld angesehen werden kann, ist auf das Geschlecht der Bohre und dessen Verbindung zur Entstehung der Long-Dynastie zurückzuführen, und da die Long-Dynastie Norwegen als ihre ursprüngliche Heimat, ihre wōmen guójiā, betrachtet, mag dieses Land auch für alle anderen Angehörigen der Chinesischen Föderation von Interesse sein.
Was die Kenntnisse über dieses geografische Gebiet in jener fernen Epoche anbelangt, tappte man lange im Dunkeln. Grund dafür war der Zusammenbruch der westlichen Zivilisation: Auf den Siebzigjährigen Krieg im 22. Jahrhundert folgte die Dunkelzeit, jene lange Phase des Verfalls, die im Punkt Y ihr Ende fand. Zu ein und derselben Zeit erreichte eine Reihe von Bedrohungen, von denen die Regierungskräfte geglaubt hatten, sie hätten sie unter Kontrolle, ihren kritischen Punkt – die Erde wurde von Überbevölkerung, Klimaverschlechterung, Nahrungsmittelmangel, Finanzchaos und Krieg heimgesucht (einem Krieg, in dem Bomben zum Einsatz kamen, welche die früheren Atomsprengköpfe wie konventionelle Waffen aussehen ließen), wobei schließlich auch Viren und Unfruchtbarkeit zu dieser Entwicklung beitrugen. Der drohende Untergang der Menschheit war nicht auf ein einzelnes Unglück zurückzuführen, sondern auf die Kombination aus diesen. Nach Eintritt dieser Katastrophe – die das Ende des Holozäns, ja, der ganzen Quartärzeit markiert – waren die meisten, um nicht zu sagen alle, Informationen vernichtet. Obwohl man an dem naiven Glauben festhielt, die vielen, tief in den Gewölben, Gebirgen und Gletschern angelegten Speicher und Archive seien auf ewig gesichert, war das kollektive Gedächtnis sozusagen gelöscht.
Auch unser eigener Kontinent – der asiatische – wurde stark in Mitleidenschaft gezogen. Nach den lang anhaltenden globalen Kriegen des 22. Jahrhunderts kam es zum Zerfall der als China bezeichneten Nation, und es folgte eine Phase, die an die Zeit der Streitenden Reiche aus alten Tagen erinnerte. Erst im Fahrwasser von Punkt Y und der Massenausrottung, nachdem die Chinesische Föderation sich etablieren hatte können und die Hauptstadt aus dem Perlflussdelta in die historischen Gefilde um Chang’an verlegt worden war, entwickelte sich erneut ein Bedürfnis nach Erzählungen aus der Vergangenheit, einschließlich jener über unsere Wurzeln im Westen.
Trotz des Informationsverlustes ist es Forschenden mit Hilfe aller erdenklichen Methoden gelungen, nach und nach einiges an verloren Geglaubtem aus der Zeit vor Punkt Y wiederzufinden, während von anderen wiederum der Versuch unternommen wurde, diese Informationen, oder Informationsbruchstücke, zu größeren Darstellungen zusammenzufügen. Aufgrund des gesteigerten Interesses an der Vorgeschichte der Long-Dynastie und ihren norwegischen Ahnen ist es kaum verwunderlich, dass dem Thema »Norwegen und das Geschlecht der Bohre« ein natürlicher Platz in diesen Bemühungen zufiel. Nach allem, was wir glauben, trat das Geschlecht der Long in der schweren Epoche nach dem Siebzigjährigen Krieg in Erscheinung, konsolidierte sich, wurde eine Gegenkraft. Wahrscheinlich geschah es auch zu jener Zeit, in den Ruinen des damaligen China, dass die Ansätze der Bohre-Geschichten Gestalt annahmen. Wie wir es uns vorstellen, wurden diese Geschichten von einer verhältnismäßig kleinen Gruppe von Menschen und vielleicht nur über eine begrenzte Anzahl an Generationen – die sich über 400–500 Jahre erstreckten – immer weitererzählt und zogen deshalb eine so breite Wirkung in der Zuhörerschaft nach sich, weil in dieser verwirrenden Übergangsphase ein großes Bedürfnis nach Berichten dieser Art herrschte. Wie die meisten vertreten wir die Theorie, dass diese Erzählungen bei der Entwicklung eine Rolle gespielt und auf irgendeine Art dazu beigetragen haben müssen, das Überleben der Longs zu sichern und ihre weitere Umgestaltung zu einer einflussreichen Dynastie zu ermöglichen, eine wichtige Voraussetzung dafür, dass im Anschluss an Punkt Y die Chinesische Föderation das Licht der Welt erblicken konnte.
Eine eingehende Betrachtung der Geschichte des Bohre-Geschlechts in dem entscheidenden Jahrhundert vor der Emigration ihrer ersten Mitglieder nach China ist auch deshalb von besonderer Relevanz, weil wir wissen, welche Rolle die Long-Dynastie über mehr als tausend Jahre für die Stabilität und die Überlebensfähigkeit der Föderation gespielt hat, und uns zudem bekannt ist, dass die Dynastie, nicht zuletzt durch ihre weiblichen Repräsentantinnen, auch heute noch in so vielen zentralen politischen, ökonomischen und kulturellen Positionen vertreten ist.
Unsere Methode ist die fiktionalisierte Geschichte, die in gewissem Maße als Weiterführung der klassischen xiāoshuō-Tradition betrachtet werden kann und Elemente beinhaltet, die der eher erkenntnisorientierten gùshi wén entnommen sind. Im Unterschied zur früheren Fachliteratur, die zur Ergebnisvermittlung der Geschichtsforschung herangezogen wurde, bedient die fiktionalisierte Geschichte sich des Einfühlungsvermögens. Zu einem großen Teil bauen wir auf den sogenannten Roman, ein Genre, das im 19., 20. und 21. Jahrhundert seine Hochblüte feierte. Nach dieser langen Blütezeit unterlagen diese Berichte jedoch immer mehr dem Zwang, sich nach kommerziellem Gewinn zu orientieren, was wiederum ein Hinüberkippen in emotionale Übertreibung und eine Zementierung unfruchtbarer Gebräuche bewirkte, wodurch sich der Roman, sowohl als Unterhaltungs- wie auch als Erkenntnisformat, am Ende selbst unterminierte. Als Folge dessen wurde ein knochentrockener Dokumentarismus betrieben, nebst verschiedenen kurzen, narzisstischen Hybriden, die durch die neuen Medien entstanden. Dann trat die Katastrophe ein und setzte dem allen ein Ende.
Die Erzählform, die nunmehr in der fiktionalisierten Geschichte einen Wiederbelebungsversuch erfährt, lag demnach über viele Jahrhunderte brach, und es ist wahrscheinlich, dass einzelne ihrer Bausteine nicht länger anwendbar sein werden, wie etwa das sehr begrenzte Verständnis von Kausalität, das sich auf einer vergangenen Wissenschaft, nicht zuletzt einer Psychologie gründete, die sich zur damaligen Zeit noch immer in einer spekulativen, nahezu religiösen Phase befand. Heutzutage wäre es naheliegender, die Erkenntnisse der Metagenetik zu nutzen, beispielsweise »die Diagonalwirkung« oder »den narrativen Ballast«. Mehr als das alte Genre ist fiktionalisierte Geschichte auf das Mitdichten ausgerichtet, auf eine reale, von den Leserinnen und Lesern geleistete Denkarbeit, oder anders ausgedrückt: darauf, dass der Reflektion ebenso viel Raum zugemessen wird wie der Empfindung. Ziel ist es, größere zusammenhängende Bögen zu spannen bei etwas, das bis dahin lediglich aus Fragmenten bestand – sowohl aus solchen Fragmenten, die zeitlich weit voneinander entfernt liegen, als auch solchen, die den Anschein erwecken, inhaltlich wenig miteinander zu tun zu haben. Der Grund, weshalb die Fakultät sich dazu entschlossen hat, so viele Ressourcen darauf zu verwenden, die alte Tradition in modifizierter Form wiederzubeleben, besteht darin, neu aufleben zu lassen, was nach Punkt Y auf Antrieb von Repräsentanten der Long-Dynastie wiederentdeckt wurde und als die unschätzbare Funktion des Erzählens für das menschliche Leben bezeichnet werden kann: das qì des Erzählens. Fiktionalisierte Geschichte gründet sich auf der Überzeugung, dass den Erzählungen, in ihren besten Ausprägungen, etwas Unersetzbares innewohnt: Eine Kraft zu erklären, was anders nicht verstanden werden kann. So gesehen hat der Bericht über das Geschlecht der Bohre auch mit dem Bildungsgedanken zu tun, der stets ein Träger der chinesischen Kultur war.
Die N20-Archive enthalten eine Reihe mehr oder weniger zuverlässiger Quellen. Einige davon haben in der frühen Version der Ōuzhōu-Gruppe Verwendung gefunden und waren eine wertvolle Inspiration. Zusätzlich konnten wir auf einem neuen Fund aufbauen, der kurzen, aber bedeutenden Chronik von »Little Green«. Wie es üblicherweise bei der »organischen Methode« gehandhabt wird, haben wir von der Fakultät eine Einschätzung vornehmen lassen bezüglich der Frage, inwieweit der bereits vorliegende erste Teil als Kern für eine Fortsetzung unserer Erzählung dienen könne, sowohl über Ereignisse, die zeitlich davor liegen, als auch über solche, die danach stattfanden, und nach erfolgter Genehmigung durchlief der nächste Erzählteil denselben Prozess.
Unsere Hauptaufgabe bestand aus zwei Aspekten: Zum einen war es uns ein Anliegen, eine Korrektur des Berichts der Ōuzhōu-Gruppe vorzunehmen. Aus unserer Sicht sind die Personen aus dem Geschlecht der Bohre als weitaus interessanter einzustufen als früher angenommen. Zum anderen möchten wir einigen vorteilhaften Wesenszügen, Anlagen und Eigenschaften nachspüren, die wir bei vielen repräsentativen Gestalten der Long-Dynastie wiederfinden – Qualitäten, die von den Bohre nicht durch Gene weitergegeben wurden, sondern durch Erzählungen. Diese »emblematischen Geschichten« wurden in der ersten, kritischen Phase der Dynastie so oft erzählt, dass dadurch die Nachkommen geprägt wurden – vergleichbar dem Begriff des »narrativen Ballasts«.
Wir sind drei Frauen, die das neue Team leiten, das von der Fakultät die Nuówēi-Gruppe genannt wird, und wir gestehen ohne zu zögern, nie zuvor hat eine Forschungsarbeit uns ein solches Vergnügen bereitet wie die hier vorliegende. Das Material erwies sich als überraschend reichhaltig, und besonders die weiblichen Mitglieder der Bohre-Familie bargen Geschichten, die viele jener Eigenheiten beleuchten, die wir bei den ersten zentralen Gestalten der Long-Dynastie wiederfinden.
Außerdem möchten wir hinzufügen, dass wir noch ein untergeordnetes Ziel verfolgten: ein wenig von dem kleinen, merkwürdigen Land Norwegen – von vor über zweitausend Jahren – wiederzuerschaffen, von einem Volk, von dem wenige heute überhaupt etwas wissen, und von einer Zeit, die unserer eigenen sowohl ähnlich als auch sehr unähnlich ist. In diesem Zusammenhang werden wir auch andeuten, was die Ursachen dafür gewesen sein mochten, weshalb Norwegen als Nation dem Verfall erlag und am Ende völlig ausgelöscht wurde.
An Xue, Cui Xiaofen und Zong Meifeng
Weinan Y-1040