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IHRE STOLZESTE STUNDE

I

Überall waren Menschen. Auf den Landungsbrücken, in den Straßen und auf dem Platz vor den Landungsbrücken, Menschen auf dem Hang und dem Festungswall dahinter, sogar auf dem Dach des noch nicht fertiggestellten Rathauses standen Menschen; es war ein Spektakel, das seinesgleichen suchte, ein Sturm der Begeisterung hing in der Luft, Lachen, Grüße, Hurrarufe, in erster Linie Hurrarufe, einzeln und unisono, die Stadt war von Stimmen erfüllt, denen kein leises Sprechen gelingen wollte, die viel zu lang leise gesprochen hatten und die nunmehr jubilierten, ihre Gefühle zum Ausdruck bringen wollten, es war wie auf einer gigantischen Sportveranstaltung, nur galten die Anfeuerungen nicht Sportlern oder Sportlerinnen, sondern dem Frieden. Es war wie ein Rausch, aber vor Glück; etwas in den Herzen der Menschen blühte auf wie die Blätter an den Laubbäumen, die jetzt aus ihren Knospen quollen. Es war Mai, es war der schönste Monat im Jahr, es war die schönste Zeit in der Geschichte der Nation, und Sigurd wusste, dass dies ein Tag für die Ewigkeit war, ein Tag, der viele Fotografien hervorbringen würde, Bilder, die in den Geschichtsbüchern Eingang finden würden, und er wusste, die Menschen würden vor Ergriffenheit einen Kloß im Hals bekommen, wenn sie Jahrzehnte später diese Bilder sähen, selbst jene, die an diesem Tag nicht dabei gewesen waren, es nicht selbst miterlebt hatten. Dieser Augenblick würde für das norwegische Volk immer einer der schönsten bleiben.

Zusammen mit sicherlich Hunderttausenden anderen sah er die Barkasse eines britischen Kreuzers der Apollo-Klasse an der Honnørbrygga einfahren. An Bord befand sich der Kronprinz, und als dieser auf dem roten Teppich an Land ging und endlich wieder norwegischen Boden betrat, erreichten der Applaus und die Hurrarufe eine fast übernatürliche Lautstärke, als wäre Olav Tryggvason höchstpersönlich von einer erfolgreichen Seefahrt zurückgekehrt oder plötzlich der Saga entstiegen und in die Wirklichkeit übergetreten. Im selben Moment setzte das Musikkorps zur Nationalhymne an, und während der uniformierte Kronprinz in Habt-Acht-Stellung die Flagge grüßte, sangen die Menschen mit einer solchen Kraft und unter so viel Tränenvergießen, dass Sigurd fürchtete, das Leben selbst würde darüber zerreißen und alles würde sich als eine Illusion herausstellen.

Ja, ungefähr so, glauben wir, muss es sich zugetragen haben, auch wenn es sich als schwierig erweist, sich Ereignisse dieser Art vorzustellen, diese schäumende Atmosphäre, die vielen Fahnen zu einer Zeit, da der Nationalismus in den Hintergrund gedrängt worden war. Diese Tage müssen geprägt gewesen sein von einer Vaterlandsliebe, die in der Geschichte des kleinen Landes beispiellos war. Der 17. Mai, der Nationalfeiertag, dauerte einen ganzen Monat. Vergessen waren alle Verdunkelungsvorschriften. Überall leuchtete es. Die Menschen ließen den Anblick der Fahnenstangen auf sich wirken, die nun nicht länger nackt standen, und fielen unter Tränen auf die Knie. Auch in Sigurd Bohre wohnten solche Gefühle, und obwohl seine Person in der Version der Ōuzhōu-Gruppe nur am Rande erwähnt wird, bekommt er darum von uns eine eigene Geschichte. Nach unserer Auffassung vermag Sigurd Bohre überdies zur Erklärung einzelner, bislang wenig beleuchteter Charakterzüge der Gründerinnen und Gründer der Long-Dynastie beizutragen, zumal er als ein früher Fürsprecher der sozialdemokratischen Ideale gilt, jener Werte, die, ohne dass man dies je begriffen hätte, Norwegens wichtigster Beitrag zur Staatsfrage waren, Ideen, deren Weiterentwicklung zu jener Regierungsform führten, aus der wir in der Chinesischen Föderation auch heute noch unseren Nutzen ziehen.

Sigurd stand inmitten der Menge und merkte, wie die Stimmung der Massen auf ihn abfärbte. Er war kein Anhänger des Königshauses, wusste aber, dass die Monarchie nie beliebter war als jetzt. Nach seiner Flucht 1940, als der König die mutigen Worte gesprochen hatte: »So lange es noch einen Flecken Erde gibt, der norwegisch ist, muss ich in meinem Land bleiben«, sollte es noch mindestens fünfzig Jahre dauern, ehe irgendetwas an der Monarchie zu rütteln vermochte. Trotzdem war Sigurd gerührt. Er hatte die kurze Ansprache des Kronprinzen gehört, den Gruß des Königs, hatte die stolze Wagenkolonne am Restaurant Skansen vorbei die Anhöhe hinauffahren sehen – ein strammer Max Manus zusammen mit dem Kronprinzen in einem Wagen, über dessen Motorhaube die Flagge gespannt war, so als müsse die norwegische Fahne an diesem Tag an allen erdenklichen Stellen befestigt werden –, und genau wie alle anderen verspürte Sigurd den Drang, zur Karl Johans gate zu laufen, um auch noch auf der letzten Etappe der Triumphfahrt zum Schloss hinauf einen Blick auf den Kronprinzen werfen zu können, wenn er, den Schoß voller Blumen, auf der Lehne der Rückbank saß. Aber Sigurd blieb stehen. Während nun immer mehr Menschen den Platz und die Straßen verließen, blieb Sigurd in Gedanken versunken stehen, und das Bild, das in seinem Kopf auftauchte, war ausgerechnet das seiner Mutter.

Ihm fiel ein, dass seine Mutter, Rita Bohre, ihm einmal von jenem Tag erzählt hatte – einem Septembertag 1926 –, als sie durch Zufall an der Stelle gestanden hatte, wo die Sjogata auf den Tordenskiolds plass ging, genau dort, wo er gerade stand, als das Osebergschiff von einem der Universitätsgebäude hinunter zur Pipervika transportiert wurde. Sigurd und Harald waren mit Dagny, dem Kindermädchen, zu Hause geblieben. Die Stimme der Mutter war von einer besonderen Glut erfüllt, als sie von diesem Ereignis erzählte, von ihrer Bewegtheit und dem Stolz, den sie empfand, als sie diesen prächtigen Schiffsrumpf, auf einem mit Eisenbahnrädern versehenen Wagen, gestützt von einem Rahmenträger, auf transportablen Schienen zur Anlegestelle hinuntergleiten sah, von wo aus er mit einem Schleppkahn weiter zur Insel Bygdøy verfrachtet werden sollte. Es war beinahe mit einem Krönungszug vergleichbar. Dass ihre Ergriffenheit größer ausgefallen war als bei anderen, hatte seine Gründe.

Wenn Sigurd und Harald, oft abends im Bett, ihre Mutter anflehten, etwas aus ihrer Kindheit zu erzählen, kehrte sie häufig zu ein und derselben Geschichte zurück. »Vielleicht das wichtigste Ereignis in meinem Leben«, wie sie zu sagen pflegte. Mit acht Jahren war sie mit ihrer Mutter nach Vestfold gefahren, wo ihre Großeltern zu Hause waren. Ihr Großvater stammte aus Sandefjord, während die Großmutter von einem Bauernhof zwischen Tønsberg und Horten kam. Die Großmutter, Thea, war gerade erst aus Lysaker weggezogen und hatte sich in Åsgårdstrand niedergelassen, und in jenem Sommer hatte sie Rita, ohne einen Mucks über den Anlass dafür zu verlieren, nach Slagendalen mitgenommen. Auf einem Feld vor einem großen Hügel bei Oseberg hatte Rita eine Menschenansammlung erblickt und war neugierig geworden. »Wollen wir mal einen Blick dorthin werfen?«, hatte die Großmutter mit unschuldiger Miene gefragt.

Nachdem die Großmutter einem der Aufseher ein paar Münzen zugesteckt hatte, entdeckte Rita ein großes Loch, das in den Hügel gegraben worden war. Sie blieben hinter einem provisorischen Zaun stehen und sahen hinunter zu einer Gruppe von Männern, die Archäologen genannt wurden und die, mit größter Vorsicht, gerade dabei waren, etwas aus der Erde auszugraben. Rita sah sofort, dass es ein Boot war, ein Schiff. Ein Wikingerschiff. Die Ausgrabungen waren so weit vorangeschritten, dass sie den Vorder- und den Achtersteven sowie die obersten Borde im Rumpf ausmachen konnte. Zwei Mann waren bereits damit beschäftigt, es mit nassem Moos zu bedecken, vermutlich damit das Holz nicht zerstört wurde. Für Rita war es, als wäre das Schiff direkt aus dem Erdboden aufgestiegen. Sie suchte sich einen Platz näher am Achtersteven, von dem aus sie einen besseren Blick hatte, denn sie konnte sich gar nicht sattsehen an den schönen Holzverzierungen. Was hier zutage gefördert wurde, mit seinen Schnörkeln und allem Drum und Dran, war nicht bloß ein Schiff, es war eine Geschichte, das war die Geschichte selbst. Es war, als wären durch den Anblick dieses Schiffes Erinnerungen in Rita geweckt worden, die nicht ihre eigenen waren, sondern Erinnerungen ihrer Familie, der Familie ihrer Großmutter mütterlicherseits; sie wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte. »Das war ein Anblick, der mein ganzes Leben geprägt hat«, sagte sie zu ihren Jungs. »Dieses Schiff hat mich verändert. Es hat mich in Bewegung gesetzt, wenn ihr wisst, was ich meine.«

Sigurd dachte immer, dies müsse der Grund dafür sein, weshalb sie ihnen so oft aus den Sagas vorlas und diese Geschichten so intensiv mitlebte: Sie wollte, dass dieser Stoff in sie einsickerte wie Muttermilch. Trotzdem wirkte es, als ob Sigurd diese Erzählungen stärker aufnahm als Harald, er hatte sich durch Snorres Königssagas sogar selbst das Lesen beigebracht – tatsächlich beherrschte er das Runenalphabet noch vor dem lateinischen –, und während Gleichaltrige sich mit einfachen Mama-Papa-Sätzen abquälten, las Sigurd über Håkon Jarl und Magnus Barfuß. Er träumte von einer neuen Wikingerzeit, von fernen Zielen wie Holmgard und Miklagard und Grönland. Von Tatkraft. Vom In-den-Kampf-Ziehen. Von Kampfgetöse. Eroberungen. Damit einher ging eine Begeisterung für die gesamte Kriegsgeschichte. Erst nachdem ihr Vater sie nach Deutschland mitgenommen hatte, begann Sigurd sich auch mehr für die verborgenen Ursachen hinter den Kriegshandlungen zu interessieren, und es schien für ihn auf der Hand zu liegen, dass die Wirtschaft in der Geschichte die größte Triebkraft sein musste. Er wollte die Macht des Geldes studieren, doch Onkel Albert konnte ihn dazu überreden, ein Jurastudium zu beginnen. »Auch im Finanzministerium werden Juristen gebraucht, Sigurd«, sagte er. »Zwei Fliegen mit einer Klappe.«

Sigurd verlässt die Pipervika und schlendert heimwärts. Im Geiste versucht er, all die Herausforderungen aufzulisten, die vor ihnen liegen – und die der Nation ihr Bestes abringen. Die Besten. An der Ecke des Rathauses begegnete er einem Mann der Hjemmefront-Widerstandsbewegung, der dort mit Sten Gun und dem ganzen Zeug postiert war, wie um aufzupassen, dass nicht bereits eine neue Invasion im Anmarsch war, dachte Sigurd. Jetzt krochen sie aus ihren Löchern mit ihren Schirmmützen und den grauen Anoraks, wie um zu demonstrieren, dass sie bei der Milorg gewesen waren. Plötzlich waren sie so verdächtig zahlreich, dachte Sigurd; in den letzten Tagen war er auffallend vielen begegnet, die der Meinung waren, nur dank ihnen und ihrem Widerstandskampf sei Norwegen jetzt wieder frei, obwohl sie im Großen und Ganzen nur im Wald herumgelegen und sich benommen hatten wie ausgewachsene Pfadfinder. Wo waren sie 1940 gewesen, als ein Widerstand wirklich Wunder hätte bewirken können?

So viele Mitläufer, die sich gerade noch rechtzeitig umgedreht hatten und zu Gegenläufern geworden waren.

Sigurd atmet tief ein und aus. Es ist Frieden. Es gibt ein Volksfest. Der König ist aus dem Exil zurückgekehrt, hat wieder norwegischen Boden betreten und vor kurzem in strammer Habt-Acht-Stellung vor einer Flagge gestanden, die nie zuvor so siegreich im Wind geflattert hatte. Langsamen Schritts ging Sigurd durchs Stadtzentrum, wobei er wegen des Gedränges auf der Hauptstraße unbewusst die Kristian IVs gate wählte. Das passte, ein dänischer König. Wie Haakon. Vom Schlossplatz stieg der Jubel hoch, der Kronprinz musste zu einer Rede auf den Altan getreten sein. Mehrere Männer in grauen Anoraks und Knickerbockerhosen eilten vorbei. Jeder zweite Norweger war jetzt bei der Hjemmefront. Einer von ihnen, ausgestattet mit Bandelier und Pistolenholster, warf Sigurd einen verstohlenen Blick zu, wie um zu prüfen, ob er ein Überläufer war, weil er nicht lächelte, nicht grölte wie alle anderen. Empfand Sigurd auch eine leichte Wehmut darüber, dass jetzt Frieden war? Dass der Krieg, und damit die Möglichkeit zu heldenhaften Taten, vorbei war?

II

Fünf Jahre davor, am 8. April, einem Montagabend, war er zusammen mit drei Freunden, ebenfalls Studenten, im Theatercaféen gesessen. Alles war perfekt gewesen. Die Rotweingläser, das weiße Tischtuch und die Künstlerportraits an den Wänden. Der einzige Wermutstropfen war sein Bruder Harald als Kellner. Sigurd fühlte sich jedes Mal unwohl, wenn Harald mit raschen Schritten durch das Lokal eilte, Tabletts voller Gläser trug oder, immerzu buckelnd, mit dem Schreibblock vor einem Tisch stand, um Bestellungen aufzunehmen. Er hasste diesen servilen Zug an seinem Bruder, und noch mehr hasste er es, dass die Gäste seine Höflichkeit schätzten, stets freundliche Worte mit ihm wechselten.

Es war spät und sie diskutierten gerade ein Thema, das alle beschäftigte, die Gefahr, dass Norwegen in den Krieg hineingezogen werden könnte. Birger, der als Einziger nicht Jura studierte, behauptete, dies sei bereits geschehen, als die Engländer norwegische Gewässer vermint hätten. Ja, es bestehe kein Zweifel, sagte Knut, oder genauer, er musste es rufen, um in dem Lärm des Lokals gehört zu werden. Es werde nicht mehr lange dauern, das könne jeder sehen. Auf der Titelseite der Aftenposten habe der Kopenhagen-Korrespondent geschrieben, deutsche Kriegsschiffe seien auf dem Weg nach Norden. »Nur die Ruhe, Leute«, sagte Karsten und stieß dabei eine leere Flasche um, »die hatten sicher Kurs auf die Shetlands oder auf die Färöer-Inseln – sofern es sich nicht um ein waghalsiges, direkt gegen England gerichtetes Manöver handelt«. Sigurd, der eher dem Glauben zuneigte, in der Nordsee braue sich gerade ein gewaltiger Konflikt zusammen, wollte die Gelegenheit nutzen, seine Kenntnisse über die Skagerrakschlacht von 1916 ins Gespräch einzubauen, eines seiner Bravourstücke, wurde aber unterbrochen, denn Knut ließ sich nicht beruhigen: »Wieso kann niemand sich vorstellen, die Schiffe könnten Kurs auf norwegische Städte genommen haben?«, fragte er und leerte sein Glas. »Wieso wartet die Regierung mit der Aussendung der Mobilmachungsbefehle – ich meine, bei allem, was man jetzt weiß?« Knut war ein einziges großes, rotweinerhitztes Fragezeichen. »Willst du denn so unbedingt schon ein Gewehr in der Hand halten?«, fragte Birger. »Hast du vergessen, dass du getötet werden könntest?« Alle lachten. Alle wussten, wie sicher sie hier waren in dem stilvollen Kaffeehaus Wiener Art, begleitet von eher holpriger Tafelmusik vom Balkon. Ihr Streit war lediglich ein Gesellschaftsspiel, eine Übung in Rhetorik. Ein Training für die Plädoyers im Gerichtssaal.

»Du bist ja bereits verwundet, Sigurd«, sagte einer und deutete auf das Pflaster über seiner Augenbraue, eine Wunde, die er sich bei der Prügelei mit Harald bei der Geburtstagsfeier ihrer Mutter zugezogen hatte.

Wieder schallendes Gelächter. Das war es, was sie in erster Linie taten. Lachen. Grölen.

»Abwarten ist eine kluge Entscheidung«, bemerkte Karsten und fluchte, weil die Zigaretten alle waren. Ein Fingerschnipsen, und Harald stand schon bereit mit einem Silbertablett, auf dem ein frisches Päckchen lag. Sigurd konnte sich eine Grimasse nicht verkneifen. »Halvdan Koht ist ein schlauer Fuchs«, fuhr Karsten fort, »er bringt die Regierung zum Beidrehen, damit sie eine Entscheidung zum Besten für das norwegische Volk treffen können. Das hier ist ja wie Schachspiel! Man muss versuchen, mehrere Züge vorauszudenken.«

Sigurd war kurz davor, Schachmatt zu rufen, ließ es aber sein. Zu billig. Oder etwas über die Tafelmusik zu sagen, über die Titanic, über die heitere Stimmung in den Minuten, bevor der Eisberg sich als Dosenöffner betätigte.

Kurz vor der Sperrstunde schaute Harald bei ihnen vorbei, jetzt um zu fragen – zumindest fasste Sigurd es als Frage auf –, ob er noch mit ihnen weiterziehen dürfe. Sigurd lehnte ab, das heißt, er tat, als ob er nicht wüsste, wohin sie gehen würden, weil er befürchtete, er würde über Maud reden wollen, über irgendetwas, was ihm wegen Maud auf der Seele lag. Sigurd wollte nicht über sie reden. Gott sei Dank ahnte Harald nichts von dem, was in der Hütte in der Nordmarka zwischen ihnen vorgefallen war. Und er darf es auch niemals erfahren, dachte Sigurd und beeilte sich zur Garderobe, bevor sein Bruder Gelegenheit fand, ihn noch weiter zu bedrängen.

Die Abendluft und der Spaziergang den Drammensveien entlang kühlten ihre Gedanken ab, doch sie waren noch immer eine Handvoll sehr erhitzter junger Männer, die in Birgers Bude in der Observatoriegata ankamen, einer etwas schäbigen Wohnung, die so gar nicht der schönen Jugendstilfassade an der Außenseite entsprach – Knut nannte das Wohnhaus »das getünchte Grab«. Für diese Adresse hatte der wohlhabende Birger sich seinerzeit entschieden, weil er Astronomie studieren wollte, doch dann war es stattdessen Philosophie geworden, was in Sigurds Augen derselben hohen, nicht immer ganz so leicht zugänglichen Sphäre angehörte. Birger bot Whisky an, er hatte immer einige Flaschen White Horse zu Hause stehen, und White Horse musste es sein, der einzige Drink, der etwas taugte, wenn man seinen Pegasus zu reiten und die diversen Chimären seiner Zeit zu bekämpfen vorhatte, und die Chimäre, die jetzt, nachdem alle ihre großzügigen Whiskysoda vor sich stehen hatten und der Zigarettenrauch sie in eine adäquate Vernebelung einhüllte, auf der Tagesordnung stand, war die Gesellschaft, und nichts Geringeres als die gerechte Gesellschaft, und natürlich dauerte es nicht lang, bis Birger sich auf seinen Platon gestürzt hatte, Der Staat, selbstverständlich, ein Buch, von dem er meinte, es sei das größte Meisterwerk der Menschheit, größer noch als Dantes Göttliche Komödie, größer als Shakespeares gesammelte Werke. »Man braucht in seinem Leben nur ein einziges Buch zu lesen«, sagte Birger, »alles Wissenswerte ist in Der Staat enthalten.« Sigurd hatte das Werk mehrmals in der deutschen Übersetzung, die Birger ihm empfohlen hatte, zu lesen begonnen, war aber nie weit gekommen. Was er allerdings begriffen hatte, war Platons Methode, die Sache mit dem Dialog, dem Gespräch, und das, zusammen mit Birgers Ausführungen, hatte sich in ihm festgesetzt, und in Zukunft sollte er sowohl aus dem einen wie auch aus dem anderen seinen Nutzen ziehen.

Sigurds Lieblingsbuch war The General Theory of Employment, Interest and Money des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, ein Buch, das dem instabilen Wesen des Kapitalismus auf den Zahn fühlte und das er studiert hatte, nachdem er davor bereits Keynes Kritik am Friedensvertrag von Versailles, The Economic Consequences oft the Peace, gelesen hatte. Es war sein Interesse an Geschichte, auch an Zeitgeschichte, das ihn zu dieser Publikation geführt hatte, und er hatte sofort die Logik hinter Keynes’ düsterer Prophezeiung erkannt, nämlich dass die Forderung nach finanzieller Entschädigung von Deutschland zu einem neuen Krieg führen würde, und auch wenn Sigurd in Keynes’ neuestem, vielschichtigem Werk nicht alles verstand – seine Argumente gegen eine deregulierte Marktwirtschaft etwa – so war er doch äußerst gefesselt davon, wie sehr Keynes die Achillesferse der Wirtschaftstheorien herausstrich: unsere Unwissenheit, was die Zukunft bringt.

Nach dem zweiten Whiskysoda jedenfalls fing Sigurd an, seine Anschauungen über die gerechte Gesellschaft darzulegen, als hätte er sowohl Platon als auch Keynes von hinten nach vorn gelesen und sich über diese Problematik mehr Gedanken gemacht als jeder Professor oder Staatsmann; er ritt seinen White-Horse-Pegasus bis zur Überheblichkeit, sowohl was die Formulierungsfähigkeit als auch was den Überblick anging; so verliefen diese Abende und Nächte, und so sollten sie auch verlaufen, es ging darum, sich von so hohen Gipfeln wie nur irgend möglich herabzustürzen, um zu sehen, ob es einem gelang, die anderen glauben zu lassen, man könne fliegen, schweben zumindest, die paar Fliegeralarme wurden lediglich als ein Jux betrachtet, als eine Art Gongschlag, der eine neue Diskussionsrunde einläutete, wobei der Wortwechsel allmählich immer weniger hitzig wurde, sich eher schläfrig gestaltete und immer öfter unterbrochen wurde von gelallten Trinksprüchen, bevor er zu früher Morgenstunde schließlich von selbst verebbte.

»Der Staat bin ich«, sagte Sigurd in der Tür, überrascht, wie wackelig er auf den Beinen war. Er nickte den anderen zu, bevor er auf die Straße hinaustorkelte, oder eigentlich nickte sein Kopf wie von selbst.

Es war kurz nach halb acht Uhr morgens. Er musste nach Hause und ein wenig schlafen. Aber woher kam dieser schreckliche Lärm? Auf dem Solliplass hob er den Blick, und dort, beim Ausblick zur Nesodden-Halbinsel, im Luftraum über Oslo, wirbelten rasende Rieseninsekten, Flieger, hin und her und nahmen einander unter Beschuss. Er erkannte einen norwegischen Gloster Gladiator, und dank seines Interesses für Kriegsgeschichte sah Sigurd auch sofort, dass der andere Schwarm aus deutschen Flugzeugen bestand. Jetzt ist also endlich Krieg, sagte er zu sich. Mit Deutschland. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er sich hingekauert, hielt sich an einem Geländer fest. Ein Gedanke schoss ihm in den Sinn: Wo war Harald? Wo war sein Bruder? Er schob seine Sorgen beiseite. Harald, der Pazifist, lag wahrscheinlich irgendwo zitternd unter einem Bett.

Sigurd hatte Kopfschmerzen, Übelkeit plagte ihn. Den Fliegeralarm im Rücken, torkelte er zum Parkveien und schaffte es irgendwie zur Kreuzung am Hedgehaugsveien, wo er, in der Wohnung, die ihm sein Onkel vermietete, geradewegs die Toilette ansteuerte und sich übergab. Lange hing er so über der Kloschüssel und starrte in den kleinen, von weißem Porzellan umringten Wasserdeich, und je länger er so dalag, desto deutlicher ging ihm auf, dass nicht der Alkohol ihm den Magen umgedreht hatte, sondern die Angst.

Es war Krieg. Er könnte getötet werden.

Er übergab sich erneut, hatte die Hände über die Kloschüssel gelegt und hielt sich an ihr fest, von Angst gebeutelt.

Er wusch sich das Gesicht, schluckte ein paar Tabletten und schleppte sich ins Bett, blieb dort hinter zugezogenen Gardinen liegen, noch immer von Kopfschmerz und Übelkeit geplagt. Draußen war es längst still geworden. Nur die gewohnten Geräusche. Die Tabletten begannen zu wirken. Der Luftkampf war, Gott sei Dank, bloß ein Missverständnis, ein Vorfall, der von beiden Ländern bedauert werden würde. Endlich konnte er einschlafen.

Gegen halb drei am Nachmittag fühlte er sich einigermaßen wiederhergestellt und brachte ein halbes Marmeladebrot und etwas Kaffee runter. Er musste raus, er musste sehen, was vor sich ging, oder ob überhaupt etwas vorgefallen war. Draußen gingen die Menschen ruhig durch die Straßen. Keine ungewöhnlichen Gerüche, kein Unheil verkündender Lärm. Aber er hatte keinen Zweifel. Es waren deutsche Flugzeuge gewesen. Hatte es sich womöglich nur um eine Übung gehandelt?

Er beschloss, bei der Universität vorbeizuschauen und sich an seinen Platz im Lesesaal zu setzen. Es war sonnig, es war erfrischend, nach draußen ins Freie zu kommen, durch den Schlosspark zu spazieren, wo sich noch immer wacker ein paar Schneefelder hielten. Er würde aufhören, Whisky zu trinken, er würde mit den Diskussionen aufhören, vom heutigen Tag an würde er nur noch lesen, fleißig studieren, eine bedeutende Stellung im Finanzministerium anpeilen, zu einer gerechteren Einkommensverteilung beitragen.

Etwas an der Atmosphäre ließ ihn auf dem ersten Treppenabsatz am Eingang zur Universität innehalten. Die Menschen hatten entlang der Karl Johans gate Aufstellung genommen. Er hörte Hufschläge auf den Pflastersteinen. Zwei norwegische Polizisten ritten die Straße herunter. Einen Moment lang fühlte sich Sigurd beruhigt. Doch dann, das Geräusch zahlreicher Stiefelsohlen, die im Takt marschierten, und ein deutscher Trupp erschien, zu beiden Seiten begleitet von norwegischen Polizisten zu Pferde, als wollten sie die Deutschen in die Stadt hineinlotsen, die Hauptstraße hinab, wie um dafür zu sorgen, dass sie auch dorthin gelangten, wohin sie wollten. Sigurd stand auf der breiten Treppe vor dem Mittelgebäude der Universität, stand dort vor Säulen, die in einem armseligen Wicht Assoziationen zu Diskussionen über Platons Staat hervorrufen konnten, und sah die lange Kolonne deutscher Soldaten vorbeimarschieren. In Dreierreihen, mehrere Hundert Mann mit schwerem Gepäck. Eskortiert von der norwegischen Polizei! Von ein paar anderen, die neben ihm standen und die Radiosendungen gehört hatten, erfuhr er die jüngsten Neuigkeiten. Es war wie ein verkehrter Nationalfeiertagsumzug. Ein Umzug, der nicht aus Fahnen tragenden, sich in Richtung Schloss bewegenden Kindern bestand, sondern aus deutschen Soldaten mit Sturmgewehren, auf dem Weg in die andere Richtung, wo sie wichtige Gebäude besetzten.

Er stützte sich an eine der griechischen Säulen. Er musste etwas tun. Aber falls er etwas tat, könnte er getötet werden.

Vor Angst gelähmt stand Sigurd auf der Universitätstreppe. Und trotzdem: Irgendwann, das wusste er, irgendwann in der Zukunft, wie auch immer diese aussehen mochte, würde man gefragt werden, was man zu jener Stunde getan hatte, man würde für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden. Ein Schauer lief ihm über den Rücken bei dem Gedanken, was er auf die Frage, was er am 9. April getan habe, würde antworten müssen: »Ich hatte einen schrecklichen Kater.«

Oder: »Ich war halbtot vor Angst und habe nur rumgejammert.«

Er wusste, was er zu tun hatte. Er eilte zum Parkveien zurück, vergewisserte sich, von niemandem beobachtet zu werden, und schlich hinunter in die Kellerkammer, in der sich das Holz und der Hackstock befanden. Es gab nur eines, was jetzt zu tun war. Ohne Zaudern, ohne Nachdenken. Der feuchte, modrige Kellergeruch erfüllte ihn mit Angst. Unter Zögern, einem langem Zögern nichtsdestotrotz, nahm er die Axt, legte den Arm auf den Hackstock, überlegte eine Sekunde, ob er sich ein paar Finger abhacken sollte, aber das wäre zu drastisch, er räusperte sich vor Aufregung, er musste an die Zukunft denken, es würde eine Zukunft geben – würde es eine Zukunft geben? –, doch, davon musste er ausgehen, jetzt ging es darum, gründlich zu arbeiten, nicht zu fest zuzuschlagen, aber auch nicht zu leicht, er schwitzte, als wäre er gerade einen Kilometer weit gelaufen, ließ den Axtkopf, leicht geneigt, mit der Hinterseite auf seinen Unterarm fallen, hieb vielleicht dennoch etwas zu fest zu, er zuckte zusammen bei dem Knacken, ehe die Schmerzlawine durch ihn hindurchfuhr, von der Haarwurzel bis in die Zehennägel. Scheiße. Verfluchte Scheiße. Verfluchte beschissene Scheiße. Er war leicht benommen, konnte aber die Axt fein säuberlich an ihren Platz zurückhängen, keine Spuren, er taumelte nach oben, nach draußen, nass von Schweiß und dem Schmerz, schaffte es bis zur Haltestelle, schaffte es bis zur Unfallambulanz, zum Krankenhaus Krohgstøtten in der Storgata. »Ich bin heute Morgen am Eis ausgerutscht«, sagte er, stöhnte er, die Schmerzen waren jetzt höllisch, ein Krankenpfleger half ihm in einen Stuhl, wo er wartete, bis ein erfahrener Arzt alles wieder an seinen Platz rückte – wieder ein Schrei – und der Arm eingegipst wurde.

Ein geniales Alibi. Ein Arm in der Schlinge. Jeder würde verstehen, dass man sich in so einem Zustand nicht zum Mobilmachungsstützpunkt begeben konnte. Er spaziert nach Hause, wedelt im Gehen regelrecht mit dem weißen Gips in der Luft herum. Seht her! Ich bin entschuldigt! Ich würde kämpfen, aber wie ihr sehen könnt, bin ich ein halber Krüppel. Verdammtes Pech aber auch. Ein Glück für diese Scheißdeutschen!

Zu Hause warf er eine neue Dosis Tabletten ein und legte sich ins Bett, konnte aber wegen des verdammten Arms keine angenehme Position finden. Er lag in leichtem Schlummer, als seine Mutter ihn am Abend besuchen kam: »Schon gehört?«, fragte sie schon im Aufschließen, Quislings Rede im Radio hatte sie so aufgeregt, dass sie vergaß, ihren Sohn in Augenschein zu nehmen. Aber dann: »Was ist mit deinem Arm passiert?«

»Wäre da nicht dieses elende Glatteis gewesen, ein gebrochener Arm, würde ich jetzt im Wald liegen und diese unverschämten Eindringlinge niedermetzeln«, sagte Sigurd.

Diesen Satz sollte er in den nächsten Monaten noch viele Male wiederholen.

Seine Mutter bedachte ihn mit einem prüfenden Blick, ein Blick, an den er sich noch aus seinen Knabentagen erinnerte. Ein Blick, der die Lüge durchschaute. Sie verlor kein weiteres Wort über seinen Arm, sondern erzählte von den morgendlichen Unruhen in Fornebu, von dem Maschinengewehrlärm und von Flugzeugen, die brennend auf der Erde lagen, einen Augenblick lang hätte sie Angst gehabt, es könnten welche abstürzen und auf die Villa herunterkrachen. Und wo denn sein Bruder sei? Sie habe gerade zu ihm gehen wollen, aber er sei nicht dagewesen, die Wirtin habe ihn mit Rucksack, Skiern und Skistöcken in den Händen gesehen.

Was seine Mutter da erzählte, wunderte Sigurd. »Ich habe dich doch gebeten, ihn im Auge zu behalten!«, sagte sie. »Bin ich etwa sein Aufpasser?«, fragte Sigurd. »Er ist so impulsiv, wer weiß, was ihm einfällt«, sagte Rita. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Sigurd, »der hat sich irgendwo versteckt und wartet mit der weißen Fahne in der Hand.«

Erneut richtete sie ihren Blick auf ihn. Oder auf den Gips. Auch eine Art weiße Fahne.

Zum Glück blieb sie nicht lang, auch stand es um ihre Laune nicht zum Besten, sie bat ihn, Bescheid zu geben, wenn Harald sich bei ihm meldete. In der Nacht schlief Sigurd schlecht.

Er musste sich etwas einfallen lassen. Zeigen, dass er gewillt war, mehr zu tun. Am nächsten Vormittag, einem Strom aus der Stadt flüchtender Menschen entgegen, denen das Gerücht zu Ohren gekommen war, die Engländer hätten vor, Oslo zu bombardieren, fand er sich bei der Fagerborg-Schule ein, seinem Mobilmachungsstützpunkt. Stand da in Anorak und Knickerbocker, mit Rucksack und gebrochenem Arm. In der Schule wurde ihm und einer Handvoll anderen dann mitgeteilt, dass die Mobilmachung abgeblasen sei.

Doch der Plan ging auf. Man hatte ihn gesehen, und das sprach sich herum. Ohne einen Finger krumm gemacht zu haben, wurde er von vielen als Held betrachtet. »Stell dir vor, er wollte in den Kampf ziehen, obwohl er verletzt war«, flüsterten die Leute. »Stand da mit dem Arm in der Schlinge, der Arme, und bettelte um ein Gewehr. Solche Kerle braucht das alte Norwegen!«

III

Wir haben uns gefragt, ob es möglich ist, aus der verschwundenen Geschichte Norwegens, aus diesen fünf erschütternden Jahren, die unter der Bezeichnung »Der Zweite Weltkrieg« geführt werden, ein Bild herauszugreifen und zu sagen: Dies war ihre stolzeste Stunde. Auf diesen Ausdruck sind wir in einer berühmten Rede gestoßen, die der britische Premierminister Winston Churchill bei der Bombardierung Englands durch die Deutschen gehalten haben soll, und nach Kriegsende wurde diese Ansicht durch die Fotografie des Milchmannes illustriert, der seinen Weg durch die Ruinen geht, um Flaschen auf die Treppen zu stellen. Wir haben diese Frage lange erörtert, auch unter Berücksichtigung von Beiträgen der N20-Assistentengruppe, wobei sich schließlich herausstellte, dass tatsächlich ein solches Bild existiert, oder eher eine Szene, die in ähnlicher Weise zur Veranschaulichung wesentlicher Aspekte in Hinblick auf das Land Norwegen während der Okkupationszeit beizutragen vermag, und erstaunlicherweise handelt es sich dabei nicht um Erinnerungen an heroische Sabotageaktionen unter der Regie von Widerständlern wie Max Manus oder Kjakan Sønsteby, nein, sondern um eine weitaus friedlichere Szene im Gefangenenlager Grini: Francis Bull, der in einem großen Schlafsaal einen Vortrag vor seinen Mitgefangenen hält, norwegische Lehrer, die um ihn herum auf ihren Betten sitzen oder liegen und denen bis zum nächsten Tag die Frist eingeräumt wurde, ihren Lagerkommandanten darüber in Kenntnis zu setzen, ob sie der nationalsozialistischen Lehrervereinigung beitreten oder nicht –, ein Vortrag, in welchem der Professor die Ibsen-Figuren Peer Gynt und Brand behandelte, und auch wenn Francis Bull sich davor hütete, Klartext zu reden, gab es unter den Zuhörern nur wenige, die darüber in Zweifel waren, wie ihre Antwort ausfallen wird.

Ein Literaturprofessor vor lauschenden Männern in einem Gefangenenlager.

Sigurd Bohre war einer der Männer, die diesen Vortrag hörten.

Zwei Jahre zuvor aber finden wir Sigurd an der Brücke bei Fossum. Es ist Mitte Juni, und eben erst wurden von norwegischen Offizieren in Trondheim und Narvik Kapitulationsabkommen unterzeichnet. Er steht auf der Askimer Seite und blickt zu der Brücke hin, zu dem Fluss Glomma, zu dem Steilhang auf der anderen Seite, auf dem die deutschen Soldaten gelegen und auf Norweger geschossen haben. Auf Harald, denkt er. Auf meinen Bruder, denkt er. Ein Tag der Schande. Hier, als einer von wenigen, von viel zu wenigen, die im April in den Kampf zogen, ist Harald gefallen. Sie waren chancenlos, konnten der Übermacht aber trotzdem fast einen Tag und eine Nacht lang Paroli bieten.

Sigurd betrachtet die sieben Schießscharten in der Felswand auf der anderen Seite, die in den Berg gesprengte Verteidigungsanlage. Errichtet gegen die Schweden! Was für eine historische Ironie. Eine Brückengalerie, plötzlich in die Gegenrichtung verkehrt. Eine Festung gegen einen Feind, der kein Feind mehr ist, und die dann von einem neuen Feind gegen einen selbst verwendet werden kann.

Zwanzig norwegische Soldaten gefallen. Eine unbekannte Anzahl Deutscher, viele, wahrscheinlich über hundert. Wie hatte Hegel noch gleich gesagt? Die Geschichte gleiche eher einer Schlachtbank als einem Blumenbeet? Gesenkten Hauptes stand Sigurd auf der Brücke. Er war allein und brauchte keinem etwas vorzuspielen. Vor Scham biss er sich auf die Lippen. Er hatte Bauchschmerzen vor Scham. Auf der Geburtstagsfeier ihrer Mutter hatte er seinen Bruder einen Feigling genannt, und doch war dieser »Feigling« in den Kampf gezogen. Der »Mutige« hatte versagt.

Und hätte Sigurd es nicht verhindern können, wenn er seinen Bruder an dem Abend, als sie einander im Theatercaféen getroffen hatten, zu Birgers Wohnung hätte mitkommen lassen?

Hier hatten sie ihn gefunden, direkt an der Straße, nachdem die Deutschen weitergerückt waren, an Askim vorbei. Eine Kugel ins Bein, eine in die Stirn. Er war identifiziert, nach Hause gebracht und am Friedhof bei der Haslum kirke beigesetzt worden. Mehrere Wochen lang hatte die Mutter kein Wort mit Sigurd gesprochen. Sie wirkte geknickt, fast leblos, als hätte diese schmächtige Gestalt selbst eine Kugel abbekommen. Ihr Gesicht eine nicht wiederzuerkennende, abgezehrte Maske. Maud war ebenfalls zur Beerdigung gekommen. Mitten in einem Lied hatte sie Sigurds Hand genommen, die, die nicht zu dem Arm in der Schlinge gehörte. Das war das erste Mal, dass sie seine Hand gehalten hatte. »Ich komme dich besuchen«, hatte sie danach gesagt. »Wir müssen reden.«

Sigurd streifte im Gelände umher, entdeckte Fichtenstämme, deren Rinde von Kugeln heruntergefetzt worden war. Er versuchte, sich vorzustellen, wie es sich zugetragen haben könnte. Der Nachthimmel von Leuchtraketen und einer Kakofonie aus Maschinengewehrknattern, Maschinenpistolen und Granaten erfüllt. Der Geschmack von Metall. Der Geruch des Todes. Unmöglich. Heute war ein schöner Frühsommertag, der Fluss glitzerte, aus den Bäumen erklang Vogelgezwitscher. Das Land war okkupiert.

Trotzdem war Sigurd sich sicher – es war ihm, als hätte er einen prophetischen Blick bekommen und könnte sehen, wie unwahrscheinlich es war, dass die Deutschen sich sonderlich lange in Norwegen aufhalten würden –, er war sich sicher, eines Tages würde hier, an der Brücke bei Fossum, so wie bei den Thermopylen im alten Griechenland, ein Gedenkstein errichtet werden, in dem Haralds Name eingraviert wäre. Eine bleibende Spur seines Bruders.

Und er, Sigurd?

Was war schiefgelaufen? Was war so schrecklich schiefgelaufen am 9. April? Sigurd stand in der Mitte der Brücke und schaute zu dem still fließenden Fluss unter sich. In den Wochen nach der Invasion hatte er sehr viel mehr Zeit auf Grübelei verwendet als auf die Juristerei, und auch wenn er sich benommen hatte wie ein erbärmlicher Angsthase, war seine Wut weiter angewachsen. Vielleicht weil sein Bruder tot war. Sigurd hatte Fragen gestellt, nachgebohrt, nachgeforscht. Und wie sich herausstellte, war die Kommunikation zwischen den verantwortlichen Personen, jenen Menschen, welche die Bevölkerung durch einen Kampf um Leben und Tod hätten führen sollen, vollkommen und schmählich zusammengebrochen in diesen Apriltagen. Und was war mit dem Militär? Zunächst hatte Sigurd noch geglaubt, es könne nicht wahr sein, dass der befehlshabende General zu sich nach Hause gefahren war, irgendwo weit außerhalb der Stadt, um sich seine Uniform anzuziehen und Toilettensachen zu holen! Mitten in der Hitze des Gefechts, früh am Morgen, war er einen weiten Umweg gefahren, um sich Toilettenartikel zu holen. Was dachte er sich dabei? Wollte er lieber mit sauberen Zähnen und frisch rasiert sterben? Und als er, endlich, in das als Kommandozentrale auserkorene Hotel Slemdal zurückkehrte, hatte sein Stab bereits Hals über Kopf die Flucht ergriffen und war nach Eidsvoll weitergezogen, weshalb der General jeden Kontakt zu ihnen verloren hatte. War das möglich? Mag sein, dass Sigurd eine Memme war, aber es hatte in diesen Stunden wahrlich größere Memmen gegeben als ihn! Für ihn als Juristen war es leicht nachvollziehbar, warum so manche der Meinung waren, die Regierung sollte vor das Verfassungsgericht gestellt werden – falls es je gelänge, die verhassten Deutschen aus dem Land zu werfen. Ja, denn es war wirklich skandalös, nicht nur ihre analytische Untauglichkeit in einem Land, das geschlafen hatte während eines Angriffs, bei dem sich im Nachhinein immer deutlicher herauskristallisierte, dass es ein angekündigter gewesen war, sondern auch, weil sie nicht sofort alles mobilisiert hatten, was gehen und kriechen konnte, Kirchenglocken und Radio, Gong und Pauken ertönen ließen.

Konnte man sich etwas Schändlicheres vorstellen, als von seinen Anführern im Stich gelassen zu werden?

Wir gestatten es uns an dieser Stelle, eine Parenthese einzufügen, denn es muss Sigurds verbitterter Anklage – mit der er keineswegs allein dastand – immerhin zugutegehalten werden, wie gelinde gesagt merkwürdig es erscheint, dass diese Lehren nicht wie festgenagelt saßen in dem kollektiven Gedächtnis dieses kleinen Volks. Wie unvorstellbar scheint es doch, dass ein Land, das so etwas erfahren hatte, denselben Fehler später noch einmal begehen sollte! Zwar erklang bei Festansprachen und Gedenkreden ein paar Generationen lang der Refrain »Wir dürfen niemals vergessen«, doch im Vorfeld des Siebzigjährigen Krieges schien alle erworbene Weisheit zerbröckelt, und abermals traf das Unglück unvorbereitete Norweger wie im Schlaf.

Aber zurück zu Sigurd auf der Brücke, der gerade an all diese Stützen der Gesellschaft denkt, an all diese Repräsentanten der Machtelite, die sich jetzt, Mitte Juni 1940, für eine Zusammenarbeit mit den Deutschen ereifern. Er muss sich an die Brüstung stützen, fühlt sich wieder elend.

Wie von selbst wandern seine Gedanken zu Maud, und nur der Gedanke an sie vermag zu verhindern, dass er nicht vornüber hinunterstürzt. Auch im Zug auf dem Rückweg von Askim ist er in Gedanken bei Maud. In diesen Tagen der Schwermut und der Selbstvorwürfe, die er bei zugezogenen Gardinen und mit einem Tablettengläschen auf dem Nachttisch im Bett verbringt, ist es allein der Gedanke an Maud, der ihm das Leben erträglich macht. Er weiß, nur sie allein kann ihn retten. Das ist ihm schon bewusst geworden, als sie während des Lieds »Leben heißt lieben« seine Hand nahm, und noch deutlicher wurde es ihm bewusst, als sie eines Tages plötzlich vor seiner Tür stand. Das war ein paar Wochen nach Haralds Beerdigung, sie sei zufällig vorbeigekommen, sagte sie, und habe Lust bekommen, bei ihm anzuklopfen, und dann saßen sie in seinem kleinen Zimmer im Parkveien und tranken Kaffee, ohne viel zu sprechen. Sie erwähnte die schweren Kämpfe beim Hotel Klækken, direkt neben ihrem Heimatort, ansonsten aber verbrachte sie die Zeit hauptsächlich damit, ihn mit ihren außergewöhnlichen, auf- und zuklappenden Augenlidern zu betrachten und ihn reden zu lassen. Er hatte den Eindruck, dies sollte nur als Einleitung dienen, wusste aber nicht, für was. Er hatte viel über den Vorfall am Nibbitjern nachgedacht, über die Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, über den Kuss, den sie zu seiner Überraschung erwidert hatte – wie das Rucken an der Angelschnur in einer Nacht, in der man nicht mit einem Fang rechnet. Aber er hatte gewusst, dass sie in seinen Bruder verliebt war. Es war Untreue. Deswegen, dachte er, war sie jetzt ihm gekommen. Wegen Harald.

Dann war sie verschwunden. Sie wohnte irgendwo im Stadtteil Grønland. Anfang Juni aber stand sie wieder da, und diesmal wusste er, dass es für immer war. Sie fingen an, echte Rendezvous zu haben. Einmal spazierten sie zum Frognerparken, um Vigelands Brücke zu bewundern, die kürzlich eröffnet worden war. Auf dem Tørtberg stand noch immer der hohe Bretterverschlag, der den Monolithen verdeckte. Langsam gingen sie an den frisch gegossenen Bronzeskulpturen vorbei. Sigurd wusste, dass seine Mutter für eine der Frauenfiguren Modell gestanden hatte, aber nicht, für welche, und sie wollte auch nicht darüber reden. Weil ihm der Gedanke daran peinlich war, erwähnte er es Maud gegenüber nicht. Mitten auf der Brücke blieb sie dann stehen und nahm seine Hände. »Ich bin schwanger«, sagte sie.

Die Nacht im Krokskogen.

Sie heirateten Ende August in der Randsfjord kirke, nur einen Steinwurf entfernt von der Glasfabrik, und zogen gemeinsam in Onkel Alberts Wohnung. Im Dezember kam Kaja zur Welt. Maud liebte ihn nicht, das wusste er, spürte er, aber sie gab sich ihm trotzdem hin, und er ließ es geschehen. Es war, als wären sie einen Pakt eingegangen. Er wurde nie wirklich schlau daraus, wie das mit ihnen beiden gekommen war, ob sie sich in einer Art Resignation einfach dem Nächstbesten in die Arme geworfen hatte, aber was ihn selbst betraf, war es aufrichtige Liebe. Auch ihre Eigenheiten lernte er zu schätzen, wie etwa ihre Angewohnheit, Kräuterschnaps aus kleinen, hübschen Gläsern zu trinken oder jede sich bietende Gelegenheit zum Lesen zu nutzen. Und obwohl er selbst kein Leser war, genoss er es, sie mit einem Buch in der Hand zu sehen, manchmal beobachtete er sie heimlich, wenn sie im Schneidersitz auf einem Sonnenflecken auf dem Teppich in der Stube saß und zwischendurch den Bleistiftstumpf über die Seite führte, als betriebe sie ein Handwerk, bei dem sie Maß nehmen musste. Dafür vergötterte er sie.

Er nahm sein Jurastudium wieder auf, fühlte sich aber ruhelos. Die ganze Zeit über war er auf der Suche nach einer Möglichkeit, die ihm aus der Schande heraushelfen konnte – er erinnerte sich an Mutters Bericht über das Osebergschiff und an seine Großmutter, die ihm ins Ohr geflüstert hatte: »Du bist von Wikingergeschlecht, vergiss das nie!« Er musste Widerstand leisten, auf die eine oder andere Art. Und als ihm dann Karsten, dessen Vater bei der Gewerkschaft war, eine verbotene Ausgabe der Zeitschrift Fri Fagbevegelse zeigte, machte er sich daran, zusammen mit Karsten und Birger eine illegale Zeitung herauszugeben. Das war im Herbst 1941, nachdem die Deutschen alle Radiogeräte eingezogen hatten und die Menschen immer gieriger wurden nach Nachrichten, die ihnen Aufschluss darüber geben konnten, was in der Welt, und besonders in diesem Krieg, eigentlich vor sich ging. Birger nahm Kontakt zu einem Mann auf, der in seinem Garten am Vettakollen einen Radioapparat in einem Vogelhaus versteckt hatte, und Karsten beschaffte, über seinen Vater, sowohl das nötige Papier als auch den Mimeografen, den sie auf dem Dachboden über Birgers Wohnung in der Observatoriegata aufstellten. »Endlich bin ich Astronom!«, sagte Birger.

Sie gaben der Zeitschrift den Namen Die Thermopylen, ein Zeichen für Widerstandsfähigkeit, und neben dem Kriegsüberblick, den Neuigkeiten aus London, nicht zuletzt über deutsche Verluste, verfassten sie eine Reihe der Artikel selbst. Das waren seine ersten Versuche, etwas zu schreiben, kleine Abrechnungen mit der Naziideologie, wiedergekäute Gedanken von Konrad Steen, in die er allerdings auch eigene Betrachtungen einstreute und dabei entdeckte, welch großen Gefallen er daran fand, auf der Schreibmaschine zu klappern, zuzusehen, wie die Buchstaben tief in die Matrize geschlagen wurden. Auch Maud schrieb für die Thermopylen, wobei Sigurd rasch merkte, dass das Schreiben bei ihr von einer ganz anderen Lust begleitet war als bei ihm, fast von einer Begierde, als fände sie endlich Verwendung für das, was sie immer in ihren Büchern einkringelte, als könne sie diese Einzelteile zu neuen, erbaulichen Erzählungen zusammenfügen. »Du weißt ja, ich werde Journalistin«, sagte sie. Sie schrieb über alles, angefangen von Ronald Fangens Roman Der Mann, der die Gerechtigkeit liebte bis hin zu Ratschlägen über den Mehranbau in Krisenzeiten, sogar hübsche, einfach gestaltete Zeichnungen konnte sie in die Folie ritzen. Mit hochgekrempelten Ärmeln saßen sie in Birgers Bude und arbeiteten, bisweilen belebt von einem Schluck White Horse aus einem nach wie vor gut gefüllten Lager. »Das hätte Platon gefallen!«, rief Birger. »Ja, endlich machen du und dein Platon sich mal ein bisschen die Finger schmutzig«, sagte Karsten.

Die Zeitungspakete erreichten die Verteiler am Boden eines Kinderwagens, mit dem sie von der Observatoriegata aus weitertransportiert wurden, mit einer schlafenden Kaja obenauf. Maud, mitunter auch Sigurd, legten die Pakete an Geheimplätzen ab. Die Leute, die sie nachts holen kamen, wussten nicht, wer sie dort abgelegt hatte.

Sie waren vorsichtig, äußerst vorsichtig. Trotzdem wurden sie erwischt. Das heißt, die Deutschen konnten weder die Redaktion noch ihre Räumlichkeiten ausfindig machen, aber Sigurd wurde geschnappt. Das war im März 1942. Er hatte alle Zeitungen ausgeliefert, hatte nur eine behalten, die er seiner Mutter, Rita, schenken wollte, damit sie stolz auf ihn sein konnte, damit sie sah, dass auch er etwas tat. Dass der Gips ab war. Drei stramme Gestapo-Männer hielten ihn an der Ecke des Schlossparks an, direkt vor seiner Wohnung. Er wurde für seine Waghalsigkeit bestraft, er hätte bedenken sollen, dass ein Mann mit Kinderwagen – mitten am Tag – Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, und sehr schnell fanden sie das eine Thermopylen-Exemplar unter Kajas Matratze. Es half nichts, dass Kaja zu weinen anfing. Sie begleiteten ihn hinein. Zum Glück war Maud zu Hause und konnte sich um das Kind kümmern, während die Deutschen auf rücksichtsloseste Weise die Wohnung durchsuchten, allerdings ohne das Geringste zu finden. Ein Passant habe ihm die Zeitung zugesteckt, er habe sie wegwerfen wollen, sie sollten etwas Verständnis zeigen, sagte er in fast einwandfreiem Deutsch und erzählte sogar, sein Großvater, ein deutscher Architekt, habe gleich hier um die Ecke in Homansbyen gewohnt.

Nichtsdestotrotz nahmen sie ihn mit zur Victoria Terrasse. Nach Sigurds Einschätzung wussten die Deutschen mehr, als sie zu wissen vorgaben. Hatte sie jemand verpfiffen? Oder nur ihn? Das Verhör verlief zunächst gemäßigt. Dann streng. Die ganze Zeit, während die Schläge auf ihn niederhagelten, dachte er, dass er es verdient habe, und hielt durch. Er wagte nicht, das später laut zu sagen, aber er genoss es beinahe, gefoltert zu werden, es linderte die Scham, das Gefühl, ein Verräter zu sein. Er hielt an seiner Geschichte fest. Tags darauf wurde er nach Grini gebracht.

Für einige war Grini die Hölle. Monate in der Einzelzelle. Schraubstöcke. Nadeln unter die Fingernägel. Auch Sigurd war mitunter Peinigungen ausgesetzt und bekam Fäuste ins Gesicht, dennoch stellte seine Zeit hier einen positiven Wendepunkt dar: »Grini hat mich wieder zu einem Menschen gemacht«, sagte er gegen Kriegsende bei einem ihrer kurzen Besuche zu Maud. Er wusste, sie würde das nicht verstehen, denn wie konnte man etwas Positives verbinden mit einem Ort, der für die meisten der Inbegriff des Grauenerregenden und Diabolischen war?

Von vielen wurde die außergewöhnliche Solidarität hervorgehoben, die sich zwischen den Gefangenen des Konzentrationslagers herausbildete, doch wenn man Sigurd Bohre fragte, waren das Wichtigste die Gespräche. Ja, über längere Phasen hinweg litten sie Hunger, wurden von den launischen, affektierten deutschen Offizieren schikaniert, mussten höllische Razzien, sadistische Nachtappelle, Strafexerzieren im Schlamm über sich ergehen lassen; sie lebten in der ständigen Gefahr, nach Deutschland verfrachtet oder schlicht und einfach hingerichtet zu werden – für Sigurd tat dies alles seiner inneren Freude, der Zufriedenheit, die er im Dialog, in den Diskussionen erfuhr, keinen Abbruch. In den ersten Monaten nach der Invasion war er verärgert gewesen, weil er, obwohl der Unterricht weiterhin stattfand und er hin und wieder den Lesesaal aufgesucht hatte, sein Studium nicht so intensiv betreiben konnte, wie er es wollte. Ihm fehlte die Motivation. Hier in Grini aber trat er in eine Universität ein, die alles in den Schatten stellte, was er sich je von einer Universität erträumt hatte.

Für Sigurd waren diese drei Jahre wie ein Aufenthalt in Platons Akademie. Zwar war es nicht gerade so, als wären sie bei ihren Unterredungen in Säulengängen lustwandelt, aber sie redeten auf dem Weg zur Morgenwäsche, zum Appellplatz, während der verschiedenen Kommandos, drinnen wie draußen, und nicht zuletzt nach Ertönen des Abendsignals. Hier, dachte Sigurd, erfuhr er schließlich, was Birger, sein platonbegeisterter Freund, ihm über den Segen des Dialogs mitzuteilen versucht hatte, nämlich nicht nur jedes Gegenargument zu verfolgen, sondern auch alle Nebenstränge, wohin auch immer sie führen mochten. Grini war für Sigurd ein kontinuierlicher Dialog, in dem alles beleuchtet wurde und die Ideen durch ihr gemeinschaftliches Streben Funken erzeugten. Es war, dachte Sigurd, seine Lebensbildungsreise. »Jeder sollte seine eigene Arche haben«, lautete eines von Mutters Mantras in seiner Kindheit und Jugend, und er hatte nie verstanden, was sie damit gemeint hatte. Erst jetzt verstand er. Grini sollte seine Arche werden, ein Ort, an dem seine wichtigsten Gedanken beheimatet waren.

Seine Unterbringung im Lager fand gerade noch rechtzeitig zu Francis Bulls Vortrag vor den Lehrern statt, am Palmsonntag 1942; die Vorträge wurden in einem Raum des Hauptgebäudes abgehalten, der Die Kirche genannt wurde, und in der darauffolgenden Zeit sollte Sigurd noch viele weitere Vorlesungen unterschiedlichen Inhalts hören, von Kaj Munks Predigten bis hin zum Erlegen von Schlagbären. Sigurd kam zu der Zeit nach Grini, als gerade eine Lagererweiterung vorgenommen wurde, und war somit einer von vielen aus allen Landesteilen und den verschiedensten Bevölkerungsschichten stammenden Häftlingen, die in alten Gardeuniformen und mit diesen ulkigen Schiffchen als Kopfbedeckung jene Baracken errichteten, über welche die Leute später noch reden sollten. Doch obwohl sie ihr eigenes Gefängnis bauten – zuerst stellten sie den Stacheldrahtverhau her und bald darauf den elektrischen Zaun mit seinen Betonpfosten und Wachtürmen –, hatte Sigurd nie eine solche Freiheit, eine solche innere Öffnung erfahren, womit nicht nur seine Beteiligung bei der illegalen Lagerarbeit gemeint ist oder seine einfallsreichen Beiträge zur Umgehung der Verbote und Befehle seitens der Deutschen, ebenso wenig das Schmuggeln von ein wenig extra Gemüse oder Kartoffeln, oder dass sie ihre Zuckerration erhöhten, indem sie Tee aus Himbeerblättern brühten, sondern die Erfahrung, wie lebensnotwendig es war, seine Gedanken und Ansichten mit anderen Menschen zu teilen.

Nie wieder werde ich einen ähnlichen Wissensdurst erleben, dachte Sigurd, als allen klar war, dass der Krieg sich dem Ende zuneigte. Er lag hinter dem Stacheldraht und dem elektrischen Zaun und wusste, wie sehr er das alles vermissen würde.

Das Wertvollste an dieser Erfahrung war, dass sie ihn dazu inspirierte, selbst Vorträge zu halten, am liebsten über norwegische Geschichte von der Sagazeit an. Beim Kartoffelschälen in der Küche, bei der Arbeit in der Wäscherei oder beim Ausgraben von Steinen, die sie später an anderer Stelle wieder eingraben mussten, nahm er im Geist bereits eine Gliederung vor für das Thema, über das er am Abend sprechen wollte, und seine Zuhörer wussten diese Vorträge zu schätzen, die er immer heimlich an verschiedenen Stellen im Lager hielt, ganz gleich, wie sehr das Feldroden oder die albernen Außenkommandos im Steinbruch ihn erschöpft hatten. Eine seiner beliebtesten »Vorlesungen« handelte von der Kindheitsoffenbarung seiner Mutter, dem Anblick des aus der Erde aufsteigenden Osebergschiffs, denn es war, als sähen seine Hörer darin eine Hoffnung, so als dachten sie, eines Tages werde auch das freie Norwegen aus dem Nazibodensatz aufsteigen, unter dem es jetzt noch begraben lag. Sigurd Bohre war kein Dichter, aber es fehlte nicht viel, dass er hier in Grini, wo er diese Geschichte so oft erzählte, zumindest vor seinen Hörern etwas ebenso Bedeutungsvolles, symbolisch Aufgeladendenes und Schöpferisches vollbrachte wie Adam Oehlenschläger mit seinem großen Gedicht über den Fund der Goldhörner in Dänemark, dieser »Glanz aus alten Zeiten«, der »Da klingt in der Erde / das alte Gold«.

Sigurd war die meiste Zeit in Baracke 8, Zimmer 2, untergebracht, wo er auch die meisten seiner Vorträge hielt, auch zur Gänze improvisierte – zum Beispiel über amerikanische Filme –, während die anderen auf drei Seiten unten oder oben auf ihren Betten saßen und Sigurd sich fühlte wie auf einer Theaterbühne, mit Publikum im Parkett und auf den Balkonen. Besonders beliebt war seine Reihe von Kurzvorträgen über berühmte Schlachten, beginnend bei dem entscheidenden Sieg des Perserkönigs Kyros über die Lydier – durch Anwendung einer »Viereckformation«. Mit der Zeit bekam er von den in der Buchbinderei Arbeitenden große Papierbögen, so dass er Bildtafeln über den Verlauf der Schlachten zeichnen konnte, Illustrationen, die sie dann im Anschluss an die Vorträge im Ofen verbrannten.

Endlich hatte er auch ausreichend Zeit, von der Skagerrakschlacht zu erzählen, ja, er hatte alle Zeit der Welt, die anderen lagen mit weit geöffneten Augen in ihren Betten und hörten ihn in aller Ausführlichkeit von diesem gewaltigen Zusammenstoß zwischen den Seeungeheuern der zwei größten Kriegsflotten der Welt berichten. Er erzählte von seinem Onkel Henry, dem Vagabunden und angehenden Journalisten, der in Edinburgh gewesen war, um über Darwin zu schreiben, der dann aber bei einem Spaziergang außerhalb der Stadt die riesigen Kriegsschiffe in der Marinebasis bei Rosyth, direkt an der Forth Bridge, gesehen hatte und neugierig geworden war. Ihm war eine Idee für einen Artikel gekommen, und am Dienstag, den 30. Mai 1916, am späten Nachmittag, gerade als der Alarm losging, war es ihm gelungen, an Bord eines dieser Kolosse zu gelangen, so dass er, halb freiwillig, Zeuge der größten Seeschlacht des Ersten Weltkriegs geworden war, an der 250 kleine und große Schiffe beteiligt waren, deshalb nämlich, weil es sich bei dem Schiff, bei welchem er an Bord gegangen war, um die HMS Lion des Vizeadmirals David Beatty handelte, das Flaggschiff der 1. Schlachtkreuzerschwadron, und der Onkel bald Edinburgh hinter sich verschwinden sah. »Jetzt haben Sie endlich was, worüber Sie schreiben können«, soll der Admiral um drei Uhr am darauffolgenden Tag gesagt haben, kurz bevor die vorderste Streitmacht mit der Speerspitze der Deutschen aufeinanderprallte, unter der Leitung von Admiral Franz von Hipper an Bord der SMS Lützow. Darüber, dass sein Onkel diese Schlacht als einen Tag des Jüngsten Gerichts erlebt hatte, ließ Sigurd vor der Versammlung nichts verlauten, obwohl Onkel Henry genau das in seinem kritischen, praktisch direkt im Anschluss an die Schlacht verfassten Artikel zu vermitteln versucht hatte, denn von der Brücke aus hatte Henry gute Aussicht gehabt und gesehen, wie in der ersten Phase zwei britische Schlachtkreuzer so schwer getroffen wurden, dass beide Giganten explodierten und versanken, und wie danach, in einer späteren Phase, zwei weitere britische Kreuzer in ein titanisches Feuerwerk verwandelt wurden und mit Tausenden von Männern an Bord untergingen. Und nicht nur das, auch die HMS Lion kassierte eine Reihe von Treffern, wodurch kontinuierlich irgendwo an Bord Feuer ausbrach und jener Norweger, der am Morgen des 2. Juni in Schottland an Land ging, dermaßen geschockt und desillusioniert war, dass er bald in die USA flüchtete, weil er in einem Land leben wollte, in dem Menschen vieler Nationalitäten zusammen existierten. Darüber verlor Sigurd kein Wort, sondern verwendete aus dem Artikel des Onkels nur die harten Fakten. Sigurd wusste alles, absolut alles über die Skagerrakschlacht, und jetzt, in der Baracke in Grini, bot sich ihm die Gelegenheit, in aller Ruhe die Namen der größten Schiffe und ihrer Kapitäne aufzuzählen, sowohl die der Grand Fleet als auch die der deutschen Hochseeflotte, Papier um Papier füllte er mit Zeichnungen über den Verlauf der Schlacht, die Positionen der Schiffe, und legte seinen Mithäftlingen die Fehleinschätzungen der Deutschen, insbesondere aber der Briten dar – wie etwa, dass Admiral Beatty in der ersten Phase seine Schiffe nicht im Verband geführt hatte und der Oberkommandierende, Admiral John Jellicoe, die Deutschen im Laufe der Nacht entkommen ließ. Dieser Vortrag wurde beinahe mit stehenden Ovationen beantwortet – als ob diese Menschen Trost darin fanden, über den Wahnsinn des Krieges zu hören –, und Sigurd musste ihn auch in anderen Baracken mehrmals halten. Über mehrere Wochen hinweg wurde er nur der Admiral genannt.

Für Sigurd Bohre war dies eine höchst befriedigende Zeit. Für eine Geringfügigkeit wurde er ins Gesicht geschlagen, hatte oft vor Hunger ein Loch im Bauch, doch gleichzeitig jubelte er innerlich. Nie zuvor hatte er etwas auch nur annähernd so Bedeutungsvolles erfahren wie bei seinem Aufenthalt in diesem Lager.

In seinem ersten Herbst in Grini erhielt Sigurd eine gute und eine schlechte Nachricht.

Auf einem seiner Außenkommandos in der »Waldgruppe« traf er Maud auf dem Berghang oberhalb von Grini, wo sie ihm berichtete, dass sie wieder schwanger sei. Er schaute sie an, ihre Augenlider, die sich ein wenig langsamer bewegten als bei anderen, besonders dann, wenn sie über etwas Ernstes oder Wichtiges sprach. Immer war es der Gedanke an Mauds Augenlieder, an dem er sich aufrichtete, wenn er wieder einmal in die Einzelzelle gesteckt wurde.

Ende November arbeitete er an dem Zaun, der um den Acker »Øst-Preussen« herum angelegt wurde, und konnte sich zu einem Treffen mit seiner Mutter bei der großen Eiche beim Gamle Akervei hinausschleichen, und hier, als sie beide dort im Gebüsch kauerten, berichtete Rita ihm von Esther, Bjørgs jüdischer Freundin, die von der norwegischen Polizei verhaftet und mit dem Gefängnisschiff Donau deportiert worden war. Obwohl sie immer skeptisch gewesen war, weil ihre Tochter so viel mit der stillen, immerhin aber Geige spielenden Freundin zusammen war, konnte Sigurd sehen, wie wütend seine Mutter war. Bjørg hatte am Kai gestanden, die deutschen Wachen angeschrien und sie gefragt, wo sie ihre lebensgefährliche Reinheitslehre herhätten. Wieso nahmen sie nicht auch sie mit? Sie sei ein Bastard, in ihren Adern fließe norwegisches, deutsches und spanisches Blut! Rita schüttelte den Kopf. Sie machte sich Sorgen um ihre Tochter. Bjørg hatte schon im ersten Kriegssommer geheiratet, und ein Jahr später war Laila zur Welt gekommen. Auch ihretwegen war Rita in Sorge, weil Laila ihrer Meinung nach nicht ganz normal aussah. Und nun erwartete Bjørg auch noch ein zweites Kind. »Aber war Esther denn nicht in einem Versteck?«, fragte Sigurd. »Doch«, sagte Rita, »aber sie haben sie gefunden. Und das Schlimmste: Ich glaube, Max hatte seine Finger dabei mit ihm Spiel.« Auch früher hatte seine Mutter bereits angedeutet, Max Qviller sei ein Kollaborateur. Und es sollte noch einige Zeit vergehen, bis Sigurd seine Mutter wiedersah. Als die Universität im darauffolgenden Jahr gesperrt wurde, war Rita längst untergetaucht. Sigurd waren Gerüchte zu Ohren gekommen, sie hätte sich unerschrocken im Widerstand betätigt. Sicher wegen alldem, was mit Harald passiert ist, dachte er. Die Trauer. Maud stattete ihm kurze Besuche ab, selten einmal auch mit seiner Tochter und dem neugeborenen Sohn. Sigurd fragte sie nach seiner Mutter, aber Maud wusste genauso wenig wie er.

Er hörte von Birger und Karsten. Obwohl das Betreiben illegaler Zeitungen mit der Todesstrafe geahndet werden konnte, hatten Sie die Herausgabe der Thermopylen fortgesetzt. Sie waren von der Gestapo eingekreist und festgenommen worden. Vom Dachboden in den Keller. Karsten war nach Nordnorwegen gebracht worden, während Birger in Deutschland gelandet war. Jetzt würde er in Wirklichkeit erleben, wie es war, mit dem Rücken zum Ausgang der platonischen Höhle zu sitzen, dachte Sigurd.

Durch ein ausgeklügeltes System fanden alle Neuigkeiten ihren Weg durch die Zäune nach Grini. Noch nie war Sigurd so reich mit Informationen versorgt. Sie wussten, was sich in der Welt ereignete, wie es in Nordafrika zuging, sie hörten von Stalingrad, später von der Invasion in Sizilien, sie waren sich im Klaren darüber, dass das Kriegsglück der Achsenmächte sich gewendet hatte. Im Sommer 1943 wurde Hamburg, die Heimatstadt seines Großvaters, von den Alliierten bombardiert. Die Operation lief unter dem Codenamen Gomorrha, und die Brandbomben erzeugten ein Inferno, bei dem Gerüchten zufolge 50.000 Zivilisten zu Tode gekommen waren, unter ihnen auch Otto Keller, sein Vater, wie Sigurd später erfuhr. Die Moral der Deutschen sollte durch Terror gebrochen werden. Sigurd erinnerte sich an die Deutschlandreise, die er mit seinem Vater und seinem Bruder unternommen hatte, und die genau dort, in Hamburg, begonnen hatte. Vor dem Krieg hatte Harald ihm von dem Brief erzählt, in dem der Vater geschrieben hatte: »Hier bin ich sicher.« Und nun waren Mütter mit verkohlten Kinderleichen in den Koffern aus der Stadt geflüchtet. Ja, es stimmte, was seine Mutter sagte: In der Regel sind die Grausamkeiten gleich verteilt.

Direkt vor Kriegsausbruch war Sigurd der Arbeiterpartei beigetreten, und im Herbst 1944 ereignete sich etwas Entscheidendes. Er lernte Einar Gerhardsen kennen, der gerade aus dem KZ Sachsenhausen nach Grini zurückgebracht worden war. Die Anzahl der Häftlinge näherte sich den 5.000 und die Baracken waren überfüllt. Von dem Zeitpunkt an, als Sigurd eine ruhigere Arbeit als Assistent im Personalbüro zugeteilt wurde, nahm er an den geheimen Zusammenkünften teil, die in Verschlägen, Kellern und Werkstätten abgehalten wurden und bei denen die Frage erörtert wurde, auf welcher Grundlage, sobald der Frieden kam, der Wiederaufbau Norwegens stattfinden sollte. Bei diesen Diskussionen setzte sich Sigurd insbesondere für die Neuorganisation der Wirtschaft nach einem anderen Modell ein. Plötzlich fand er Verwendung für die Theorien über staatliche Maßnahmen, die er aus John Maynard Keynes Buch in Erinnerung hatte, ein Buch, das auch Gerhardsen gelesen hatte, und es ist keine Übertreibung: Sigurd – von politischen Gesinnungsgenossen auch der Admiral genannt – trug seinen Teil dazu bei, einige der ökonomischen Ideensamen zu pflanzen, die in den Jahren nach Kriegsende aufkeimen und in der Entwicklung jener Wohlstandsgesellschaft zur Blüte gelangen sollten, die selbst in unserer Zeit noch mit Interesse studiert wird. Ohne dass man sich recht im Klaren darüber war, lag sehr viel Macht zusammengeballt in dieser kleinen Gruppe, die im Gefangenenlager Geheimtreffen abhielt, und viele sind der Meinung, dass hier der Ursprung zu finden sei für die später bekannt gewordene Redensart: »Es wurde miteinander gesprochen.«

Unserer Ansicht nach, und insofern auch eine Erklärung dafür, weshalb wir uns zu einer so ausführlichen Erzählung über Sigurd Bohre veranlasst sahen, wurde hier in Grini das bislang erfolgreichste Gesellschaftsmodell bis zur Einigkeit hin ausdiskutiert, oder auskonversiert, ein Modell, das schon vor Kriegsbeginn im Ansatz bereitlag: jenes rätselhafte Phänomen, das unter dem Namen »Sozialdemokratie« firmierte – auch »das Einhorn der politischen Ideologien« genannt. Und Sigurd Bohre trug ebenfalls dazu bei, er war einer derjenigen, die am eifrigsten mit wichtigen Gesichtspunkten aufwarteten in diesem langen Dialog, zum Beispiel beschloss er seine Saga-Nacherzählungen immer mit der Äußerung, er sehne sich nicht nach einer neuen Wikingerzeit, sondern nach einer Gleichheitszeit. Sollte es nicht möglich sein, aus alldem eine neue Glanzzeit entstehen zu lassen – gegen den Rassen- und Ungleichheitsgedanken der Nazis? Er unterhielt sich mit Johs. Andenæs über die Jurisprudenz, er sprach über Ökonomie, zuerst mit Ragnar Frisch, gegen Ende hin auch mit Johan Vogt, und mit Anatol Heintz redete er über die Entwicklung des Menschen. Sigurd Bohre sammelte Kenntnisse, er bereitete sich vor, er sah den Tag kommen, an dem ihm all dieses Wissen von Nutzen sein würde.

Als der Krieg zu Ende ging, jubelte Sigurd genauso laut wie die anderen, doch in dem Bus, der sie von Grini zu dem fahnengeschmückten Universitetsplassen brachte, spürte er, fast gegen seinen Willen, wie sich diesem Jubel auch Kummer beimischte. Die Tage, obschon jetzt immer heller, würden grauer werden. Nie wieder würde er die eigentlichen Volksnationalhymnen »Oh, ich kenne ein Land« oder »Zwischen Hügeln und Bergen« mit derselben Inbrunst singen können wie vor der Nachtruhe in der Baracke.

IV

Sigurd Bohre ist in Gedanken versunken. Er ist auf dem Weg nach Hause zu seiner Familie, zu Maud, Kaja und Roar. In der Stadt gibt es ein Fest, britische Kriegsschiffe liegen im Hafen, und der Kronprinz hat am Schlossbalkon eine Ansprache gehalten. »Vielleicht mögen wir an diesem Tag ein wenig besser verstehen, was es mit der Vorstellung von der Wiederkunft Christi auf sich hat«, sollte der Pfarrer Konrad Steen, nicht ohne einen säuerlichen Unterton, in der Zeitung schreiben. Langsam schlendert Sigurd die Welhavens gate hinauf, Welhaven, der vielem »Norwegischen« eher skeptisch gegenüberstand. Unterwegs inmitten von Fahnen und Hurrarufen, Kusshänden und strahlenden Gesichtern, spürt Sigurd, wie ihm vor Eifer ein Kribbeln über den Rücken läuft. Es ist ein warmer Maitag, die Spitzen der Laubbäume scheinen zu leuchten, er wirft sich die Jacke über die Schulter und krempelt demonstrativ die Ärmel seines weißen Hemds hoch, er ist bereit, mit anzupacken, Gemeinschaftsarbeit steht an, der Wiederaufbau des Landes, er ist voller Einfälle, Ideen, er will mit anfassen, will nach Hause und etwas aufschreiben, bevor es ihm wieder entfällt, denn er trägt die Hoffnung in sich, dass es auch in Friedenszeiten, außerhalb des Gefangenenlagers, so weitergehen wird – dass die Leute klugen Erziehern genauso begierig zuhören werden wie in Grini.

Als er aus einem Hinterhof Gegröle vernimmt, wirft er einen Blick durch das Tor. Mehrere Leute haben sich um eine junge Frau herum versammelt, aus deren Gesicht die Angst spricht, und als er jemanden »Verdammtes Deutschenflittchen« rufen hört, wird ihm klar, was hier abläuft. Ja, sieh einer an, denkt er, jetzt seid ihr auf einmal mutig geworden. Um wieviel weniger gefährlich war es denn auch, sich vor einem armen, verheulten norwegischen Mädel aufzuplustern als vor einem deutschen Maschinengewehr, das dich von einem Hügel auf der gegenüberliegenden Seite einer zu verteidigenden Brücke mit Blei bespuckte.

Es ärgert ihn, in seinen Tagträumen unterbrochen zu werden, denn er hat das Parteibuch in der Tasche stecken und weiß, die Arbeiterpartei wird in den kommenden Monaten vor der historischen Chance stehen, eine entscheidende Rolle in der Geschichte zu spielen, und dieses Parteibuch wird wie ein Siegel des Kublai Khan sein, ein Pass, der einem freies Geleit verschafft. Schon sieht er vor sich, wie er quer durch das ganze Land reist und vielleicht, sofern sein Engagement sich als wichtig genug herausstellt, mit der Zeit einen Platz in der Parteiführung bekommen wird. Denn nichts wird wichtiger sein als der wirtschaftliche Aspekt in der Politik. »Tatsächlich wird die Welt von wenig anderem gesteuert«, wie Keynes am Ende seines Buches schrieb. Die große Herausforderung wird darin bestehen, zu versuchen, die Entwicklung mit politischen Mitteln zu beeinflussen, jene Zufälle, jene irrationalen Kräfte im Zaum zu halten, die die Wirtschaft beherrschen.

Verhindern, dass ihre Anführer sie abermals im Stich ließen.

Das Gegröle im Hinterhof wird lauter, die junge Frau in der Mitte des Kreises hat inzwischen zu weinen begonnen. Sie heult hysterisch und schreit, sie habe nichts Falsches getan, sie sollen sie in Ruhe lassen. Auch andere sind stehen geblieben.

In Sigurds Kopf brodelte es nur so vor Ideen, er wollte die Diskussionen fortsetzen, die sie auf der Böschung hinter den Baracken in Grini geführt hatten, an Gedanken weiterarbeiten, die er im Vieraugengespräch mit Gerhardsen ausgesponnen hatte. Denn welche Lehren musste man aus dem Krieg ziehen? Ja, dass Norwegen nicht in seiner eigenen Besenkammer verbleiben, sich nicht isolieren durfte in dem Glauben, man könne neutral bleiben. Das wäre, als baute man ein neues Grini, Mauern, die einen selbst einsperrten. Das funktioniert nicht in einer Zeit, in der jede Nation vom Geschehen in der restlichen Welt abhängig ist, hatte Gerhardsen gesagt. Ja, dachte Sigurd, lass uns niemals die wichtigste Lektion aus diesen fünf Jahren vergessen: Wir sind Teil einer größeren Geschichte.

Das Geschrei und die hitzigen Zurufe im Hinterhof wurden immer lauter. Sigurd, im weißen Hemd und mit hochgekrempelten Ärmeln, trat ein paar Schritte in den Torweg. Es war ein wunderschöner Maitag, ein Tag der Freiheit, und das Sonnenlicht verlieh sogar den verdreckten Fassaden in der Welhavens gate einen warmen, einladenden Charakter. Er hatte keine Lust, sich hier einzumischen, er wollte einfach nur nach Hause, heim zu Maud, heim zu den Kindern. Wollte die Wohnung mit Schmierseife putzen. Aber etwas an dem Schauspiel ärgerte ihn und veranlasste ihn, den Hinterhof zu betreten. Gut dreißig Menschen, sowohl Frauen als auch Männer, standen in einem Kreis um die junge Frau. Zwei Männer hielten sie auf einem Stuhl fest. Daneben saß eine Frau und schnitt ihr die Haare ab, schnitt sie einfach ab, als ob sie ein Schaf wäre oder etwas, das noch weniger wert war, denn das war es, was hier passierte, eine junge Frau wurde geschoren, es sah furchtbar aus, mit klaffenden Löchern an einigen Stellen, an denen die Kopfhaut hindurchschimmerte, während an anderen noch ganze Büschel dranhingen.

Der letzte Gedanke, den Sigurd in seinen Tagträumereien dort draußen in der Welhavens gate verfolgt hatte, war das Leitmotiv der zukünftigen norwegischen Gesellschaft. Und wie lautete das? Ja, die Steuereinnahmen, dieser Reichtum, sollte an alle verteilt werden. Und dasselbe, dachte er, während er dastand und zusah, wie ein hilfloses Mädel zuschanden geschoren wurde, dasselbe sollte für die Gerichtsbarkeit gelten: Die Gerechtigkeit sollte aufgeteilt werden, es sollte Gleichheit vor dem Gesetz herrschen. Besonders bei den Prozessen gegen die Kriegsverbrecher, die jetzt anstanden. In Grini hatten sie sich über die vielen Kriegsprofiteure unterhalten, die während der Besatzungszeit finanziellen Gewinn eingestrichen hatten. Das waren die eigentlichen Kollaborateure. Das Werk musste am Laufen gehalten werden, so lautete der Refrain. Deutschland hatte Fisch gebraucht, und mit dem norwegischen Export war die Hälfte ihres Bedarfs gedeckt worden. Besonders das Bauwesen hatte außerordentlich gute Zeiten erlebt. Viele Kriegsgewinnler. Besser die drankriegen und die kleinen Verräter mit milderen Strafen davonkommen lassen. Besser denen die Haare scheren als irgendwelchen Frauen, die sich in die falsche Person verliebt hatten. Und Strafen verhängen für die ganzen Schleimscheißer, die sich vor der Verantwortung gedrückt hatten. Die Bürokraten, die, weil es ihre »Pflicht« war, ohne Aufmucken jeden deutschen Befehl auf Punkt und Komma ausgeführt hatten. In den Baracken hatte die Auffassung geherrscht, jene Polizisten sollten hingerichtet werden, die den Hitlergruß vollführt hatten, die andere hinter Gitter gebracht und ganze Viehherden mit Juden zu den Gasöfen verfrachtet hatten, die dann aber, sowie sie erkannten, dass der Wind aus einer anderen Richtung wehte, einfach ihr Mäntelchen umgedreht und der Milorg ein paar Informationen zugesteckt hatten und glaubten, dadurch wäre alles vergessen und keine Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch könnten ihnen etwas anhaben.

»Stopp!« Es war Sigurd, der da rief.

Er hatte vorgehabt, sich aus dem Torweg zurückzuziehen, weiterzugehen, nach Hause zu gehen. Aber er hatte bereits einmal zu oft Feigheit bewiesen.

Einige drehten sich zu ihm um, aber die meisten machten einfach weiter und spotteten auf das Mädel, das zusammengekauert auf dem Stuhl saß und sich den Kopf hielt. Es roch nach Urin. Es roch nach Scham. Es roch nach Hass. Jemand schlug nach ihr, sie wollten sie nicht bloß mit dem Verlust ihrer Haare davonkommen lassen, sondern zerrten an ihren Kleidern, wollten sie ausziehen. Wer waren diese Menschen? Was hatten sie selbst im Krieg geleistet? Im besten Fall war alles, was sie an Widerstand zustande gebracht hatten, zum 70. Geburtstag von König Haakon mit einer kleinen Blume im Knopfloch herumzulaufen. Ein ganzes Volk mit eingegipstem Arm. »Stopp, was macht ihr da!«, rief Sigurd noch einmal. Jetzt wurde es still, und alle wandten sich um. »Hey, der Kronprinz ist zurück«, sagte er. »Wir müssen ein Land wiederaufbauen. Wir können uns nicht mit so etwas aufhalten.« Er deutete mit der Hand auf die Szene, die sich ihm darbot, ein Kreis aus Henkern um eine junge, zierliche Frau mit vor Tränen und Rotz verschmiertem Gesicht.

»Was meinst du?« Einer von den Kerlen, die das Mädchen festhielten, trat einige Schritte auf ihn zu.

»Ich meine, wir sollten mit Würde auftreten«, sagte Sigurd. »Das hier«, er streckte abermals den Arm aus zu der jungen Frau, die auf dem Stuhl saß wie auf einem Schafott, »gehört nicht dazu. Wenn wir Rache wollen, müssen wir andere finden, an denen wir uns rächen können.«

Der Mann, ein großer Mann, trat nahe an ihn heran. »Sie ist mit einem Scheiß-Deutschen ins Bett gestiegen!« Es klang wie ein Fauchen.

Er befand sich in einer unangenehmen Lage. Die Menschen in diesem Hinterhof waren keine Individuen mehr, sie waren eine Masse. Ein Monster. Dasselbe, gegen das man fünf Jahre lang gekämpft hatte. Deutsche, die zu Hause gewiss nette Familienväter waren, die einem aber im Gefangenenlager ohne mit der Wimper zu zucken eine Reitgerte ins Gesicht schlugen. Sigurd stand da mit hochgekrempelten Ärmeln und wollte bloß nach Hause, er wollte nach Hause und Maud lesend auf einem Sonnenflecken auf dem Teppich sitzen und Absätze mit einem Bleistift einkreisen sehen, er wollte seine beiden Kinder beim Spielen umherlaufen sehen, sie fest an sich drücken, er wollte die Wohnung putzen, damit sie nach Schmierseife duftete. »Nicht sie ist der Schurke«, sagte Sigurd und versuchte, ruhig zu bleiben. Er sah die Wut in den Augen des Mannes, auch in denen der anderen in diesem Hinterhof. Fünf Jahre waren sie unterdrückt worden, und der Zorn war innerlich gewachsen. Jetzt musste er raus. Irgendwie. Egal, um wen es dabei ging.

»Lasst sie gehen und helft lieber mit, die großen Fische zu fangen!«, rief er. »Offiziere, Beamte, Richter, Direktoren, Industrielle. Habt ihr denn schon alles vergessen?«

Sigurd wollte einfach nur weg von dort. Er war bester Laune gewesen. Hatte sich darauf gefreut, wieder in Birgers Bude zu sitzen und White Horse zu trinken, zu reden, über Platon zu reden. Sofern Birger die Höhle dort unten in Deutschland überlebt hatte. Er freute sich auf ein Wiedersehen mit Einar Gerhardsen. Einar. Jetzt ging es nur noch um sie. Um Einar und ihn. Sigurd und Einar, sie würden die Sache vorantreiben, eine Gesellschaft auf die Beine stellen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Basierend auf einer Gleichheit, in der auf die Ungleichheit Rücksicht genommen wurde. Mit Sozialfürsorge für alle.

Sigurd. Der Admiral.

Und jetzt? Er sollte zusehen, dass er von hier wegkam, weit weg von diesem Hinterhof, diesem Dunst von etwas Tierischem, Nicht-Menschlichem.

»Bitte. Zeigt Barmherzigkeit«, sagte er, wobei sein Blick einige Sekunden dem der jungen Frau begegnete.

Sigurds letzte Äußerung musste die Wut des Mannes noch zusätzlich verstärkt haben, denn er versetzte Sigurd einen Hieb. Einem Mann, der es wagte, eine erbärmliche symbolische Handlung zu unterbrechen, bei der eine junge Frau gebrandmarkt werden sollte, die es nicht geschafft hatte, ihr Geschlechtsteil von den verdammten Deutschenschweinen fernzuhalten.

Nicht der Schlag war es, der Sigurd Bohre das Leben kostete, der Schlag an sich war nicht fester als bei jeder anderen Prügelei. Im Gefangenlager hatte Sigurd viele vergleichbare Schläge eingesteckt, auch härtere. Es war der Sturz, der sich als fatal herausstellte. Sigurd fiel hintenüber, und sein Kopf traf auf die Kante eines Pflastersteins, der etwas weiter herausstand und außerdem schief war. Wahrscheinlich schlug er auch deshalb so hart auf, weil er das Gleichgewicht verlor und sich im Fallen nirgendwo abstützen konnte.

In einem Hinterhof in der Welhavens gate, während in der Stadt um ihn herum die Menschen den Frieden bejubelten, lag Sigurd auf den Pflastersteinen. Er lag da im weißen Hemd, mit hochgekrempelten Ärmeln, während das Blut und das Leben aus seinem Körper flossen.

Femina erecta

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