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Ein Schalker verabschiedet sich


Susanne Breuer

geb.: 1962

Verwaltungsangestellte

Sympathisantin des FC Schalke 04

Das ist die Geschichte meines Schwagers Rolf. Er hat sie mir erzählt, als vor kurzem sein Vater plötzlich und unerwartet verstarb. Es sind unter anderem diese Erinnerungen, die helfen, die Trauer, den Verlust zu verarbeiten. Es sind diese Erinnerungen, in denen sein Vater weiterlebt. Das hier ist für dich, Rolf, und für Hubert, »deinen« Schalker.

Diese Woche ist mein Vater gestorben. Plötzlich und unerwartet hat er sich davongemacht – Leere!

Er war nur kurze Zeit krank. Niemand hat geahnt, dass es so schnell gehen würde. Erst vor gut drei Wochen haben wir ihn ins Krankenhaus gebracht. Nach den ersten Untersuchungen hieß es, man könne nichts finden und wir konnten ihn schon nach wenigen Tagen wieder nach Hause holen. Aber die Beschwerden blieben, wurden schlimmer. Als sein Gejammer nicht nachließ, haben wir – meine Schwester und ich – beschlossen, ihn in ein anderes Krankenhaus zu bringen. Er hat sich nur ein bisschen gewehrt und schließlich unserem Drängen nachgegeben. Dann der Schock für uns alle. Ein Riss im Darm, eine erste Notoperation erfolgt.

Mich überkommen Erinnerungen – geballt und hammerhart.

Ich bin 14. Wir sind »auf Schalke« – zum ersten Mal gemeinsam im Stadion, zum ersten Mal für mich überhaupt. Mein alter Herr ist Fan mit Leib und Seele. Er verpasst kein Spiel. Über der Couch im Wohnzimmer hängt eine große Schalke-Fahne. Er schläft in Schalke-Bettwäsche und trocknet sich mit einem Schalke-Handtuch ab, wenn er geduscht hat. Jetzt steht er hier, in voller Montur: ein Trikot mit der Nr. 10 drauf, den blau-weißen Schal um den Hals gewickelt und eine passende Kappe auf dem Kopf. Ich finde, er sieht ein bisschen torfig aus, aber er meint nur easy: »Fan ist Fan und wenn schon, denn schon!« Irgendwie scheint das zu stimmen und ich frage mich, ob so was auch erblich ist. Ich bin nämlich von Kindesbeinen an Schalke-Fan – wie er, spiele selbst Fußball in unserer Dorfmannschaft. Ein Poster vom FC Schalke 04 hängt in meinem Zimmer und eine Chronik zur Vereinsgeschichte hab ich auch. Natürlich kenne ich die Spieler. Namen wie: Sobieray, Lütkebohmert, die Kremers, Abramczik, Fischer – kein Thema. Irgendwie habe ich mir auch schon lange gewünscht, mal mit ins Stadion zu kommen, aber meine eigene Kohle hat für die Karten nie gereicht – sparen war damals nicht so mein Ding – und meinen Vater wollte ich nicht anpumpen, dafür war unser Verhältnis ein bisschen zu angespannt. Zu Weihnachten hat er mir dann die Karten geschenkt: »Damit du mal siehst, wie das ist – mittendrin!« Zuerst bin ich skeptisch, soll ich mir das wirklich antun – mit meinem »Alten« ins Stadion? Aber wenn das ein Friedensangebot sein soll, kann ich es auch nicht ausschlagen. Jetzt stehe ich also hier: mitten im Getümmel. Es ist noch das »alte« Parkstadion. An die Arena denkt zur jetzigen Zeit noch keiner. Nichts mit Schiebedach und Rasenabdeckung. Aber das spielt für das Feeling keine Rolle. Die Stimmung kocht schon vor Spielbeginn, reißt auch mich mit. Es kribbelt im Bauch und ich kriege eine Gänsehaut vor Aufregung. Ich kann zwar nicht alles sehen, bin halt noch etwas kurz geraten, aber das ist eigentlich egal. Was zählt, ist nur das Dabeisein. Lauthals stimmen Paps und ich in die Fanchöre ein, schwingen die blau-weiße Fahne mit dem S04-Logo. Dann laufen die Mannschaften ein und die Fans unserer Gegner haben alle Mühe, gegen unser Gejohle durchzukommen.

Wir stehen zusammen: einer für alle, alle für einen.

Wir haben ein paar Stunden auf dem Krankenhausflur vor dem OP verbracht. Banges Warten, gequält von den Gedanken, ob er es wohl schafft. Als die Tür aufschwingt, stehen meine Schwester, meine Frau und ich aufs Äußerste gespannt da und sehen den Chefarzt mit fragenden Augen an. Er lächelt. Ein gutes Zeichen, was gleich darauf die Diagnose bestätigt. Die OP ist gut verlaufen und Vater befindet sich schon auf dem Weg zur Intensivstation. Einzeln dürfen wir zu ihm. Ich gehe zuerst. Blass sieht er aus, aber er ist wach. Voll verkabelt: EKG, Blutdruck, Puls – alles, was dazugehört. Im ersten Moment erschreckt es. Als er mich sieht, huscht ein Strahlen über sein Gesicht. Das beruhigt mich ein bisschen. Ich komme gar nicht erst dazu, mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Bevor ich überhaupt einen Ton sagen kann, platzt er nämlich schon raus: »Endlich kommst du. Ich will doch wissen, wie die Auslosung gelaufen ist.« An diesem Tag hat die Gruppenauslosung für die Europa League stattgefunden – und er konnte das nicht sehen! Lächelnd erzähle ich ihm das Ergebnis der Auslosung. Weil ihm anscheinend nichts wichtiger ist, beruhige ich mich. Offensichtlich geht es ihm gut, denn gleich darauf sinkt er erleichtert in den Schlaf.

Es ist irre. Ich hätte nie gedacht, dass mein alter Herr so aus dem Häuschen geraten kann. Immer wieder haut er mir kraftvoll auf die Schulter: »Ne Jung, dat is doch doll hier?« Ich muss zugeben, dass es wirklich ein besonderes Erlebnis ist. Ob man will oder nicht, die Stimmung der Fans um einen herum ist mitreißend. Ich stimme in den Jubel mit ein und brülle meinen Unmut heraus, genau wie die vielen anderen. Es ist fantastisch. Mit jeder Minute gehe ich in dieser Stimmung ein wenig mehr auf. Trotz aller Bedenken vorher, mit meinem Vater ins Stadion – das kann doch nur peinlich werden. Auch oder gerade weil mein Dad und ich uns sonst nicht immer ganz grün sind. Hier und jetzt spielt das alles keine Rolle mehr, in diesem Moment bin ich ihm für dieses Erlebnis dankbar. Hier sind wir »auf Schalke« – zwei Kerle, ein Herz für diese Mannschaft.

Er ist jetzt auf die »normale« Station verlegt worden. Wirklich besser geht es ihm nicht. Er will nicht essen, hat Angst, dass ihm immer noch schlecht wird und er das Essen nicht bei sich behalten kann. Die Krankenschwester schafft es mit viel Geduld und gutem Zureden, dass er wenigstens ein bisschen Suppe löffelt. Dass er sich so hängen lässt, nervt uns ein wenig und wir reden dauernd auf ihn ein. Er soll essen und nicht alles so schwarz sehen. Schließlich war es die erste OP in seinem ganzen Leben und dann gleich eine so große. Er ist 72, da steckt man auch die Narkose nicht mehr so einfach weg wie mit 20. Aber er scheint irgendwie keine Kraft mehr zu haben, keinen echten Lebenswillen.

Das Spiel läuft fürs Erste ganz gut. Die Jungs liefern sich einen tollen Ballwechsel mit dem Gegner. Das Glück scheint auf »unserer« Seite, als das erste Tor für Schalke fällt. Doch die Elf unterschätzt den Siegeswillen des Gegners und erlaubt sich Flüchtigkeitsfehler in der Abwehr und so kassieren sie noch vor Ende der Halbzeit den Ausgleich. Ein enttäuschtes »Ah!« geht durch die Reihen, einzelne Buh-Rufe sind zu hören, als das Tor fällt. Aber wir Fans lassen uns nicht entmutigen. Wir feuern die Elf an mit unserem Optimismus und unserem Zusammenstehen. Und so gehen die Mannschaften mit einem 1:1 zur Halbzeit in die Kabinen.

Er muss auch übers Wochenende noch bleiben. Ein Samstag ohne Fußball – für meinen alten Herrn eine Qual. Sein Zimmergenosse will nicht fernsehen, von dem Geflimmere bekomme er Kopfschmerzen. Mein Vater mag sich nicht auflehnen, es fehlt ihm die Kraft dazu. Doch die ganze Zeit über hat er Hummeln in der Hose. Kein Spiel, erst recht kein Ergebnis. Für ihn ein absolutes No-Go. Er hat mit mir abgemacht, dass ich auf der Station anrufe und die Ergebnisse durchgebe, sobald die Spiele gelaufen sind. Die Schwester lacht bei meinem Anruf, ist aber dann gerne bereit, das Ergebnis an ihn weiterzugeben. Wie sie mir später erzählt hat, war er total gerührt: »Dat is mein Jung. Der weiß, dass sein Vater ohne Fußball nicht sein kann.« Zum Glück haben die Schalker an diesem Tag auch noch gewonnen.

Anders sieht es vor so vielen Jahren aus. Nach dem Ausgleich der Gegner sind die Spieler zunächst wie gelähmt. Nach der Halbzeitpause spielen sie, als hätten sie noch nie im Leben einen Ball gesehen, und ein Sieg scheint gar in weiter Ferne. Im Fanblock machen sich Enttäuschung und Unmut breit. Plötzlich bricht es aus Vaddern heraus: »Ihr ›Superhelden‹! Ihr könnt doch jetzt nicht verlieren! Der Jung is heut et erste Mal mit im Stadion! Die Blamage könnt ihr mir doch jetzt nicht antun!« Ich schaue ihn verdattert an. So habe ich ihn echt noch nie erlebt, schon gar nicht, dass er sich für mich so ins Zeug schmeißt. Irgendwie tut das gut. Wir hatten in letzter Zeit öfter mal Differenzen. Er kann nicht damit umgehen, dass ich langsam flügge werde und versuche, meinen eigenen Weg zu finden. Da kracht es halt manchmal ganz kräftig und es kann passieren, dass wir tagelang nicht miteinander reden. Das scheint im Moment alles so weit weg. Ich bin ihm einfach nur dankbar. Sagen kann ich ihm das nicht. Ich hoffe einfach, dass er es an meiner Begeisterung merkt.

Die Woche vergeht. Sein Zustand wird nicht wirklich besser. Am Dienstag besuche ich ihn. Er ist noch immer niedergeschlagen. Als er aber dann davon anfängt, dass er ohnehin nicht mehr heimkommen wird, werde ich wütend. Er soll sich nicht so anstellen und schon gar nicht so dumm daherreden, schimpfe ich los. Natürlich komme er nach Hause. Nach so einer großen OP ginge das halt nicht so schnell. Er müsse Geduld haben. Aufgewühlt und sauer fahre ich nach Hause. Es dauert eine ganze Weile, bis sich meine Aufregung und Wut legen. Meine Frau verspricht mir, Dad am nächsten Tag zu besuchen und noch mal mit ihm zu reden.

Mit der Mannschaft passiert etwas. Als ob sie die Worte meines Vaters gehört hätte, findet sie mit einem Mal ihr Spiel. Da sind sie wieder: »unsere Schalker« – macht- und kraftvoll. Der Gegner ist total überrascht von dieser Einheit, verliert den Rhythmus und das Spiel. Am Ende siegt der FC Schalke 04 mit 2:1! Als der Abpfiff ertönt, reißt mein Vater mich in seine Arme. Während er mich fast erdrückt, jubelt er immer wieder: »Siehste, Jung. Ich wusst, dat die heut für dich gewinnen!«

Für ihn und uns kam der Abpfiff überraschend und unerwartet. Als meine Frau wie versprochen am nächsten Tag ins Krankenhaus kommt, sagt man ihr, dass Vater noch mal zu einer Notoperation gemusst hätte und schickt sie zur Intensivstation. Dort wird sie von bedrücktem Personal und einem Arzt empfangen, der ihr mitteilt, dass mein Vater gestorben ist.

Unfassbar für uns! Keine Möglichkeit für ein Wort des Abschieds. Erst jetzt fällt uns ein, was wir alles nicht gesagt haben und vieles, was wir nie hätten sagen sollen. Vorbei – endgültig! Es bleibt die Hoffnung, dass er trotz allem gewusst hat, dass er geliebt wurde.

Heute haben wir ihn beerdigt. Der Sarg geschmückt mit »seinen« Vereinsfarben in blau und weiß.

Auf der Kranzschleife von mir und meiner Frau stehen nur zwei Worte:

»Tschüss Schalker!«

Mein erster Stadionbesuch

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