Читать книгу Femina erecta - Jan Kjaerstad - Страница 6
ОглавлениеDER PERSISCHE BLICK
Selbstverständlich haben wir auch andere Anfänge in Erwägung gezogen, aber wir beginnen hier, bei der geselligen Zusammenkunft, die sich zu einen Punkt hin entwickelte, an dem Rita Bohre die Lust überkam, das Toledo-Schwert von seinem Platz über dem Kamin herunterzuholen – nicht weil sie jemanden damit erstechen wollte, sondern weil die männlichen Gäste sich wie kleine Jungen benahmen und die Breitseite der Klinge sich dazu verwenden ließe, ihnen gründlich den Hintern zu versohlen.
Eigentlich hatte alles ganz gut begonnen. Sie hatte die Blumen selbst gekauft. In früheren Jahren hatte sie zur Vorbereitung dieser vielgepriesenen Abende Hilfe angeheuert, doch dieses Jahr waren sie nur wenige – allerdings wurde ja auch kein runder Geburtstag gefeiert. Sie hatte Dagny dafür gewinnen können, ihr zur Hand zu gehen, und sie wollte dieselben Gerichte servieren wie immer, ein Ritual; alle wussten, was auf dem Speiseplan stand. Die Hälfte der Tulpen arrangierte sie in einer Kristallvase in der Tischmitte. Sie hatte die Blumen in Vika gekauft, sie hatte sowieso in die Stadt fahren müssen, da sie hier draußen bei weitem nicht alles bekam, was sie brauchte. Es war schon seltsam, wenn man sich vorstellte, dass Tulpenzwiebeln von ungeheurem Wert waren, als sie das erste Mal nach Nordeuropa kamen. Und jetzt, an einem Apriltag 1940, ging man einfach in einen Laden und suchte sich so viele aus, wie man haben wollte, ohne dass sie allzu viel kosteten.
Die Zeit.
Früher an diesem Tag, auf dem Nachhauseweg, war sie aus dem Zug gestiegen und langsam den Bahnsteig entlangspaziert, hätte bald dem Stationsgebäude zugenickt wie einem alten Freund, einem, mit dem man Erinnerungen teilt. Sie hatte viele prangende Bahnhofsgebäude in ganz Europa gesehen, war einmal sogar an der Endstation des Orient-Express am Bahnhof Sirkeci in Istanbul ausgestiegen – er sah aus wie eine prächtige Moschee –, doch kein Bahnhof war ihr so lieb wie dieser, an der Stadtgrenze beim Fluss, der in einen der vielen kleinen Fjordarme mündete.
Die Blumenschachtel in der einen Hand, die Einkaufstasche in der anderen, hatte sie den Jahr für Jahr stärker befahrenen Drammensveien überquert, die kleine Gruppe von Läden hinter sich gelassen und war in die ruhigen, schmalen Straßen gelangt, die sich den Höhenzug zwischen dem Fjord und Fornebulandet bergauf schlängelten. In der Stadt lag kaum noch Schnee, hier draußen dagegen schon, im Schatten größere Verwehungen. In einem Garten hatten zwei Jungen kleine Schneemänner in Reih und Glied aufgestellt, die sie jetzt umzuschießen versuchten. »Dein Oberst ist gefallen!«, hörte sie. Jungen und Krieg. Warum dachten sich Mädchen nie so ein Spiel aus? Sie lächelte und ging weiter die Anhöhe hinauf, erfreute sich an dem lauten Vogelgezwitscher ihres Einkaufsköfferchens, schnupperte in die Luft und gewahrte den Duft des Frühlings. Sie war in dieser Landschaft aufgewachsen, kannte jeden Fels, jeden Baum, jeden Torpfosten, wusste, wer in den dahinter liegenden Häusern wohnte oder gewohnt hatte, Geschäftsleute, Reeder, hohe Beamte, Künstler, Akademiker – und über ihnen allen ihr König, Fridtjof Nansen, am Hang auf der anderen Seite. Viele stattliche Häuser standen hier, nicht zuletzt die weiße Festung des Schiffsreeders Klaveness ganz oben auf dem Gipfel, sie sah das jetzt deutlicher als in ihrer Kindheit, denn damals hatte sie nie daran gezweifelt, dass sie selbst in der märchenhaftesten aller Villen in Lysaker wohnte, zumindest in Lagåsen, wie ihre Gegend mit der Zeit genannt wurde. Dass sie hier wohnen durfte, hatte sie ihren Großeltern zu verdanken, dem Großvater und seinem Vermögen, der Großmutter und ihrem ausgefallenen Geschmack.
Wie wir es uns vorstellen, oder zumindest vorzustellen versuchen, wäre es nicht undenkbar, wenn Rita Bohre einen Augenblick in der Auffahrt innegehalten hätte, um sich an dem Anblick der gemauerten Villa zu ergötzen, nur knapp unterhalb des Gipfels gelegen und geradezu hineingegraben in den Berg an einer Stelle, an der die Neigung etwas schwächer ausgeprägt war, der langgestreckte Garten jedoch in einen Steilhang, fast eine Schlucht auslief. Für Rita war dieses Haus schon immer ein Kunstwerk. »Palladio«, hatte die Großmutter gesagt, die sich mit Architektur auskannte zu einer Zeit, da wenige Frauen sich damit auskannten oder sich überhaupt auskennen wollten. »Villa Barbaro«, hatte die Großmutter gesagt. Rita dachte, dass Thea Bohre wohl erst im Nachhinein von diesen berühmten Villen erfahren hatte, und obschon die Villa Bohre klassizistische Züge aufwies, womöglich sogar von dem Renaissancearchitekten Palladio inspiriert war, konnte die erwachsene Rita auf den Bildern, die sie von der Villa nördlich von Venedig sah, keine allzu große Ähnlichkeit erkennen – sofern sich darin nicht ein Protest gegen den nationalromantischen, mit dem Amtsrichterstil vermischten Drachenstil ausdrückte, der damals um sich griff und nach und nach viele der in der Nachbarschaft errichteten Häuser prägte. Zudem besaß die Villa Bohre zwei niedrige Flügel, die symmetrisch beidseits der zweistöckigen Mitte herausragten. Wodurch sich das Anwesen aber am meisten von einer italienischen Prachtvilla unterschied, war der Charakter des Gartens, ein geordnetes Gestrüpp, dazu die Obst- und die hohen Laubbäume mit der riesigen, pyramidenförmigen Eiche wie ein Hofbaum in der Mitte. Und vor allen Dingen: dass man nicht über weite, urbar gemachte Felder hinwegblickte, sondern über einen graublauen Fjord. »Das ist Norwegen«, soll die Großmutter, als sie bereits einige Jahre hier wohnten, eines sonnenflirrenden Maitags gesagt haben. »Einen Fjord sehen durch blühende Apfelbäume.«
Für Rita war es ein kurzer Weg gewesen zu dem Haus, in dem Erik Werenskiold in seinem Atelier gestanden und genau diese Aussicht gemalt hatte, ein kurzer Weg zum Hause Polhøgda, in dessen Turm ein melancholischer Fridtjof Nansen gesessen war.
Jetzt waren beide tot.
Die Zeit.
In diesem Jahr, 1940, fiel Ritas Geburtstag, der 6. April, auf einen Samstag. Rita hatte es immer zu schätzen gewusst, Anfang April geboren zu sein, weil die Jahreszeit einen erbaulichen Rahmen um die Feier herum bildete. Dieses Jahr aber, besonders in den letzten Tagen, war eine Unruhe in ihr eingezogen. Es war, als hätte sie eine leichte Erschütterung im Boden wahrgenommen. Denn die Geschichte regte sich. Irgendetwas, das spürte sie, würde geschehen. Etwas, was das kleine Norwegen noch nie erlebt hatte. Ein unüberschaubares, weltumspannendes Drama, in das die Menschen in Norwegen, auf ganz andere Weise als jemals zuvor, verwickelt werden könnten.
Trotz ihrer Besorgnis hatte sie beschlossen, positiv zu bleiben, und vielleicht war das der Grund, weshalb sie sich schon während der letzten Vorbereitungen ein Glas Sherry genehmigte; sie trank sonst selten, sie hatte nicht vor, zu enden wie ihre Mutter, die ihre letzten Jahre hinter einem Schleier aus Portwein zugebracht hatte, Portwein, den sie zur Tarnung aus einer Teetasse trank. Aber der Sherry tat gut. Sie schenkte sich noch ein halbes Glas ein und erkannte gleichzeitig, dass sich hinter ihrer Unruhe noch eine andere Art Nervosität verbarg. Die Befürchtung, den Anforderungen nicht zu genügen. Warum? Sie war 44. Sie hatte Erstaunliches geleistet. Sie hatte, als eine von wenigen Frauen, eine feste Anstellung an der Universität. Sie hatte drei wundervolle Kinder. Ein Haus, um das die Leute sie beneideten. Keinen Mann, aber trotzdem. Woher diese Aufgewühltheit? Diese plötzliche Unsicherheit?
Die Gäste standen im Wohnzimmer und unterhielten sich vor den großen Fenstern, die auf den Fjord hinausgingen. Die Herren im Smoking, die Damen in langen Kleidern. Rita genoss den Anblick. Wie ein Zeichen von Zivilisation, passend zu den vier Säulen vor der Giebelwand draußen. Nachdem sich der Neon-Kreis aufgelöst hatte, war es ihr Traum gewesen, einen Salon ins Leben zu rufen, eine erlesene Auswahl an Menschen in ihr geräumiges Wohnzimmer zu laden, zu stimulierenden Gesprächen, Lesungen, Konzerten zu ermuntern. Daraus war nie etwas geworden, sofern denn nicht dies, ihr Geburtstag, einmal im Jahr ihren Salon darstellte.
Auch die Gäste bekamen Sherry. Auf diese Weise konnte sie gut einige der vielen Flaschen loswerden, die ihre Mutter ihr im Keller hinterlassen hatte. Zwei Gruppen hatten sich gebildet. Ihre beiden Jungs und Maud, die zwei Herren und Ragnhild. Rita betrachtete sie, während sie die beiden Wasserkaraffen auf den Tisch stellte und die Kerzen anzündete. Die Rotweinflaschen für den Hauptgang standen geöffnet auf der alten Anrichte aus Walnussholz. Ihre Söhne Sigurd und Harald sahen auf einmal so erwachsen aus, und das war nicht allein auf ihre Kleidung zurückzuführen. Sie waren erwachsen. Und genauso blond wie ihr Vater. Arisch, wie ein Deutscher gesagt hätte. Wie oft war sie in Verzweiflung geraten über all die Lausbübereien, die sie als Kinder angestellt hatten, die unerledigten Hausaufgaben, das gefährliche Klettern auf hohe Bäume, die brutalen Schneeballschlachten im Winter, die halsbrecherischen Schlittenfahrten auf der Korketrekkeren-Rodelbahn. Und jetzt sieh sie dir an! Eine Augenweide. So verändert. Sie hatte den letzten Roman des jungen Grieg nicht gelesen, aber der Titel, entlehnt von Henrik Wergeland, gefiel ihr: Jung noch muss die Welt sein. Sigrid Undset lag falsch mit ihrer Behauptung, dass der Menschen Herzen sich nicht veränderten. Alles, auch die Spezies Homo sapiens, der hart geprüfte Mensch, befand sich in einer Entwicklung.
Hinter alldem jedoch: der Stein, der ihr im Magen lag. Die Zeitungen schrieben von Meeren voller Kriegsschiffe. Manche meinten, Norwegen könnte von einer Invasion heimgesucht werden.
Bjørg, ihre Tochter, fand stets eine Ausrede, um sich vor solchen Anlässen aus dem Staub zu machen. Sicher war sie bei Esther, ihrer zurückhaltenden und rätselhaften Freundin. Rita hoffte, ihre Tochter würde noch auftauchen. Wenigstens ein bisschen Klavier könnte sie doch für sie spielen, irgendetwas Erbauliches, Bach vielleicht, eine der Englischen Suiten, eine von denen, die nicht in Moll geschrieben waren; keine Tischgesellschaft, keine Unterhaltung konnte einen besseren Auftakt erfahren als durch Johann Sebastian Bachs Klänge, ein Hinweis darauf, wie weit es der Mensch mit seinem Ideenreichtum, seiner Schöpferkraft zu bringen vermochte. Das durfte man nie aus den Augen verlieren, ganz gleich wie düster die Aussichten standen: die JSB-Korrektion.
Ja. Sie brauchte Trost. Wie sie so dastand und vom Esszimmer aus die Gäste beobachtete, traf es sie wie ein Schlag. Denn da war auch noch etwas anderes. Seit sie den Ablehnungsbescheid für die Stelle bekommen hatte, auf die sie sich beworben hatte, war sie betrübt, eine Stelle, von der sie immer geträumt hatte. Ein Schlag. Und sie hatte nicht mit Wut reagiert, sondern mit Trauer. Hatte sich eingesperrt. Es war gut, wieder Menschen um sich zu haben. Die Familie. Freunde.
Rita ließ den Blick auf der attraktiven Frau ruhen, die von ihren beiden Söhnen flankiert wurde, während Maud, die junge Dame, ständig einen Schritt zurücktrat, wie um sich Raum zum Luftholen zu verschaffen. Schwarzes Haar. Aber mit einem rötlichen Schimmer. Einer Glut. »Eine gemeinsame Freundin« nannten die beiden sie. Blasse Haut und hohe Wangenknochen. Grünes Kleid. Ein Blickfang, kein Zweifel. Eine Frau, wie sie Werenskiold gerne gemalt hätte. Konnten zwei Jungs und ein Mädchen Freunde sein? Nur Freunde? Aber hatte Rita nicht vor Jahren etwas Ähnliches erlebt, mit Konrad und Max? Trotzdem ein Anblick, der sie stutzig machte, Sigurd und Harald mit umeinandergeschlungenen Armen. Das taten sie sonst nie. Es war, als stünden sie auf einer Bühne und versuchten, zwei Brüder zu spielen, die beste Freunde waren.
Wie lief es mit der Suppe? Sie war in der Küche und erteilte Dagny Anweisungen, diesem gesegneten Menschen, einer Helferin in all den Jahren, seit Rita allein war. Hummer. Was für ein Duft. Sud aus Meeresfrüchten und Obers. Sie hatte überlegt, ein paar Flaschen Rheinwein zu öffnen, aber es sollte beim Sherry bleiben zur Suppe. Rheinwein konnte in diesen Zeiten falsche Signale aussenden. Sie wollte neutral bleiben. Wie Norwegen. Es sollte ein netter Abend werden. Ohne Minenauslegung, gleich welcher Art. Das hatte sie lange entbehrt. Eine Dosis elementaren Umgangs mit Menschen. Gebildete Konversation. Geschliffene Worte.
Mehr erhoffte sie sich gar nicht.
Wieder im Wohnzimmer, nahm sie ihr Glas und näherte sich der Gruppe um die zwei Herren. Albert, ihr Bruder, der so viele Wale geschossen hatte, oder schießen hatte lassen, dass es ihm fürstlichen Reichtum eingebracht hatte und einen Wohnpalast in Sandefjord. Und Max, der kleine Maximilian. Sie hatte einen stechenden Groll verspürt, als Albert ihr mitgeteilt hatte, er werde seinen Freund mitbringen, sie hätte Max niemals eingeladen, dachte jetzt aber, dass es trotzdem schön war, ihn in ihrem Wohnzimmer zu sehen. Eine Ehefrau hatte er sich nicht gefunden, dafür allerdings hatte er bereits einen Professorentitel in der Tasche – schon als Junge hatte er sich auf die Kunst verstanden, die günstigsten Positionen für seine Schachfiguren zu finden. Wer hätte das vermutet, als er in kurzen Hosen herumgelaufen war und Steine nach ihr geworfen hatte? Und dort, ein wenig unpässlich, stand ihre Nichte Ragnhild, die Rita so gern mochte und die sie vor ein paar Jahren auf ihre Reise nach Østerdalen und Rondane mitgenommen hatte. Das Ebenbild ihres Bruders, jedoch mit einer Warmherzigkeit, die ihm abging. Es überraschte nicht, dass sie vorhatte, sich als Krankenschwester ausbilden zu lassen.
Vielleicht sollte Ragnhild am besten gleich bei ihrem Vater beginnen? Ihm einen Impfstoff gegen Hochmut verabreichen? Nein, keine solch perfiden Gedanken jetzt.
Rita klatscht in die Hände und bittet alle ins Speisezimmer, weist jedem und jeder Einzelnen einen Platz zu, und als sie den Anblick des hübsch gedeckten Tischs auf sich wirken lässt, des glänzenden Bestecks, der Tulpen, Kerzen, der Gäste im Kreis rundherum, erfüllt sie eine seltsame Wärme, eine Verzweiflung beinahe, und sie ertappt sich bei dem Wunsch, dass alles so bleiben könnte wie jetzt, dass die Zeit stehenbleiben könnte, so wie die campanileähnliche Standuhr an der Wand, die seit Vaters Tod nicht mehr aufgezogen wurde; eigentlich konnte sie diese kontinuierliche Veränderung nur schwer akzeptieren, über die sie noch vor einem Augenblick nachgedacht hatte: Entwicklung, Wachstum, Tod. Im Gegenteil. Die Jungs sollten immer so bleiben, wie sie jetzt waren. Genauso feurig, so voller Lebenshunger. Sie lachte innerlich, schüttelte den Gedanken dann aber von sich und nickte Dagny zu. Gemeinsam begannen sie, in tiefen Tellern die Hummersuppe aufzutragen, die einen besseren Duft verbreitete als jeder Weihrauch.
»Hast du dir noch immer keine feste Haushaltshilfe angeschafft?«, fragte Albert, der es am liebsten sähe, wenn sie ihr Leben ihrem Stande gemäß führte. Wie er selbst es tat. Gleichzeitig beließ er seine Hand ein wenig zu lange auf Dagnys Rücken, als diese den Teller vor ihn hinstellte. Er hatte Dagny immer gemocht.
»Harald könnte beim Servieren helfen!«, rief Sigurd. Rita hörte den leicht boshaften Seitenhieb in seinen Worten.
Albert nahm den Wink auf: »Arbeitest du noch immer in dieser Saufbude, Harald, dem Theatercaféen? Ich hätte geglaubt, du hättest größere Ambitionen, Junge. Wolltest du es nicht zu etwas mehr bringen, als vor Taugenichtsen zu katzbuckeln?«
Harald antwortete nicht, roch lieber an der Suppe, bedeutete der Mutter, dass er hungrig sei und sich auf das Essen freue.
»Sieh dir deinen Bruder an«, stichelte der Onkel weiter. »Rechtswissenschaft, das ist die Zukunft. Wir brauchen Juristen mehr denn je. Überdies bringt es ein guter Anwalt zu Reichtum. Wie geht’s dir damit, Sigurd?«
»Gut, aber ich stehe ja noch immer am Anfang meiner Studien.«
Mit ehrlicher Neugier wandte Max sich an Harald: »Was wird denn so an den Kaffeehaustischen geredet? Werden wir in den Krieg hineingezogen oder nicht?«
»Keiner glaubt, dass der Krieg zu uns kommt«, sagte Harald, fügte jedoch hinzu: »Nur die Pessimisten. Die, die kein Trinkgeld geben.«
Max lachte und flüsterte Ragnhild, seiner jungen Tischgenossin, etwas zu. Jetzt, da alle einen appetitanregenden Teller vor sich stehen hatten, erhob Rita das Glas und deklamierte einen kurzen Vers: »Immer seufzen wir und klagen / hadernd mit des Himmels Schlüssen: Ach daß wir zu spät gekommen! / daß zu früh wir scheiden müssen!‹« Der Vers war als kleine Provokation oder als Ausgangspunkt für ein Gespräch gedacht. Jedenfalls passte er, in Anbetracht der politischen Umstände. »Aus den Rubaiyat von Omar Chayyām«, sagte sie zur Aufklärung, »nachgedichtet von Alexander Seippel. Ich bin Seippel – dieser seltsamen Figur – ja mehrmals in der Stadt begegnet, in Vaters Antiquariat. Er hat auch Hafis übersetzt. Willkommen. Bitte, lasst es euch schmecken.«
»Du und dein Persien«, sagte Sigurd in neckendem Tonfall. »Du hättest Datteln und Tee kredenzen sollen, Mutter.«
»Das ist auch schon das Einzige, was du an schöner Literatur gelesen hast«, scherzte Harald, »diese komischen persischen Poeten.« Er schielte zu der vis-á-vis sitzenden Maud hin, die diese Bemerkung jedoch nicht zu amüsieren schien. Rita wusste, dass Maud und die Jungs viel Zeit miteinander verbrachten, sie waren sogar mit den Skiern zu ihrer Hütte im Krokskogen gefahren. Angeblich war sie eine regelrechte Rakete auf den Skiern. Nach dem, was die Jungs ihr erzählt hatten, war sie im Winter mehrmals von Jevnaker, ihrem Heimatort, durch das große Waldgebiet der Nordmarka bis in die Stadt langgelaufen. Ein Mädchen, an dem Nansen zweifellos seinen Gefallen gefunden hätte, er, der seine Eva auf Skiern im Wald am Frognerseteren kennengelernt hatte. Ja, und sie las auch viel und wollte für eine Zeitung schreiben. Beschäftigte sich außerdem mit Fotografie. Armes Ding, sie hatte offenbar keine Ahnung, was für eine Männerbastion eine Zeitungsredaktion war. Bei zwei Gelegenheiten hatte sie Rita gefragt, ob sie Bilder von ihr schießen dürfe. Sie hatten sich damals ein wenig unterhalten, und Maud hatte ihr viele überraschende Fragen gestellt. »Sie haben ein schönes Gesicht«, hatte sie hinterher gesagt. »Ich sammle schöne Gesichter.«
Rita mochte sie, ihre Glut. Ihre draufgängerische Art. Ihre Eigenschaft, nicht in alte Muster zu verfallen wie so bedrückend viele andere junge Frauen.
»Pfui, seine Mutter unterschätzen, das ist aber nicht nett«, lachte Rita und nutzte die Gelegenheit, um anzumerken, dass noch jemanden fehlte, aber wieso sich mit Warten aufhalten? Und dann bedankte sie sich für die Geschenke, das sei absolut nicht nötig gewesen, aber vielen Dank. Von ihren Söhnen hatte sie nur etwas Symbolisches aus der Freia-Schokoladen-Boutique auf der Karl Johans gate bekommen, aber Maud – aufs Neue war Rita verblüfft – hatte ihr eine Grammofonplatte geschenkt, zwei Cello-Suiten von Bach, eingespielt von Pablo Casals. Ein außergewöhnliches Geschenk. Was sie indessen am meisten begeisterte, war nicht das eigentliche Geschenk, sondern etwas, das Maud sagte und das Rita nicht wusste, nämlich dass sich Casals im Spanischen Bürgerkrieg auf die Seite der Republikaner gestellt habe, dass er jetzt in Frankreich wohne und die Rückkehr nach Spanien verweigere. Maud verfolgte das Weltgeschehen, Rita mochte sie schon jetzt lieber als irgendeine der anderen jungen Damen, die ihre Jungs früher angeschleppt hatten.
»Was für ein subtiler Geschmack«, sagte Max und führte den Löffel zärtlich in den Rest der Suppe. »Und was für ein wundervolles Aroma. Bravo, Rita!«
Von Albert und Ragnhild hatte sie prächtigen Silberschmuck bekommen, wobei sie nicht recht wusste, ob sich darin die Großmütigkeit ihres Bruders ausdrückte oder ob er damit etwas zur Schau zu stellen beabsichtigte. Max hatte sein letztes Buch über Albrecht Dürer mitgebracht. Sie war sich nicht sicher, ob sie Dürer mochte, bedankte sich aber höflich. Und vielleicht auch ein klein wenig beeindruckt. Max, der Bücherschreiber. Der kleine Max. Als er bei der Tür hereingekommen war und ihr das Buch überreichte hatte, hatte er geflüstert: »Ah, noch immer die dunkle Schönheit, Rita. Und das burgunderrote Kleid, der Stoff, dein Haar, lassen mich an ein Porträt von John Singer Sargent denken.« Sie musste ihn fast zur Seite schieben, auch wegen eines auffallend starken Dufts: »Du hast zu viel Kunstgeschichte gelesen, Max.« Was ihn eigentlich faszinierte, dachte sie bei sich, war ihr großzügiger Ausschnitt, und sonst nichts. Sogar wenn er ihr in die Augen sah, gelang es ihm nie ganz, die Lust zu verbergen, seinen Blick in die Kluft zwischen ihren Brüsten hinabzusenken, ein Abgrund, der ihn schon in seiner Jugend schwindlig gemacht hatte. Bevor sie zu Tisch gegangen waren, hatte er sich, wieder mit diesem zweigeteilten Blick, über ihre Karriere unterhalten wollen. Ob sie vorankomme? »Höher hinauf«, dachte sie, das war es, was er damit meinte. Aber sie war sich nicht mehr sicher. Wusste er von der Professur, von der Anstellung, die ihr durch die Lappen gegangen war?
An diesem Abend wollte Max sich eindeutig von seiner besten Seite zeigen, seiner witzigen, Oscar-Wilde-artigen Seite. Darüber war sie froh. Aber er war hinterlistig. Sie hatte schon immer gedacht, dass ihm irgendein wichtiges Organ fehlte. Und jetzt unterhielt er sich angeregt mit der gutherzigen Ragnhild. Sollte Rita sie warnen?
Nicht den Optimismus verlieren! Der Hauptgang wurde an den Tisch gebracht. Ente. Immer Ente. Als Gewürze dienten nicht nur Salz und Pfeffer, sondern auch ein wenig gemahlener Kardamom. Dazu eingemachte Äpfel und Kürbis. Honigsoße. Sie brachte einen neuen Toast aus, auf die Familie und Freunde. Es sollte ein denkwürdiger Abend werden. Ein salonartiger Abend, knisternd vor intelligenten Kommentaren. Zwangloses Geplauder, dessen Unterbau die Weltgeschichte bilden sollte und die Lehren, die es daraus zu ziehen galt, nicht zuletzt unter Berücksichtigung der angespannten Lage, die außerhalb der Wohnzimmerfenster herrschte. Doch als Albert sich im weiteren Verlauf des Mahls räusperte, entstand allmählich ein Missklang. Rita war aufgefallen, dass er bei seiner Ankunft leicht verärgert gewirkt hatte, vielleicht weil seine Frau und sein aufmüpfiger Sohn nicht mitgekommen waren. Darüber konnte Rita allerdings nur froh sein, sie pflegte ein angestrengtes Verhältnis zu Constance, oder dem »Dreißigjährigen Krieg«, wie Albert sie nannte. Nun aber räusperte er sich und sagte, die Ente sei zu trocken, warf die Bemerkung einfach so hin, wie nebenbei, aber trotzdem laut genug, dass alle sie hörten, die Ente sei ein bisschen trocken, zum Teufel auch, er hätte ein paar erstklassige Filetsteaks mitbringen können, wieso sie ihm nicht einfach Bescheid gesagt habe; Rita ließ sich nichts anmerken, nicht einmal, als Ragnhild ihrem Vater einen vorwurfsvollen Blick zuwarf und anmerkte, die Ente schmecke ganz vorzüglich; Rita tat, als ob nichts wäre, eigentlich war Essen für sie eine Nebensächlichkeit, sie hätte überhaupt nichts zu essen servieren müssen, eigentlich interessierte sie sich gar nicht dafür; obwohl sie eine Frau war, war ihr die Kocherei immer lästig gewesen, sie hatte nur getan, was zu tun war, damit die drei Kinder bekamen, was sie brauchten; die Essenszubereitung war eine notwendige, aber unbedeutende Tätigkeit, trotzdem ärgerte es sie, dass ihr Bruder so über die Ente hatte sprechen müssen, denn die Ente war trocken, nicht einmal die Soße konnte etwas dagegen ausrichten.
Es wäre verlockend gewesen, mit einer spitzen Bemerkung zu kontern, und sie war beinahe dankbar, als Sigurd erneut die Spannungen auf dem Kontinent zur Sprache brachte, woraufhin Max vorsichtig andeutete, die Ansprüche der Deutschen seien wohl nicht ganz ungerechtfertigt. »Kein Wunder, dass sie sauer sind«, bemerkte Sigurd, »so, wie sie 1918 von den Siegermächten beraubt wurden. Der sogenannte Frieden von Versailles hat sie ja finanziell komplett ruiniert. Was konnte der Rest von Europa da schon erwarten? Dass die Deutschen, völlig gedemütigt, nur herumsitzen würden und das einfach so hinnehmen?«
»Hier in Norwegen wird es keinen Krieg geben«, wiederholte Harald. »Seit 126 Jahren ist auf norwegischem Boden nicht gekämpft worden, wir kommen auch diesmal davon. Und die Ente war tadellos, Mutter.«
Natürlich werde es Krieg geben, stellte Sigurd fest und leerte sein Glas. Was Harald denn glaube, wie lange die Deutschen noch zuwarten würden, um sich den Hafen von Narvik zu sichern? Die Briten und Franzosen könnten die Gewässer jederzeit mit Minen auslegen.
Oder bei uns einfallen, warf Max ein. Harald verdrehte die Augen.
Sigurd hielt einen hitzigen Vortrag über die Abhängigkeit der deutschen Kriegsindustrie von schwedischem Eisenerz und den Bedarf der deutschen Marine an Basen in norwegischen Fjorden, mit denen sie einen möglichst großen Teil der Nordsee unter ihre Kontrolle bringen könnten.
Der Onkel klatschte leise. »Ein Historiker«, murmelte er. »Wie seine Mutter.«
Wenn der Krieg wirklich komme, sei es ihre moralische Pflicht, nicht zu den Waffen zu greifen, sagte Harald und beugte sich vor, um nach der Weinflasche zu greifen, die ihm am nächsten stand. Abgesehen davon sei man ohnehin machtlos. Die norwegische Verteidigung sei null wert. Das wisse Sigurd genauso gut wie er selbst. Beide hätten sie diese Farce mitgemacht, die unter dem Namen Wehrpflicht firmiere, sie könnten im besten Fall ihre Stiefel blank putzen.
»Noch Wein, Maud?«, fragte Rita. »Nein, danke.« Mauds Glas war allerdings auch noch halbvoll. »Ragnhild?« »Ich habe noch, danke«, lächelte sie. Bescheiden, die jungen Damen, oder vorsichtig, im Gegensatz zu den Herren und den Jungs; es sollte umgekehrt sein, dachte sie, die Frauen sollten Wein trinken und dabei Reden schwingen, laut und bombastisch, während die Herren zuhörten, nüchtern und zurückhaltend, warum lief es nie so ab?
Doch dann mischte Maud sich ins Gespräch ein: »Nur wir Frauen können den Krieg stoppen«, sagte sie und machte eine Pause, ehe sie fortfuhr: »Indem wir Männern den Zugang zu unseren Geschlechtsteilen verweigern. Wie Lysistrata.« Rita lächelte überrascht, während Sigurd und Harald peinlich berührt wirkten, ihre Freundin so unverblümt sprechen zu hören.
Auch Ragnhild ergriff unerwartet das Wort: »Habt ihr von Ghandi gehört, diesem seltsamen Inder?« Auf diese Frage seiner Tochter hin rümpfte Albert die Nase, so als wäre Ghandi ein genauso lächerliches Wort wie Lysistrata. »Er hat gegen die Kolonialherren gekämpft, und das ohne Gewaltanwendung«, fuhr Ragnhild fort. »Im Zusammenhang mit dem, was man den Salzmarsch genannt hat, sahen sich die Briten gezwungen, 60.000 Inder zu verhaften.«
»Das wäre wirklich mal was«, sagte Harald mit einem zustimmenden Nicken.
Sigurd rückte auf seinem Stuhl herum, wie um seine Verständnislosigkeit darüber auszudrücken, wie auch nur irgendjemand diesen wirklichkeitsfernen Unsinn ernst nehmen könne.
»Ja, das wäre ein Anblick«, sagte der Onkel. »Harald, der vor den Panzern auf der Svinesundbrücke steht, eingewickelt in ein weißes Tuch aus dem Theatercaféen.«
»Und zum Zeichen des Friedens mit einer Serviette wedelt«, stimmte Sigurd ein.
»Du warst schon immer ein verdammter Kriegstreiber!«, rief Harald. Als spräche er gewissermaßen nur zu Ragnhild und Maud, begann er davon zu erzählen, wie Sigurd als kleiner Junge ein riesiges Modell der Skagerrakschlacht gebastelt hatte, der größten Seeschlacht des letzten Krieges, wie er kleine Boote auf einer gigantischen, gezeichneten Karte der Nordsee hin und her geschoben hatte. »Er war so vertieft in dieses Spiel, dass ihm der Sabber runterrann. Er hätte Admiral werden sollen!«
»Du bist ein Träumer, Harald. Lass den Krieg nur kommen, sage ich.« Sigurd war so erregt, dass er halb aufgestanden war. »Es wird Zeit, dass endlich einmal etwas passiert in diesem verflucht sicheren Land. Sehnst du dich denn nicht danach, etwas Heldenmutiges zu vollbringen?«
»Jedenfalls nicht in einem Krieg«, sagte Harald.
»Na, na, nicht so laut«, sagte Rita. »Sigurd, nimm noch von der Ente. Und du, Harald, reich mir die Schüssel mit den eingelegten Äpfeln.« Plötzlich wurde sie gewahr, dass zwischen den beiden Brüdern etwas war, dass da etwas verborgen lag und dieser Streit über Krieg oder nicht Krieg, ihre Versuche, sich gegenseitig lächerlich zu machen, lediglich als Tarnung dienten für etwas anderes, für einen tiefer sitzenden, ernsten Konflikt. Ging es um Maud? Wieso hatte sie ausgerechnet das über Lysistrata gesagt? Schon bei der Ankunft der Gäste in der Villa hatte Rita einen kurzen Einblick bekommen. Anstatt direkt ins Wohnzimmer zu gehen, hatte Harald versucht, Maud über die Treppe ins Obergeschoss hinaufzuziehen. »Wir müssen darüber reden«, glaubte Rita, ihn sagen gehört zu haben, mit einem Flüstern, aus dem sie Verzweiflung herausgehört hatte; er hatte Maud am Handgelenk gepackt, doch sie hatte jähzornig ihren Arm zurückgezogen. »Fass mich nicht an!« Ausgerechnet diese Worte hatte Rita deutlich vernommen.
In Gedanken suchte sie nach etwas, was die Gemüter zum Abkühlen bringen könnte, und ihr fiel ein, dass sie neulich Halvdan Koht im Fjellveien getroffen hatte, sie hatte es nie für etwas Besonderes gehalten, beim Spazierengehen dem Außenminister über den Weg zu laufen, ihre gesamte Kindheit hindurch war sie es gewohnt gewesen, Personen, die von vielen als Vorbilder und Helden angesehen wurden, oder die immerhin wichtig oder berühmt waren, zu grüßen und Gespräche mit ihnen zu führen, und jetzt erzählte sie ihren Gästen von ihrer Begegnung mit Außenminister Koht, der gesagt habe, er glaube nicht, dass Norwegen in den Krieg hineingezogen werde. »Das Beste, was wir tun können«, hatte er gesagt, »ist, darauf zu achten, dass unsere Neutralität nicht von anderen Nationen verletzt wird.«
Das brachte Sigurd nur noch mehr auf die Palme, er nannte Koht einen blauäugigen Antimilitaristen. Rita hörte kaum noch zu, saß da und starrte auf das glühende Walnussholz der Anrichte, auf dessen verborgenes Muster. Auch die anderen mischten sich jetzt ein, sprachen über Koht und England und die von Deutschland ausgehende Kriegsgefahr, die von allen unterschätzt werde, Rita spürte, wie ihr schwindlig wurde bei dem Gerede, das heißt, die Männer waren es, die redeten, sich gegenseitig das Wort redeten, über das deutsche Schiff Altmark, über den Jøssingfjord, irgendwas über Finnland, über Churchill, über Hambro, sollte nicht er das Land regieren anstatt Nygaardsvold und blablabla. Der Inhalt verschwand vor ihr. Am Ende fing sie nur noch einzelne Wörter auf, Phrasen … Norwegen … Ehre … unsere verdammte PFLICHT … Eidsvoll, verflucht noch eins … der König … die Deutschen sind unsere Freunde … Gewissen … bevor Sigurd schließlich sagte, es sei eine Schande, sie müssten etwas tun, es könne sich nur mehr um Tage handeln, bis die Deutschen vor der Tür stünden, sie sollten sich bereitmachen, sollten schon jetzt in den Wald aufbrechen, rauf zu Mauds Hütte, dieser Krieg, ob sie es wollten oder nicht, werde hierherkommen, Hitlers Appetit auf Land sei noch nicht gestillt, jetzt sei Norwegen an der Reihe.
Die Stimmung, der ganze Abend, stand im Begriff, sich anders zu entwickeln, als Rita gehofft hatte. Sie starrte auf das halbe Stück trockenen, ja, zu trockenen Entenfleischs, das noch auf ihrem Teller lag, und suchte nach etwas anderem, worüber man sich unterhalten konnte, während Max eine Vorlesung über deutsche Geschichte hielt, über England und Frankreich, über Russland, gepaart mit Kunstgeschichte. Seine Sympathie für das Deutsche schimmerte hindurch, und Rita fiel wieder ein, dass er kürzlich erst eine Chronik über »eine neue Renaissance für Deutschland« geschrieben hatte, irgendetwas in der Art. Albert sagte etwas über Krupp, über die deutsche Industrie, pflichtete seinem Freund bei, Harald brachte Einwände vor, auch Sigurd meldete sich wieder zu Wort, worauf sie erneut zu streiten anfingen. Rita hörte nicht mehr zu, gab Dagny ein Zeichen, die gerade die Teller hinauszutragen begann.
»Trotzdem verstehe ich nicht, wie die Deutschen, mit ihrer reichen Geistestradition, einem Scharlatan und Rüpel wie Hitler auf den Leim gehen können.« Wieder war es Maud, ihre klare, angenehme Stimme.
Rita ertappte sich bei einem anerkennenden Nicken, und während sie die glänzenden Dessertteller aufdeckte, sah sie die Gelegenheit gekommen, auf die schonungslosen Artikel über das dämonische Element im deutschen Nationalsozialismus zu sprechen zu kommen, die Konrad in den letzten Jahren für die Zeitung verfasst hatte. Worauf die Menschen hereinfielen, hatte er geschrieben, und was bei so vielen Menschen Sympathie für Hitler wecke, sei seine Fähigkeit, Politik in Ästhetik zu verwandeln. Er habe es geschafft, die ganze deutsche Gesellschaft in ein Theater umzugestalten. Man schaue sich bloß die erschreckenden Parteiversammlungen in Nürnberg an!
Max beäugte sie missbilligend, nicht so sehr in Hinblick auf ihre Argumentation, als vielmehr, weil sie den Namen Konrad Steen erwähnt hatte. Er faselte irgendetwas von wegen, wie sehr der deutsche Blitzkrieg ihn in seinen Bann gezogen habe. Polen! Was für eine Effektivität! Müsse man da nicht zumindest ein bisschen beeindruckt sein von den Deutschen?
Was ist das nur mit den Männern, dachte Rita, während sie das Silbertablett mit dem Karamellpudding so auf dem Tisch abstellte, dass Ragnhild sich als Erste bedienen konnte: Diese jungenhafte Begeisterung für Technologie und Strategie, die sie zu einem völligen Außerachtlassen der daraus resultierenden Folgen befähigte: die Tausenden und Abertausenden von Leichen, junge Männer – Männer wie Sigurd und Harald –, die im Schlamm begraben lagen.
»Noch jemand Wein?«, fragte Rita. Sie hatte einen Sauternes servieren wollen, aber schlicht und einfach vergessen, einen zu besorgen.
Sie sollte zur Gegenrede ansetzen. Obwohl sie am liebsten über etwas anderes geredet hätte. Egal worüber, nur eben etwas anderes. Über die Krokusse, die an der Hauswand entlang auftauchten. Über Johann Sebastian Bach. Trotzdem. Niemand an diesem Tisch wusste mehr über Geschichte als sie. Sie musste etwas sagen. Die Perspektive umkehren. Doch sie blieb einfach nur sitzen und hörte zu, nippte von ihrem Getränk, als säße sie im Publikum bei einer Veranstaltung, und ließ sich blenden, genau wie die Frauen zu allen Zeiten, ließ sich blenden von diesen Männern, von ihren Argumentationsreihen, die sich gewiss auf lange Zeitungsartikel gründeten oder auf Bücher, die sie gelesen hatten. Zudem war sie keine geschickte Rednerin – hatte sie vielleicht deshalb die Stelle nicht bekommen? Doch dann, als sie den Geschmack von Dagnys Karamellpudding genoss, oder wenigstens zu genießen versuchte, kam ihr der Verdacht, dass diese vier redseligen Männer weniger wussten, als sie zu wissen vorgaben, viel weniger, oder dass das, was sie hier darlegten, eigentlich ein Ausdruck von Gefühlen war, verkleidet in vernünftige Rhetorik. Und sie erkannte hinter all dem, dass dieser ganze Wortwechsel lediglich Konversation war, etwas, das sie auf dieselbe Weise genossen wie die Zigaretten, die sie in den Händen hielten. Es waren nur Worte, etwas, womit man focht, womit man Status herstellte. Selbst Sigurd befürchtete eigentlich keine deutsche Invasion, er flirtete bloß mit der Angst.
Flirtete mit Maud.
Nachdem sie sich ins Wohnzimmer begeben hatten, wurde die Diskussion bei Kaffee und Cognac fortgeführt. Da sie nicht allzu viele waren, konnten sie in einem weiten Halbkreis um den großen Kamin sitzen, die Beine auf einem der Isfahan-Teppiche. Die Jungs hatten wieder links und rechts neben Maud Platz genommen. Rita saß in ihrem großen, mit safranfarbenem Stoff bezogenen Ohrensessel, dessen Muster aus Tigern und Elefanten bestand. Pfauenthron, so nannten ihn die Jungs. Für Rita war es einfach ein Nachdenksessel. Über dem Kamin hing eines der wenigen Dinge, die Ritas und Alberts Vater hinterlassen hatte: ein Schwert, iberischer Stahl, »ein Souvenir aus meiner Heimatstadt Toledo«, wie er erklärt hatte. An den Wänden um sie herum hingen Gemälde von Erik Werenskiold und Eilif Peterssen, einige Zeichnungen von Munthe, sogar eine von Nansens Skizzen. Geschenke an ihre Mutter. In demselben Sessel, in dem Rita jetzt saß, war auch ihre Mutter gegen Ende ihres Lebens gesessen und hatte mit den Männern Hof gehalten, die nie aufgehört hatten, für sie zu schwärmen. Auch jüngere Männer.
In dem Wissen, dass in unserer bisherigen Darstellung Namen erwähnt wurden, die den meisten Leserinnen und Lesern unbekannt sein dürften, möchten wir die besonders Neugierigen auf ein Werk aufmerksam machen, das als eine Pionierarbeit angesehen werden kann bei der Erforschung einer Nation, die praktisch aus dem Weltgedächtnis ausradiert wurde, die wir jedoch, unter Anwendung der fiktionalisierten Geschichte, fragmentarisch wiederherzustellen versuchen: Archäologie der Namen. Tausend vermutlich zentrale Personen im Norwegen des 20. Jahrhunderts von Yang Anyi (Xianxiang Y-1032).
Aus den Augenwinkeln sah Rita, wie Albert Dagny betatschte, als diese mit der Kaffeekanne und einem Tablett mit Konfekt die Runde machte. Als Max Ragnhild etwas anvertraute, befanden sich seine Lippen viel zu nah an ihrem Ohr. Diese Männer interessierten sich für eine andere Sorte Konfekt als die, die man in der Freia-Schokoladen-Boutique zu kaufen bekam. Rita trank, spürte die betäubende Wirkung des Alkohols, hatte jedoch nichts dagegen. Sie hörte dem Wortkrieg der Jungs zu, der in einem Ton gehalten war, der nicht mit der Bildung zusammenstimmte, die dieses Wohnzimmer, diese Villa, dieser Stadtteil, Lysaker, repräsentierten. Höchste Zeit, etwas beizusteuern, die Diskussion auf ein höheres Niveau zu heben, die richtungsweisenden Linien zu präsentieren. »Die Deutschen und Hitler hätten aus der Geschichte lernen sollen, dass man die Außengrenzen besser in Frieden lässt«, sagte sie ruhig und drehte den Fuß ihres Glases. Plötzlich waren alle Blicke auf sie gerichtet. »Denkt zurück an den Krieg zwischen den Griechen und dem Perserreich. Sowohl Dareios als auch Xerxes waren bedeutende Staatsmänner, aber beide erlitten Niederlagen, als sie den Krieg zu weit an die Peripherie verlagerten.«
»Die Deutschen geben sich nie mit ihrer nächsten Umgebung zufrieden«, warf Sigurd ein. »Jedenfalls haben sie im vorigen Krieg die Russen nicht in Frieden gelassen. Und sie müssten nicht gleich bis ins alte Persien zurückdenken, um gewarnt zu sein, sie bräuchten sich bloß Napoleon anzusehen.«
»Vielleicht haben sie ja doch etwas gelernt«, sagte Albert. »Vergessen wir nicht, dass Ribbentrop und Molotow letztes Jahr im August einen Nichtangriffspakt unterzeichnet haben.«
»Es ist völlig undenkbar, dass der Krieg hierherkommt«, wiederholte Harald.
Sigurd erhitzte sich von neuem, doch Rita unterbrach ihn und wandte sich an Harald, bemüht, nicht wie eine geduldige Mutter zu klingen: »Es lässt sich unmöglich voraussehen«, sagte sie, »wie die Geschichte sich entwickeln wird.« Die Aussage veranlasste Harald zu einem neugierigen Seitenblick in Mauds Richtung, aber Rita fuhr fort, jetzt mit noch größerem Eifer. Denn was habe das Studium der Geschichte, der Perser, sie gelehrt? Ja, dass niemand genug Fantasie besäße zu sehen, dass das Undenkbare und Unwahrscheinliche geschehen könne, und das, obwohl es über die Jahrhunderte wieder und immer wieder geschehen sei. »Denken wir nur an den Juni 1914«, sagte sie. »Eine Idylle. Voller Glauben an die Zukunft. Wer hätte damals geglaubt, dass Europa vor einem vier Jahre andauernden Inferno stand, bei dem Millionen von jungen Männern in rattenbefallenen Schützengräben den Tod finden sollten? Im Juli lag die kaiserliche Yacht Hohenzollern noch in Sonnenschein gebadet vor Balestrand!«
Die Zeit. Wo waren die Jahre geblieben? In jenem Sommer war sie selbst in einem sonnenglitzernden Fjord gepaddelt, in einem Kajak, das Nansen für sie besorgt hatte. Achtzehn Jahre alt und voller Optimismus, war sie mit jugendlicher Kraft in dem kleinen Gefährt durchs Wasser geschossen und hatte von all den Reisen geträumt, die sie unternehmen würde, in den Osten, nach China.
Maud und Ragnhild schauten sie an. In ihren Blicken lag Zustimmung. Maud lehnte nicht ab, als Dagny ihr noch Cognac einschenken wollte.
Max lächelte dümmlich. Max mit seinen glatten, bibelschwarzen Haaren und dem jungenhaften Gesicht. Und es wiederholte sich: Seine Augen waren nicht auf ihr Gesicht, sondern in ihren Ausschnitt gerichtet. Wie um sich wieder zu fangen, beugte er sich nach vorn und sagte leise, damit nur sie es hören konnte: »Schade, dass du die Professorenstelle nicht bekommen hast, Rita.«
Also wusste er es.
»Ja, ich hätte geglaubt, ich würde vor einen akademischen Senat treten, nicht vor einen Ableger der Freimaurerloge«, antwortete sie ebenso leise. »Wieso kriegt ihr immer so eine Angst, sobald eine Frau euer Revier betritt?«
Weder Max noch sonst jemand hatte auch nur eine Ahnung davon, wie enttäuscht sie gewesen war. Dass sie eine Zeit lang nur im Bett herumgelegen war. Eine solche Gelegenheit würde sich ihr wahrscheinlich kein zweites Mal bieten. Um sich wieder aufzurappeln, musste sie auf den alten Befehl ihrer Mutter zurückgreifen, den sie ihr jedes Mal zugerufen hatte, wenn Rita zu Boden gegangen war – sei es durch ein Missgeschick, einen Misserfolg, oder weil ihre Brüder sie herumgeschubst hatten: »Steh auf! « Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, niemals zu jammern. »Steh aufrecht, Rita. Was auch immer dir widerfahren mag.« Dieses Diktum ihrer Mutter war für sie mit der Zeit zu einem Königinnengedanken geworden: die Idee der Femina erecta.
Max tat, als hätte er sie nicht gehört, wandte sich den jungen Damen zu und erklärte mit lauter Stimme, schon in der Grundschule habe Rita für die Perser Partei ergriffen. Lustig, nicht wahr?
Rita beschrieb mit dem Glas kleine Kreise in der Luft, als wolle sie ein Erinnerungsrad in Gang setzen, ehe sie zur Verteidigung ansetzte. Sie sagte, dies liege ausschließlich daran, dass alle so in die Griechen vernarrt seien, alles schwarz-weiß sähen. Und Max sei ja nicht im Klassenzimmer gewesen: Sie habe lediglich gefragt, ob der Lehrer mehr über die Perser, über ihre Kultur erzählen könne. Die Schüler hätten ja den Eindruck gewinnen müssen, diese Perser seien gemeine Banditen gewesen.
Es war, als ob der Cognacdunst ihr Gedächtnis stimulierte, denn auf einmal kehrte alles zurück. Die Schule. Der Ärger über den Unterricht. Musste Kyros der Große denn nicht auch ein fähiger Staatsmann gewesen sein, nicht nur ein außerordentlicher Krieger? In den Religionsstunden wurde er als Held besprochen, war er es doch gewesen, der den im babylonischen Exil lebenden Juden die Heimkehr ermöglicht und ihnen sogar die Errichtung eines Tempels erlaubt hatte. In den Stunden hatte Rita Fragen gestellt, nachgebohrt, war neugierig geworden auf Kyros und Dareios. Wie hatten sie es fertiggebracht, dieses riesige Reich, das größte, das die Welt bis dahin gesehen hatte, zu vereinen? Mussten sie denn nicht auch Großmut und Toleranz gezeigt, großes Geschick in der Organisation, bei der Gesetzgebung, im Straßenbau bewiesen haben? Und was war mit Xerxes geschehen, nachdem er aus Griechenland heimgekehrt war, er regierte noch volle 14 Jahre? Wie hatte es in den Städten Susa und Ekbatana ausgesehen? Stimmte es, dass die Mauern von Ekbatana in sieben verschiedenen Farben gestrichen waren? Der Lehrer hatte verzweifelt die Hände gehoben, oder Rita vielmehr zum Schweigen angehalten, aber Rita hatte nicht aufgegeben, wollte etwas über ihre Religion erfahren, nicht nur über den Zeus und die Athene der Griechen, sie wollte von Ahura und Mazda hören, wollte so viel wie möglich über die »Schurken« der Geschichtsstunden wissen. Das einzige Ergebnis war, dass sie gründlich zum Narren gehalten wurde, insbesondere, nachdem die Jungenklasse Wind davon bekommen hatte. Später jedoch, vielleicht aus Protest, hatte sie alles gelesen, was sie über persische Geschichte in die Finger bekam, und am Ende war sie, wie nur wenige aus Norwegen zu jener Zeit, nach Persien gereist, hatte die Ruinen von Persepolis besichtigt, und immer wieder kam sie seither auf etwas zurück, was sie ihren persischen Blick nannte, eine Offenheit für die größeren Maßstäbe, für andere Blickwinkel.
Xerxes. Ein Lehrsatz. Geschichte als Gleichung mit zwei Unbekannten.
Als Rita aus ihrer eigenen Gedankenwelt zurückkehrte, wirkte die Atmosphäre weniger angespannt. Sie achtete darauf, dass Dagny allen nachschenkte, deren Gläser leer waren, dass Harald Holz im Kamin nachlegte, und einige Minuten lang standen die Zeichen gut für ein zerstreutes Geplauder, die Gäste unterhielten sich in Zweiergruppen über Alltägliches. Doch dann, vielleicht wegen des Cognacs oder weil es unmöglich war, das Thema außen vor zu lassen, kehrte die Diskussion wieder zurück zu Norwegen und der Kriegsgefahr. Alle redeten laut durcheinander, und auch die jungen Damen brachten ihre Anschauungen ein. Nur Albert schwieg. Rita hatte den Eindruck, als ob ihn das alles eigentlich langweilte. Seine Schiffe waren auf allen Weltmeeren unterwegs, auf Meeren voller U-Boote, und er saß da und langweilte sich. Hatte sie nicht kürzlich erst gelesen, es seien bereits fünfzig norwegische Schiffe verloren? Oder täuschte sie sich? Schmiedete er, hinter seiner Maske, gerade einen Plan, wie er Dagny ins Schlafzimmer locken konnte? Man sollte nie unterschätzen, wie verblüffend einfach die Männer gestrickt waren.
Erneut beobachtete sie ihre Söhne in ihrem Wetteifern um das, was für sie der heilige Gral des Abends war, Mauds Aufmerksamkeit. Ragnhild musste das ebenfalls bemerkt haben, denn die meiste Zeit saß sie nur da und lächelte, als ob dieses ganze Drama sie amüsierte oder sie es als lehrreich und spannend empfand.
Rita hatte zu viel getrunken, setzte aber trotzdem das Glas nicht ab. Das Ganze fing langsam an, ihr zu entgleiten, allerdings war es ihr inzwischen egal, welchen Ausgang der Abend nahm.
Abermals ergriff Maud die Initiative: »Aber ihr Kulturbegeisterten …«, fing sie mit einer Handbewegung Max, Harald und Sigurd ein, »steht die Kultur diesem Unfug wirklich machtlos gegenüber?«
Albert gab einen Seufzer von sich und murmelte etwas über das idealistische Geschwafel der Künstler, wurde aber von Max unterbrochen: »Die Musiker versuchen wenigstens, etwas zu tun!« Er wirkte froh über die Gelegenheit, von dem Konzert erzählen zu können, das er Anfang der Woche in der Universitätsaula besucht hatte. Apropos Kriegsgefahr: Wenn die Deutschen wirklich in Norwegen einfallen wollten, hätten sie wohl kaum zuerst ihren besten Dirigenten geschickt. Oder was sie denn glaubten, zuerst Furtwängler und dann Bombenflugzeuge?, sagte Max. Wieder Gelächter. Max pries dieses Konzert in den höchsten Tönen, schwärmte hemmungslos von Furtwängler, von der Art und Weise, wie er die nicht gerade erstklassigen Musiker des Oslo Filharmoniske Orkester inspiriert habe. Nie hätten Haydn, Richard Strauss und Beethoven in einem norwegischen Konzertsaal besser geklungen. Der Höhepunkt jedoch sei mit der Zugabe erreicht worden, bei der Ouvertüre zum Tannhäuser von Wagner. Max schloss die Augen, dirigierte mit der Zigarette in der Luft, als höre er Strofen dieses Werks in seinem Kopf. »Nein, wenn sie eine Invasion bei uns im Sinn hätten, bräuchten sie dafür nur ihre überlegene Kultur!«, sagte er.
»Ist Furtwängler nicht Hitlers Lieblingsdirigent? Und Wagner der Komponist, den er am meisten schätzt?« Wieder Maud. Eine Falkin. Ließ Max nicht davonkommen. Es war, als gewahrte sie eine Verbindung zwischen dem Konzert in der Aula und einer drohenden Gefahr, einen Zusammenhang, den keiner der anderen sah. Rita ertappte sich dabei, Maud zu bewundern und einen Scharfsinn wiederzuerkennen, den sie selbst einst besessen hatte.
Max weigerte sich, seine Begeisterung zu dämpfen. »Eine Dosis deutscher Kultur würde uns wahrhaftig nicht schaden«, sagte er. »Oder deutscher Führung«, fügte er hinzu. Sogar Albert zuckte auf seinem Stuhl zusammen. »Wieso es nicht als Befreiung von unserer eigenen Untauglichkeit betrachten? Wir Halbbarbaren sollten uns glücklich schätzen, von der deutschen Kultur unter die Fittiche genommen zu werden. Wäre das nicht so, als wäre man im im Altertum von den Griechen erobert worden und hätte an der reichen hellenistischen Kultur teilhaben dürfen?« Er schaute Rita an, und in seinem Blick lag etwas Träumerisches. »Wer weiß? Vielleicht stehen wir hier vor einer echten Möglichkeit. Ein großer Sprung vorwärts, aufwärts. Nicht nur für die Kultur, sondern für die ganze Menschheit. Eine Veredelung.«
»Du gütiger Himmel … Jetzt gehst du zu weit, Max, sogar für deine Begriffe.« Rita hatte sich erhoben, weigerte sich zu glauben, dass er das wirklich ernst meinte, er war bloß betrunken. Trotzdem fühlte sie sich provoziert. Lauter, als sie es wollte, sagte sie, die Geschichte habe gezeigt, dass die Menschheit sich nicht auf ein höheres Ziel zubewege. Man brauche sich bloß Persien anzusehen. Auf alle drei Glanzzeiten folgte der Niedergang.
Albert war verschwunden. Rita sah vor sich, wie er in der Küche mit Dagny flirtete, sie womöglich zu etwas drängte, sie einzuschüchtern, zu verführen versuchte. Sie wurde aus ihrem Bruder nicht schlau. Sollte er sich nicht vielmehr um den Krieg sorgen und um das Schicksal seiner kostbaren Schiffsflotte?
Und was war mit dem Menschen?, wollte Max wissen. Konnte der Mensch denn nicht veredelt werden? Lächelnd schielte er zu der jungen Ragnhild.
Rita witterte eine neue Gefahr, lehnte sich schwer in ihrem Sessel zurück, obwohl sie eigentlich aufstehen und Max einmal so richtig durchschütteln sollte. Was er mit Veredelung meine? Sie bereute die Frage, denn es schwante ihr, dass dem Thema etwas Heikles, oder frei heraus gesagt, etwas Diabolisches anhaftete. Sie versuchte, Max’ Redeschwall am Rand ihres Bewusstseins abzukoppeln, denn zuallererst wollte sie sich auf die Tatsache besinnen, dass sie, die Familie, oder zumindest Teile der Familie, hier zusammengekommen waren, am Kamin saßen, den Zusammenhalt stärkten, tranken, Konversation führten, oder es zumindest versuchten.
Max’ Stimme holt sie wieder zurück: »Ich denke, wir sollten uns das Tierreich ansehen«, sagt er leichthin, und auch wenn sie von alldem nichts mehr hören will, ist es unmöglich, nicht doch den einen oder anderen Gesprächsfetzen aufzuschnappen, über die Natur, in der sich alles von selbst regulierte … dass die am wenigsten Geeigneten untergingen … dass nur die mit dem besten Erbmaterial überlebten … Die Aufregung in seiner Stimme steigerte sich immer weiter: Heute, in unserer Gesellschaft, kümmerten wir uns um alle und jeden, ganz gleich, wie schwach sie seien. Sie wollte nichts hören, aber es gelang ihr nicht, den gesamten Redeschwall auszusperren: … wenn die alle Kinder bekommen … es geht um die Zukunft … auch fähige Ärzte und Politiker … die Gefahr, dass uns, den Menschen, eine Degenration bevorsteht. Sagte er das wirklich? Auf jeden Fall saß er hier, in ihrem Wohnzimmer, und erklärte, wir sollten selbst steuern, wer sich fortpflanzen dürfe. Warum sollten wir nicht ein bisschen an uns selbst herumbessern, an unserer eigenen Rasse? Wieso den Zufall regieren lassen? Immerhin würden ja auch ständig neue Getreidesorten, Kühe und Schweine gezüchtet.
Rita spürte ihre Wangen erröten: »Du vergisst einen nicht ganz unwesentlichen Aspekt, Max. Der Mensch ist keine Kuh und kein Schwein.«
Und er: »Nein, aber was sollte falsch daran sein, die Geistesschwachen oder regelrecht Geistesgestören zu sterilisieren? Unvorteilhafte Erbeigenschaften zu beseitigen?«
Albert war ins Zimmer zurückkehrt, er wirkte mürrisch, wie er da breitbeinig hinter den Jungs stand: »Sag’s doch einfach frei heraus, Max. Du spielst auf die Rassenhygiene an oder auf das, was wir mit einem schöneren Wort Eugenik nennen. Gibt es nicht drüben in Uppsala eine Einrichtung, die sich Institut für Rassenbiologie nennt! Vom Reichstag anerkannt. Die Schweden waren uns ja immer schon weit voraus.«
»Mir gefällt das Wort ›Erbhygiene‹ besser«, sagte Max. »Dabei geht es darum, zum Beispiel geistig Zurückgebliebene am Kinderkriegen zu hindern.«
Albert, wie aus einem Hinterhalt: »Das solltest du bedenken, wenn es um Bjørg geht, Rita.«
Das stach. Der Schmerz. »Schweig still! Wie kannst du es wagen …« Rita erhob einen warnenden Zeigefinger gegen den Bruder. Gewiss, sie hätte sich erheben, auf den Boden stampfen sollen, rechnete allerdings nicht damit, dass irgendwer seine grotesken Worte ernstnahm.
Ragnhild, die schläfrig wirkte, richtete sich in ihrem Stuhl auf und fragte vertrauensselig, vielleicht weil sie bald Krankenschwester sein würde: »Sind manche Menschen etwa weniger wert als andere?«
Maud reagierte ebenfalls: »Was Sie da sagen, Herr Qviller, ist gelinde gesagt ungeheuerlich. Meinen Sie, wir sollten anfangen, erwünschte Individuen von unerwünschten auszusortieren, Menschen zu beseitigen wie Unkraut aus dem Blumenbeet?«
Max: »Ich darf daran erinnern, dass eben erst ein neues Sterilisationsgesetz verabschiedet wurde … Es ist mit eindeutiger Mehrheit angenommen worden.«
Max redete wieder wie aufgezogen, Rita verschloss die Ohren, hörte nur einzelne Worte. Wichtig, sagte er. Freiwillig, sagte er. Das Beste für das Gemeinwohl, sagte er. Rita fühlte sich allmählich schwindlig. Mit der Einwilligung der Angehörigen, hörte sie. Zur Verbesserung der Bevölkerung, hörte sie. Kommende Geschlechter. Sie musste ihn stoppen: »Was kommt als nächstes, Max? Willst du dich als Zuchthengst melden?« Sie fühlte sich krank, krank von allem, was Max sagte. Und in dem Wissen, dass viele sich heute nicht eingestehen würden, dass solche Ideen einst unter den Menschen verbreitet waren, beeilen wir uns hinzuzufügen: Alles hier Erwähnte kann als repräsentativ gelten für diese Zeit. Auch für Norwegen. Die Ōuzhōu-Gruppe, die ihre Formulierungen gern auf die Spitze treibt, spricht von einer »skandalösen Anzahl an Sterilisationen in Norwegen im Zeitraum von 1930–1970«. Siehe auch Norwegens dunkles Geheimnis von Fira Hardjono (Yoguakarta Y-1013).
Max bedachte sie mit einem mildtätigen Blick: Du verstehst nicht, setzte er nach. Ganz elementar, setzte er nach. Menschen, die nie Kinder bekommen dürfen, setzte er nach. Die Weitergabe schlechten Erbguts verhindern. In einem seiner Mundwinkel hatte sich Speichel angesammelt.
Rita blickte verzweifelt um sich, gewahrte das Kristall des Kronleuchters, das Silber der Kandelaber, Gemälde in vergoldeten Rahmen, die außergewöhnliche Tapete mit ihrem diskreten Muster, und spürte, wie das alles von diesen Worten besudelt wurde und Missmut sich in ihr breitmachte. Wie unpassend, wie barbarisch war solche Rede in einer Villa, von der sie einmal gehofft hatte, sie würde sich zu einem Zentrum norwegischer Bildung, einer radikalen Variante der Ideen des Lysaker-Kreises entwickeln.
Albert saß nur noch da und lachte gedämpft, schenkte sich Cognac nach, für ihn war die Diskussion offenbar eine köstliche Unterhaltung, eine willkommene Abwechslung zu seinen Werftbestellungen. »Wie ich schon sagte, Rita. Du musst auf Bjørg aufpassen. Max hat recht. Wenn einer sie will, und sie bekommt Kinder, ist es äußerst schlecht bestellt um unsere Sippe.« Er ließ ein hässliches Lachen hören, fast wie ein Husten.
»Albert!« Wieder ein ohnmächtiger Zeigefinger gegen ihren Bruder. Damit war alles gesagt.
Etwas war mit der Atmosphäre im Zimmer geschehen. Rita wandte sich um und entdeckte Bjørg in der Türöffnung zum Wohnzimmer. Das schwarze Haar zerzaust, medusenhaft. Die beiden Söhne blond, die Tochter dunkel. Rita wusste nicht, wann Bjørg heimgekommen war, wie lange sie schon dort stand, völlig still, und dem Gespräch zuhörte.
Das Schlimmste war, dass Rita sich schon des Öfteren gefragt hatte, ob es sein konnte, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte. Bjørg war von der ruhigen Sorte, viele fanden sie seltsam. Ihr Gang war schwer und gebeugt, und oft stand ihr Mund offen, wie bei einer Zurückgebliebenen. In der Schule hatte sie sich schwergetan. Jetzt hatte sie immerhin einen Freund, aber ob sie Kinder bekommen sollte?
Bjørg kam mit wuchtigen Schritten ins Zimmer, griff sich einen der Holzscheite aus dem Kamin und hielt ihn am verkohlten Ende, während der oberste Teil immer noch brannte. Es sah aus, als hielte sie eine Fackel in der Hand. Rita wollte etwas tun, wollte sie um Entschuldigung bitten, Worte finden, mit denen sie ihre Tochter beruhigen konnte, doch es geriet alles durcheinander, sie saß da wie gelähmt, denn Bjørg stand mit dem brennenden Holzstück einfach nur da und hielt es in die Höhe, als wolle sie etwas sagen oder als sei die Tatsache, dass sie diese Fackel hochhielt und sich dabei absichtlich verletzte, selbst schon eine Aussage. Für Rita sah es aus, als ob es Bjørg sei, die brannte. Als wäre sie selbst die Fackel.
»Ihr liegt alle falsch!«, rief sie. »Der Weltkrieg hat schon begonnen. Er hat im November vor anderthalb Jahren begonnen. In der Nacht, als die Nazis in Deutschland die Synagogen niederbrannten.«
Max blieb unbeirrt sitzen, murmelte wie zu sich selbst: »O, diese Juden, diese Juden.«
»Bjørg, leg das weg!«, rief Ragnhild. »Kümmere dich nicht drum, was die sagen!«
»Sei vorsichtig, sonst verbrennst du dich noch!«, rief Maud.
Beide streckten die Arme aus wie in einem Versuch, sie zu erreichen.
Nur Albert handelte, er war vom Stuhl aufgesprungen und auf dem Weg zu Bjørg, wie um zu verhindern, dass sie die Fackel durchs Zimmer warf und die Gardinen in Brand steckte. Doch dann schleuderte sie das Holzscheit einfach zurück in den Kamin, dass die Funken stoben, ging rasch auf Max zu und verpasste ihm mit der flachen Hand eine Ohrfeige, so dass auf seiner Wange schwarze Rußstreifen zurückblieben.
»Jemand muss diese geistesgestörte Weibsperson einsperren!«, rief er.
Albert hatte seine Ruhe wiedergefunden. »Was kann erquickender sein als eine Ohrfeige von einer temperamentvollen Frau?«, scherzte er und erhob das Glas in Bjørgs Richtung, bevor diese wieder hinaus und nach oben in ihr Zimmer verschwand. Und als sei nichts vorgefallen, kehrte er zum Thema des Abends zurück: Die Herrschaften bräuchten keine Angst zu haben, Norwegen sei schlichtweg uneinnehmbar. Die Landschaft sei eine einzige große Festung. »Den Feind in die Berge locken, und unsere Skiläufertruppen machen ihnen den Garaus! Skål!«
»Jesses, wir haben Skiläufertruppen«, sagte Max und rieb sich mit einem Taschentuch Ruß von der Wange.
Rita wollte Bjørg hinterhergehen, sah aber, dass Dagny bereits auf dem Weg die Treppe hinauf war, um sich um sie zu kümmern. Keiner konnte besser mit Bjørg umgehen als Dagny. Rita blieb sitzen.
Bjørg. Immer war irgendetwas mit ihr. Ein Kummer, der kein Ende nahm.
Versuchen, sich keine Sorgen zu machen. Versuchen, an etwas anderes zu denken.
Aber was war das bloß mit diesen Männern, die einfach mir nichts, dir nichts drauflosbrüllten? Wie konnten sie so schrecklich verletzende Dinge sagen, nur um sie im nächsten Moment wieder zu vergessen? Oder über Krieg schwatzen, als handle es sich um einen vergnüglichen Zeitvertreib? Rita erkannte, dass dies, diese männlichen Kriegsfantasien, außerhalb ihrer Auffassungsgabe lagen. Eine Krokodilmentalität. Und schlimmer: außerhalb ihres Einflussbereichs. Oder war es schlicht so, dass den Frauen, allen Frauen Europas, jene Gemeinschaft, jene Allianz fehlte, die diese gewaltsamen, diese maskulinen Pläne zu beeinflussen vermochten? Rita merkte, wie sie kopfschüttelnd und still sitzen blieb. Sogar diese Feier wurde vollkommen von Männern dominiert, den erwachsenen mit ihrer Erhabenheit, den beiden jungen mit ihrer Kampfeslust und ihrer natürlichen Selbstsicherheit. Ragnhild, obwohl jünger als sie, stand ihnen an Klugheit in nichts nach, aber sie ließen ihr keine Chance. Trotzdem konnte Rita nicht anders, als zu glauben, dass die beiden jungen Damen es einmal leichter haben würden als sie, niedrigeren Schwellen begegnen würden. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, war sie sich schon wieder nicht mehr so sicher.
Wo war Maud? Rita stand auf und ging in den Vorraum. Hatte sie das Haus verlassen? War das ein Protest? In der Halle, bei der Treppe, traf sie auf Albert. »Du kannst dich wieder entspannen, Dagny ist gerade nicht in der Küche«, sagte sie. »Gib’s auf.« Er überhörte, was sie sagte, glotzte an die Decke und machte eine Bemerkung über das Haus, das seiner Meinung nach zu verfallen beginne, weil es an Instandhaltung mangle. Ja, erwiderte sie, genau an der Stelle blättere großflächig die Farbe ab, und das sei ärgerlich, weil dadurch die schönen Dekorationen zu verschwinden drohten, ansonsten aber sei es wohl nicht so schlimm? Was er damit sagen wolle? Ob er etwa damit ausdrücken wolle, dass sie ihr gemeinsames Erbe verkommen lasse, ein Haus, das übrigens jetzt ihr allein gehöre?
Als ob das eine Antwort wäre, fragte er wie nebenbei, ob er ihr dabei behilflich sein solle, die Villa zu verkaufen. Ob das denn eine Bleibe für die Zukunft sei? Hätte die Gegend inzwischen nicht viel von ihrem Charme verloren?
Er hatte zu viel getrunken. Genau wie sie.
Warum aber redete er auf einmal so abschätzig über das Viertel? Hatte er vergessen, wie stolz er in seiner Jugend gewesen war? Er hatte behauptet, Lysaker sei eine Art Jotunheimen der Kultur. Ein Nationalheiligtum. Einmal hatte er eine Karte von Lagåsen gezeichnet und bei vielen der Häuser Zahlen hineingeschrieben. Zuunterst konnte man außerdem bei jeder Zahl sehen, wer in dem jeweiligen Haus wohnte. Er hatte versucht, die selbstgezeichneten Karten für zehn Øre am Bahnhof Lysaker zu verkaufen.
Mauds Jacke hing noch an ihrem Platz, und Rita beeilte sich hinein und ließ ihren Bruder an die Decke starrend zurück. Vor der Türöffnung zum Wohnzimmer hielt sie einen Augenblick inne und beobachtete Sigurd, Harald und Max, die nahe am Kamin standen und deren Gesichter im Widerschein der Flammen garstig verzerrt aussahen, lauschte einige Sekunden dem hitzigen Wortwechsel, immer wieder dieselben Wörter … Nrrwgn … unsere verdammte PFLICHT … Der König, verflucht noch eins, der KÖnig … Diedeutschensindunserefreunde … Gwissen … Vaaatrland … Zur Tat … TAT … Eidsvoll, Scheiße nochmal … DOvre, zum Henker … Eeeehre … Kng HAAkon!! Für Rita hörte »Tat« sich an wie »tot«, und das war nun also der Zeitpunkt, als sie zu dem Schwert aus Toledo hinaufschielte und ernsthaft darüber nachsann, ob die flache Klinge sich dazu verwenden ließe, gewissen Leuten eins auf den Allerwertesten zu verpassen. Stattdessen aber wandte sie sich dem Garten zu, und genau in dem Moment, als sie im Fensterglas ihrem eigenen Gesicht begegnete, spürte sie, wie aller Optimismus aus ihr entwich. Sogar in dem dunklen Glas konnte sie die Falten sehen. Die Zeit. Der Teufel soll sie holen, die galoppierende Zeit. Als sie noch jung war, wollte sie nach China reisen, hatte aber nur die Hälfte des Weges geschafft. Ihre Karriere war ins Stocken geraten. Die Kinder machten Probleme, alle drei hatten ihr eigenes Bündel zu tragen. Das große, prächtige Haus verfiel um sie herum. Noch nicht einmal eine Ente konnte sie braten. Obendrein war sie betrunken und hatte die Kontrolle verloren. Obwohl Albert es nicht laut aussprach, wusste sie, was er meinte: Sie war eine Verliererin.
Oh, wie sie sich auf diese Party gefreut hatte. Jetzt wollte sie nur noch allein sein und mit einer Tasse Darjeeling in dem tiefen Ohrensessel sitzen. Sie öffnete die Tür und trat hinaus auf die Terrasse. Mmm, was für eine Erleichterung. Eine Abendluft, die augenblicklich die Sinne schärfte. Sie entdeckte frische Spuren in dem nicht sonderlich tiefen Schnee, sah sie weiter den Garten hinab verschwinden. Sie machte sich nicht die Mühe, Schuhe für draußen anzuziehen, folgte den Fußabdrücken, von denen sie annahm, dass sie von Maud stammten und die bis zu dem kleinen Abgrund hinunterführten. Sie kam an der riesigen Eiche vorbei, im Winter noch schöner, ohne Blätter und mit Plattformen versehen, die von Kindern, auch von ihr, in verschiedenen Höhen in den Baum gebaut worden waren. Die Temperatur war gegen null gesunken. Der Himmel war wolken- und mondlos und voller Sterne.
Sie entdecke Maud auf der Mauereinfriedung, balancierend wie ein kleines Mädchen, nicht wie eine erwachsene Frau im Abendkleid. Bei dem Geräusch von Ritas Schritten wandte sie sich um. »Pass auf, da geht es steil runter«, sagte Rita, sie sagte es ruhig, wollte ihre Angst verbergen. Maud bog ihren schlanken Körper durch und beugte sich hintüber. Rita hatte den Eindruck, dass das für sie ein Spiel war, vielleicht mit dem Schicksal, dass sie vielleicht nichts dagegen hätte zu fallen und sich, mit ein bisschen Pech, das Genick zu brechen.
»Hast du geweint?«, fragte Rita. »Ist irgendwas?«
Maud schüttelte den Kopf. »Ich habe nur ein bisschen Luft gebraucht«, sagte sie. »Ich bin gern draußen. Was für ein reizendes Anwesen! Sie sollten sich glücklich schätzen.«
Es wirkte, als wolle sie etwas überspielen – das Heitere und Lebhafte, das Rita mit ihr verband, war verschwunden. »Hattest du eine anstrengende Tour zu der Hütte im Krokskogen letztes Wochenende?«, fragte Rita aus einer Ahnung heraus, irgendetwas könnte dort vorgefallen sein. »Sigurd hat erzählt, er hat dich besucht. Hat es nicht stark zu schneien begonnen?«
Maud hätte beinahe den Halt verloren. Rita ergriff ihre Hand. »Dir ist kalt«, sagte sie. »Lass uns zurückgehen.«
Maud war drauf und dran, etwas zu sagen, hüpfte aber stattdessen schweigend von der Mauer. Rita gefiel nicht, was sie ganz plötzlich an der jungen Frau erblickte. Sie hoffte inständig, Maud würde dieser Funke in ihrem Blick erhalten bleiben. Niemals verlöschen.
Auf dem Rückweg hörten sie das Gezanke bereits durch die offene Terrassentür. Als sie ins Wohnzimmer traten, standen die Jungs gefährlich nah beieinander. Harald, der sich weiterhin für Neutralität und Frieden starkmachte, drohte ironischerweise seinem Bruder mit der Faust.
»Du warst schon immer ein verdammter Feigling!«, rief Sigurd. Er hatte während der ganzen Feier nur Rotwein getrunken, und als ihm schließlich die Argumente ausgingen, schüttete er das, was sich noch in seinem Glas befand, Harald ins Gesicht, genauer gesagt, er traf nicht sein Gesicht, sondern seine weiße Hemdbrust, so dass es auf einmal aussah, als sei er verwundet.
»Ich lasse mich nicht provozieren«, sagte Harald. »Ich bin Pazifist. Nachdem ich am Truppenübungsplatz die Schießscheiben in Fetzen geballert hatte, habe ich mir geschworen, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen.«
»Und was würdest du tun, wenn genau in diesem Augenblick ein Deutscher hier hereinkäme und Mutter ins Visier nähme?« Sigurd ließ den Blick umherschweifen. »Oder Maud? Würdest du nicht wenigstens dieses Schwert da von der Wand nehmen?« Er deutete mit dem Daumen zum Kamin.
Wie zur Antwort rannte Harald hinüber, riss das Schwert von der Wand, mit einer Heftigkeit, dass Schrauben und Mauerverputz herabrieselten, und zog es aus der Scheide. »Jetzt lässt du also den Säbel rasseln«, lachte Sigurd. Rita bekam es mit der Angst zu tun, trat einen Schritt auf Harald zu und hob abwehrend die Hände, doch ohne sie zu beachten, schlug er die Klinge mit voller Kraft gegen eine der gusseisernen Stangen des Kamins, wie in einem gewaltsamen Versuch, eine Waffe unbrauchbar zu machen. Nichts passierte. Es handelte sich um Stahl aus Toledo, allgemein bekannt für seine Geschmeidigkeit und Härte. Er verzog das Gesicht, weil ihn die Hand schmerzte. Das machte ihn nur noch rasender, er setzte das Schwert mit der Spitze auf dem Fußboden auf, stellte sich mit der Schuhsohle auf die Klinge und versuchte mit seinem ganzen Gewicht, sie zu verbiegen. Vergebens.
Sigurd krümmte sich vor Lachen. »Wird echt schwer werden, den Frieden zu sichern, wenn nicht einmal ein uraltes Schwert einen Kratzer von dir abbekommt.«
»Schluss mit dem albernen Gerede, alle beide!«, rief Maud. Etwas Hartes lag in ihrem Blick. Etwas Neues, dachte Rita.
Harald sah jetzt noch verletzter aus. Nicht nur gab der Rotweinfleck ihm den Anschein, als sei er in einen Fechtkampf verwickelt gewesen, sondern jetzt blutete er auch noch wirklich, er musste sich bei dem Versuch, die Klinge zu verbiegen, in die Handfläche geschnitten haben.
Rita hatte die Tulpen in zwei Vasen gesteckt. Die eine stand auf dem Esstisch, die andere auf einem Tischchen neben dem Kamin, und jetzt fegte Harald die eine davon mit dem Schwert herunter, so dass sie auf dem Fußboden zerbrach und die Blumen überall verstreut zu liegen kamen. Ragnhild stürzte nach vorn und fing an, die Tulpen aufzulesen, als wolle sie wenigstens die Blumen vor der Zerstörung bewahren.
Ich muss etwas tun, dachte Rita. Ich muss etwas sagen. Ich muss dazwischen gehen. Ich muss sie zur Vernunft bringen.
Doch sie blieb einfach stehen. Kraftlos. Als wüsste sie, dass es nichts bringen würde. Oder als ob sie gar nicht da wäre. Alles von oben herab betrachtete.
In der Zwischenzeit hatte Harald sich auf Sigurd gestürzt, wurde jedoch von seinem Onkel weggezerrt. »Wenn ihr zwei Rotzbengel euch schon prügeln müsst, dann geht wenigstens nach draußen«, sagte er, als ob der ganze Zwischenfall ihn amüsierte oder er nur zu gern Zeuge eines realen Kampfes würde.
Rita glaubte schon, sie hätten sich dadurch beruhigt, aber sie taumelten aufgehetzt hinaus auf die Terrasse und weiter in den Garten hinunter, wo sie aufeinander losstürzten wie zwei kleine Jungs. Maud war ihnen gefolgt, und obwohl Rita nicht hörte, was sie sagte, hatte sie den Eindruck, dass sie sie ausschalt.
Rita wurde von Verzweiflung übermannt. Einer Verzweiflung, die zugleich eine Lähmung war. Sie stand im Wohnzimmer und beobachtete die Balgerei durch das Fenster, als wäre es eine Leinwand, auf der sie einen Film sah, der sie nichts anging. Aber es ging sie an. Hatten sie nicht vor wenigen Jahren erst in ähnlichen Pullovern fröhlich dort nebeneinander gelegen und Engel in den Schnee gezeichnet?
Die Zeit.
Sie sollte hinauslaufen und sie am Genick packen. Trotzdem stand sie nur da. Passiv. Verachtenswert passiv.
Endlich schaffte sie es nach draußen und stellte sich neben Maud, die nichts mehr sagte. Die aufgegeben hatte. So standen sie nebeneinander, zwei Frauen, und sahen zu, wie zwei junge Männer mit den Armen herumfuchtelten und Blutflecken im Schnee hinterließen. »Aufstehen!«, rief Rita, obwohl auch ihre Zunge betäubt wirkte, ihr nicht recht gehorchen wollte. »Aufhören!«, rief sie, aber sie hörten nicht auf, und obwohl sie sich dagegen sträubte, obwohl sie sich sagte, dass sie sich darüber erheben müsse, über den Anblick zweier Männer, die auf dem Boden herumkrabbelten, sich umeinanderschlängelten, fluchten und schimpften, spürte sie, wie ihr ganzer Körper von Scham erfüllt wurde. Nein, nicht von Scham. Von Verachtung. Für ihren Bruder. Für Max. Sogar für ihre eigenen Söhne.
Am Ende lagen beide auf dem Rücken, die Augen geöffnet. Wie in Nachdenklichkeit versunken beim Anblick der Sterne über ihnen. Als hätten sie sich spontan der Worte Omar Chayyāms erinnert, welche besagten, dass die Menschen ihr eigenes Schicksal bestimmten. Auch Sigurd blutete jetzt, an einer Augenbraue und aus der Nase.
Sie standen auf und bürsteten sich den Schnee von den Kleidern. Sigurds Jacke war zerrissen. Ragnhild – die arme Ragnhild, die diese Rohheit mit ansehen musste – half den beiden. »Komm mit rauf ins Bad, dann kann ich einen Verband um den Schnitt in deiner Handfläche wickeln«, sagte sie zu Harald. Von der Terrasse aus sah Rita, dass sie Dagny begegneten, die gerade auf dem Weg die Treppe herunter war. Wie sie Dagny kannte, hatte sie Bjørgs Brandwunde nach allen Regeln der Kunst versorgt.
Wo war Max?
Max musste geglaubt haben, in dem ganzen Trubel hätte ihn keiner bemerkt. Rita entdeckte ihn am Rand der Terrasse, im Halbdunkel. Da stand er, der Professor für Kunstgeschichte, Autor eines neuen Buchs über das Renaissancegenie Albrecht Dürer, und pinkelte an eine Säule. Wie ein Hund im Smoking, dachte sie. Mit dem Unterschied, dass er dabei grinste und fröhlich mit sich selbst redete. Und mit einem Mal begriff sie, dass Max etwas damit zu tun hatte, dass sie die Professur nicht bekommen hatte. Es vielleicht sogar eigenhändig verhindert hatte. Von anderen hatte sie gehört, er habe mehrmals die Ansicht geäußert, Frauen seien für höhere akademische Stellen ungeeignet. Das weibliche Nervensystem sei unvereinbar mit den universitären Ansprüchen nach harter, zielgerichteter Arbeit. Ja, natürlich. Max hatte die Fäden in der Hand gehabt, genauso, wie er sie schon früher in der Hand gehabt hatte. Diese Sphäre wurde von einem männlichen Netzwerk beherrscht, das sie nie zur Gänze zu Gesicht bekam.
Um ihre Wut zu verbergen, ging sie kurz hinein, um Dagny zu sagen, dass sie nach Hause gehen könne. Ob Albert ihr lästig geworden sei?
»Nur ein bisschen«, antwortete Dagny mit einem Lächeln. Dieser gesegnete Mensch.
Max huschte vorbei. »Ich habe nie verstanden, warum aus uns beiden nie etwas geworden ist, Rita. Ehrlich. Warum so widerspenstig? Es ist nicht zu spät.« Er nuschelte, und auch jetzt war sein Blick nicht auf ihre Augen, sondern schamlos weiter nach unten gerichtet.
Sie überlegte, ob sie ihm, wie Bjørg, eine Ohrfeige verpassen sollte, konnte sich aber zurückhalten.
»Ein Rat von einem Freund, Rita. Sieh zu, dass Bjørg nicht so viel mit Esther Becker zusammen ist. Jüdische Freunde zu haben ist kein kluger Schachzug in diesen Zeiten.«
Jetzt scheuerte sie ihm eine, bereute es aber sofort.
Max befühlte mit zwei Fingern seine Wange, während sein Blick sich verdunkelte. »Kein Wunder, dass du die Stelle nicht bekommen hast«, sagte er. »Du hast es nicht in dir. Ich sage das nicht, weil ich gemein sein will. Es ist einfach die Wahrheit.« Kurzes Lachen. Dann verschwand er.
Auf dem Weg ins Vorzimmer zur Verabschiedung der Gäste, entdeckte sie Albert. Er war wieder zurückgekommen und in den Garten hinausgegangen. Er stand im Frack direkt unterhalb der Terrasse, rauchte und starrte zum Horizont, wie nach einem Zeichen, nach einer Antwort suchend für etwas, worüber er nachdachte.
Rita ging zu ihm hinaus. »Fährst du heute Abend noch nach Sandefjord?«, fragte sie. »Hast du deinen Chauffeur mit?«
»Natürlich«, antwortete er. »Er ist aus Lysaker und hat die Gelegenheit genutzt, um seine Eltern zu besuchen, während wir es uns hier gemütlich gemacht haben. Ich habe ihn angerufen, er ist auf dem Weg. Wir übernachten in der Stadt.«
Er besaß zwei Wohnungen in Oslo, von denen er die kleinere Sigurd für die Dauer seines Studiums zur Verfügung gestellt hatte. Harald hatte nicht dasselbe großzügige Angebot bekommen.
Albert wandte sich zu ihr. »Verzeih mein ungehobeltes Benehmen«, sagte er. »Ich bin zurzeit nicht ganz ich selbst. Es tut mir leid. Und ich hätte Max nicht mitnehmen sollen, ich wusste ja, dass ihr beide nicht gut miteinander könnt. Danke für den schönen Abend, er war, wie soll ich sagen, aufmunternd. Das habe ich wirklich gebraucht, mal wieder ein bisschen rauszukommen. Und immer mit der Ruhe: Es wird hierzulande keinen Krieg geben. Auch nicht mit so kampfeslustigen Jungspunden wie Sigurd. Oder zweifelhaften Typen wie Max.«
»Du solltest nicht so von deinem Freund sprechen.«
»Dass er mein Freund ist, macht ihn nicht weniger zweifelhaft. Und vergiss nicht: Lange Zeit war er auch dein Freund.«
Sie blieb stehen und sann darüber nach. Ja, es stimmte.
»Max geht es nicht gut«, sagte Albert. »Es ist ihm nie wirklich gut gegangen. Wir hätten uns besser um ihn kümmern müssen.«
Sie verstand nicht, was er meinte. »Kannst du Maud mit in die Stadt nehmen?«, fragte sie.
»Ich habe ihr bereits eine Mitfahrgelegenheit angeboten«, sagte ihr Bruder.
Sie schlenderte ins Haus, fand ihre Söhne im Vorzimmer, zusammen mit Ragnhild und Maud. Die Jungs mussten die Angelegenheit geklärt haben, sie kamen auf sie zu, schuldbeladen. »Entschuldige, Mutter, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist«, sagte Harald. »Ein unverzeihliches, törichtes Benehmen«, sagte Sigurd. Beide umarmten sie.
So standen sie eine Weile. Hielten sie umarmt. Wieder wurde Rita unsicher. War das echt? Oder taten sie das nur, weil Maud zusah?
Sigurd lief Max hinterher, der einen Wagen bestellt hatte. Harald würde bei einem Freund in Lilleaker übernachten und wollte laufen. »Ich brauche ein bisschen Abkühlung«, sagte er. »Entschuldige noch einmal, Mutter, das war peinlich.« Er versuchte zu lächeln, nickte Maud zu, bevor er sich verabschiedete.
Albert tauchte auf und fragte, ob die jungen Damen soweit seien. Ragnhild umarmte Rita. »Danke, Tante. Und der Karamellpudding war sogar besser als der von Großmutter«, sagte sie. »Ich hoffe, wir werden uns wiedersehen«, sagte Maud und fasste Rita feierlich an der Hand, was in Rita die Frage aufwarf, ob sie die junge Frau je wiedersehen würde.
Kurz darauf waren die letzten drei Gäste Schatten am Tor.
Die Sekunden tickten. Sie konnte sich nicht bewegen. Plötzlich war der Boden, auf dem sie stand, aus zerbrechlichem Glas, das jederzeit bersten konnte. Ohne recht zu wissen, warum, eilte sie fast fluchtartig ins Haus auf die kleine Toilette im Anschluss an die Treppenhalle, als handle es sich um einen Sicherheitsanker. Sie setzte sich auf den Klodeckel und blieb still darauf sitzen. Sie nahm den Duft des Seifenstücks auf dem Waschbecken wahr. Lavendel. Dann kamen die Tränen. Sie flossen so stark, und trotzdem beinahe lautlos, dass sie sich, um nicht herunterzufallen, am Klodeckel festhalten musste. Sie ließ es einfach kommen, nahm sich die Zeit, die sie brauchte. Sie wusste nicht, was in ihr vorging. Doch, sie wusste es. Nein, sie wusste es nicht. Die Tränen flossen, sie zitterte am ganzen Körper. Sie blickte zu Boden und sah, wie die Tränen kleine, nasse Flecken auf den Keramikfliesen bildeten, auf dem schönen Mosaikboden, den ihr Vater seinerzeit mit liebevollen Händen verlegt hatte, und beim Gedanken an ihren Vater weinte sie noch heftiger.
Wir geben zu, es mag merkwürdig erscheinen, dass diese Person, eine Frau, die an ihrem 44. Geburtstag weinend in einem kleinen Raum sitzt, als ein wichtiges Teilstück betrachtet werden kann in der Geschichte, die ein Licht werfen soll auf die Stärke und die Dynamik der Long-Dynastie, jedoch befindet Rita Bohre sich an dieser Stelle an einem Tiefpunkt, und aus diesem Tiefpunkt heraus wird sie wieder emporsteigen, ja, nur wenige Sekunden später schon gelingt es ihr, sich zusammenzureißen und den Blick zu heben, denn auf dem Regal über dem Waschbecken lag ein Stein. Sie platzierte diesen Stein immer an verschiedenen Stellen im Haus, damit er ihr gewissermaßen unverhofft begegnete, ihr seine Geschichte in Erinnerung rief. Sie beugte sich nach vorn, und im selben Augenblick, als sie ihn umfasste, wurde das Zittern weniger. Zärtlich strich sie mit ihrer Hand über den Stein. Doch es war gar kein Stein, sondern ein Fossil. Ein Trilobit aus dem Ordovizium. Sie nannte ihn Asaphasus. Unzählige Male hatte sie ihn in der Hand gehalten. Ein archimedischer Punkt. Ein persischer Blick, verzehnfacht. Zugleich eine schwindelerregende Frage: Wird auch der Mensch womöglich einst so betrachtet werden, wie wir heute das Fossil eines Trilobiten betrachten, dessen letzte Art vor 250 Millionen Jahren ausgestorben ist?
Bjørg musste heruntergekommen sein und sich trotz der Brandwunde ans Klavier gesetzt haben. Rita hörte sie etwas Einfaches spielen, unendlich klar und gleichsam von der Tiefe eines Sternenhimmels, es hörte sich nach Bach an, wiewohl Bjørg eigentlich alles auf ihre ganz eigene Weise spielte, irgendwie nach Gehör, doch es klang wie Bach, wie eine seiner Inventionen. Als ob alles von neuem begänne, aus etwas Grundlegendem und Selbstverständlichem heraus.
Eine wundersame Ruhe breitete sich in ihrem Körper aus. Eine Ruhe, wie sie nach großen Gemütsbewegungen entsteht. Sie lauschte dem Klavierspiel. Ein ABC der Töne. Die Ängstlichkeit, die sie seit mehreren Tagen verfolgte, verflog allmählich. Auch deshalb, weil sie tief in ihrem Innern wusste, dass nichts passieren würde. Eine britische oder deutsche Invasion in Norwegen war einfach zu undenkbar.
Steh auf!, dachte sie.