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2. DIE BEGEGNUNG DER DRITTEN ART

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Don José war schon zwölf Tage unterwegs. Er benötigte frisches Wasser, Proviant und Diesel für seinen Land Rover. Auf dem Weg nach Mount Isa passierte er die Ortschaft Winton. Weil er in Winton in den letzten Jahren schon öfters gerastet hatte, träumte er unterwegs von einer heißen Badewanne und saftigen T-Bone-Steaks. Vielleicht konnte er auch ein paar Nächte mit alten Bekannten verbringen und dann in Richtung Mount Isa weiter fahren. Als er am frühen Nachmittag die Tankstelle mit dem Lebensmittelladen ansteuerte, wusste er schon, dass die heiße Badewanne im Motel an der Hauptstraße belegt war und er wahrscheinlich kein Quartier bekommen würde.

Der kleine Ort, der erfahrungsgemäß zu dieser Tageszeit wie ausgestorben wirkte, war an diesem Tag von Menschen und Fahrzeugen aller Art belagert. Der Tankwart berichtete von einem großen Volksfest und der alljährlichen Versammlung der Siedler, von verschiedenen Wettrennen, einer Menge Bier und Steaks und von zu erwartenden Schlägereien der jungen alkoholisierten Burschen. Don José kannte solche Veranstaltungen, die einen durchaus typischen Outback Charme vorzuweisen hatten. Aber für einen einsamen Reisenden, der jung und attraktiv auf die Siedlertöchter wirkte, empfahl es sich doch das Weite zu suchen.

Weil der Tag noch jung war, er die Route gut kannte, verstaute er den Proviant gut verpackt im Wagen und fuhr weiter Richtung Westen. Die Weiterfahrt entwickelte sich ziemlich unangenehm, weil ihm die Sonne direkt ins Gesicht strahlte und er andauernd vom Straßenstaub der entgegenkommenden Fahrzeuge eingenebelt wurde. Wie es schien, war die ganze Gegend in Richtung Winton unterwegs. Ihn ärgerten die unangenehmen Begleiterscheinungen was ihn dazu bewegte, die nächstmögliche Abzweigung zu nehmen. Inzwischen lag Winton schon zwanzig Meilen hinter ihm und die Sonne stand tief am Horizont. Er musste also die nächste halbe Stunde sein Nachtlager finden, denn abseits der asphaltierten Straßen zu fahren war nur bei Tageslicht ratsam.

Knapp eine Meile später erblickte er in nördlicher Richtung eine Felsformation. Die Felsen waren dank der Erosion über Jahrtausende hinweg so kunstvoll abgeschliffen, dass sie an eine schlafende Elefantenherde erinnerten. Die Felsformation mit ihrer spärlichen Vegetation wirkte in der untergehenden Sonne so bizarr schön, dass er kurzerhand entschied, dort zu übernachten. Ein trockenes Flussbett machte die Zufahrt zu dem Felsen möglich und es dauerte keine zwanzig Minuten, ehe er einen geeigneten Rastplatz fand. Er parkte seinen Wagen zwischen zwei Elefanten, deren runder Rücken aus dem sandigen Boden hervortrat. Ein ganzer Schwarm von schneeweißen Kakadus landete auf einem Eukalyptusbaum und Don José wusste sofort, dass er unweit eine lauwarme Badewanne finden werde.

Er beobachtete die Kakadus eine Weile und wartete darauf, dass die Vögel die Wasserstelle anflogen. Als die Mutigsten von den Ästen im Gleitflug hinter dem nächsten Felsen verschwanden, wusste er auch, wo sein Badezimmer zu finden war. Er ließ den Kakadus ausgiebig Zeit zu baden und zu trinken, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr langsam zwischen den Felsen noch zweihundert Meter weiter. Unmittelbar vor ihm ragte ein zahnförmiger Stein empor und gleich dahinter ein großer, lang gestreckter Felsenkoloss, der sich im kristallklaren Wasser einer kleinen Schlucht spiegelte.

Don José stieg aus dem Auto, betrachtete das Wasserloch und die felsige Umgebung aufmerksam. Dann umrundete er die Wasserstelle bis zum Felsen um nach Spuren im Sand zu suchen. Das Loch war kaum einen Meter tief bei einem Durchmesser von maximal acht Metern. Der rötlich sandige Boden war frei von Bewuchs, er zeigte auch keine menschlichen Spuren. Soweit sein Blick in der Dämmerung reichte, konnte er nur die kleinen weißen Federchen der Kakadus entdecken. Er fand zu seiner Beruhigung auch keine Spuren von Schlangen. Obwohl diese verlockende Badewanne ziemlich groß war, war sie dennoch frei von Kleintierchen, mit denen er sich das Bad hätte teilen müssen.

„Juchhu, so eine herrliche Badewanne habe ich längst nötig“, jubelte er überglücklich, sodass sich das Echo seiner Worte mehrmals wiederholte, ehe es sich in der Felslandschaft verlor.

Unterwegs zum Wagen entschied er, nur das Nötigste auszupacken und die Kerosinlaternen so zu verteilen, dass sie den Weg zum Wasserloch und das Wasserloch selbst gut beleuchteten. Seine Kochutensilien bestanden aus einem Zweiliterkochtopf und einer gusseisernen Bratpfanne. Zum Holzsammeln war es schon zu spät, aber er konnte den Gaskocher mit einer im Kastenwagen befestigten Gasflasche, mittels eines flexiblen Schlauchs verbinden.

Der Tankwart in Winton hatte ihm eine Portion Lammkoteletts geschenkt, wenn er dazu eine Dose Kidney Bohnen, eine Zwiebel und zwei Kartoffeln in den Kochtopf schnippelte, alles mit Salz und Pfeffer würzte, hätte er in einer Stunde eine deftige Bauernsuppe fertig. Don José machte sich sofort an die Arbeit, sodass der Topf auf dem Gaskocher landete, noch ehe die Tagesdämmerung vollständig erlosch.

Im Adamskostüm mit einem Badetuch, Seife und Machete bewaffnet spazierte er zum Wasserloch. Unter der Kerosinlaterne leuchte „seine Badewanne“ so rein türkisblau, dass er zunächst ein schlechtes Gewissen bekam. Daher ging er zum Wagen zurück, holte die verbeulte Gießkanne heraus und kehrte wieder zurück zur Wasserstelle. Nachdem er ausgiebig mit Hilfe der Gießkanne vorgeduscht, Staub und Schweiß mit Seife abgewaschen hatte, wagte er es in das türkisblaue saubere Wasser zu steigen. Ein herrliches Gefühl von Entspannung überkam ihn, als das kühle Wasser seinen Kopf bedeckte. Er verharrte gut eine Minute regungslos unter Wasser, stemmte sich hoch auf die Beine, breitete seine Arme aus und tauchte auf und ab wie ein Delfin durch das erfrischende Nass. Er schwamm einige male hin und her, bis er tauchend aus dem Wasser hoch schnellte und neben der Kerosinlampe landete. Seinen durchnässten Lockenkopf schüttelte er hin und her, setzte sich und warf seinen Kopf entspannt in den Nacken. So lag er da mit geschlossenen Augen voller Zufriedenheit. Nach einer Weile öffnete er langsam die Augen und es erstreckte sich über ihm ein atemberaubender Sternenhimmel mit unzähligen glitzernden Gestirnen, die sich im Wasserloch widerspiegelten.

„Der Orion“ dachte er, „ist ein Sternbild worauf die Pharaonen ihre ganze Philosophie gestützt haben. Möge das Universum mir die Kraft geben, dieses Sternbild für immer in meinem Herzen zu tragen.“

Seit seiner Kindheit war er vom Sternbild des Orion zutiefst fasziniert gewesen und in dieser Nacht war es das Erste was er erblickte, als sich seine Augen öffneten. Woher diese Faszination kam, wusste er nicht zu erklären. So badete Don José in beidem, im Wasser und in dem leuchtenden Sternenhimmel. Er betrachtete die Sterne, grübelte über die Entfernungen der Galaxien und die Weite des Universums. Welche Energie verbarg sich da oben, wie war das alles entstanden und wozu mochte das alles da sein? Solche Gedanken waren seine Lieblingsbeschäftigung, seit er sich erinnern konnte. Insbesondere seit er in der neuen Heimat angekommen war und oft endlose Nächte in der Einsamkeit der Wüste verbrachte.

Kaum erreichte der Duft der kochenden Bohnensuppe seine Nase, löste er sich aus seiner Träumerei, stieg aus dem Wasser und bemerkte, dass die Kühle der Nacht die Tageshitze abgelöst hatte. Eine Mischung aus Frösteln und Heißhunger überkam ihn und er beeilte sich, seinen Körper abzutrocknen. Er sammelte alle Utensilien zusammen und rannte zurück zum Wagen. Saubere Kleidung hatte er sich vorher auf dem Beifahrersitz zurechtgelegt. Schnell zog er den warmen Trainingsanzug an, der sich auch bestens als bequemer Pyjama für die kalten Nächte eignete.

An der Rückseite des Wagens, an der sein Gaskocher die Suppe garte, vernahm er ein klapperndes Geräusch, als wenn sich jemand an seinem Kochtopf zu schaffen machte. Schnell sprang er in die Trainingshose die er noch hastiger hochzog. Dann ergriff er seine Machete und schlich lautlos zu dem hinteren Teil des Wagens. Die Pritsche des Fahrzeugs hatte ein Verdeck aus Rohrgestell das mit einer Zeltplane bespannt war. Er schaute vorsichtig um die Ecke, dann machte er zwei Schritte weiter und schaute noch einmal hinter der Plane zur Kochstelle. Er sah eine ältere Gestalt über den Topf gebeugt, in einer Hand hielt sie den Deckel, mit der anderen Hand rührte sie mit einem Holzlöffel in der Suppe. Don José sah sich noch einmal prüfend um, bemerkte keine weiteren Gestalten in der Nähe.

„Guten Abend, die Dame“, machte er sich überrascht mit schlagbereiter Machete in der Hand bemerkbar.

„Guten Abend, junger Mann, du hast zu lange gebadet, die Suppe wäre fast angebrannt“, antwortete die alte Frau mit leiser, aber resoluter Stimme.

„Danke, dass Sie sich darum gekümmert haben, gute Frau. Wo sind Ihre Leute?“ wollte Don José wissen. Er wusste dass alte Menschen im Outback, insbesondere Frauen nie alleine unterwegs waren. Die alte Frau jedoch reagierte nicht auf seine Frage.

„Die Suppe riecht gut, was hast du da alles drin?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage.

„Lammfleisch, Kidney Bohnen, Kartoffeln, Zwiebeln und Gewürze natürlich. Wenn Sie hungrig sind dann sind Sie willkommen.“

„Das ist aber sehr gütig von dir, junger Mann, Appetit hätte ich schon, aber du hast nur einen Teller mitgebracht“, erwiderte die alte Frau belustigt und kicherte dabei.

„Das ist weiter kein Problem. Sie essen aus dem Teller und ich aus dem Topf, das Angebrannte kratze ich zum Nachtisch aus“, erwiderte Don José einerseits erleichtert, aber andererseits fragte er sich doch, woher die Frau wusste dass er nur einen Teller besaß? Wiederholt durchdachte er verschiedene Möglichkeiten, blieb zunächst wie angewurzelt stehen, drehte sich dann doch noch einmal prüfend um, ob die alte Frau nicht doch Mitesser dabei hatte.

„Nachdem du zugelassen hast, dass die Suppe anbrennt und du zulässt nur die Hälfte zu bekommen, solltest du dich in Bewegung setzen und den Tisch decken, ehe du auch noch zulässt eine kalte Suppe zu essen“, klang die Aufforderung als Echo zwischen den Felsen.

„Soweit so gut“, dachte Don José. „Die alte Frau ist sehr clever. Wozu das gut sein wird, werde ich wohl bald erfahren.“

Von der Pritsche schob er die Plane zur Seite, entnahm den Deckel der Kühlbox, den er als Tablett zweckentfremdete. Stellte einen Suppenteller, Esslöffel und zwei in Tücher gewickelte tönerne Tassen darauf. Den Klapptisch hängte er wie eine Handtasche an den rechten Arm, griff nach dem zerknitterten Tischtuch, in der linken Hand nahm er das Tablett und ging zur Feuerstelle. Auf einem kleinen Stein stellte er das Tablett ab und den Tisch daneben auf. Mit einigen Handbewegungen versuchte er das Tischtuch zu glätten. Aus dem Auto holte er zwei mit Segeltuch bespannte Klappstühle, die er neben das Klapptischchen stellte. Zum Glück besaß er wenigstens zwei Esslöffel und ein Steakmesser, sonst hätten sie abwechselnd essen müssen.

Noch in Sydney kaufte er sich, bevor er auf Reisen ins Outback ging, eine komplette Campingausrüstung. Im Stadtteil Kings Cross fand er einen Trödelladen, der ausgemusterte Militärutensilien preiswert anbot. Mit der Zeit ging einiges kaputt oder „verloren“, weil manche Leute gar nichts hatten und meinten, fehlende Gegenstände auf diese Weise bei ihm besorgen zu dürfen. Ihm war es recht so, denn je weniger er mitschleppte, desto leichter fiel ihm das aus und einpacken.

Mit dem Esslöffel fischte er ein Paar Lammkoteletts aus dem Topf und kippte die Suppe über dem Teller aus, bis dieser randvoll war. Dann leckte er den Esslöffel sauber ab und legte ihn auf seine Tischseite. Den zweiten Esslöffel und das Messer legte er formell, wie ein eleganter Oberkellner es tun würde, neben den Teller der alten Dame. Er ging um den Tisch, rückte den Klappstuhl zur Seite und mit einer galanten Handbewegung bat er die alte Frau zu Tisch. Sie folgte seiner Einladung sehr würdevoll, stellte sich vor den Stuhl und wartete darauf, dass er, ganz Gentleman, ihr den Stuhl nachrückte. Er vollendete diese Zeremonie sehr höflich und setzte sich ebenfalls zu Tisch.

„Dann lassen Sie es sich gut schmecken, gute Frau“, sagte er, nahm den Topf mit beiden Händen und klemmte ihn zwischen seine Schenkel.

„Danke für die Einladung, junger Mann, ich wünsche meinerseits einen guten Appetit“, erwiderte die alte Dame und griff nach dem Löffel.

Beide aßen schweigend nur Don José merkte schnell, dass der Topf viel zu heiß war, um ihn lange zwischen den Schenkeln zu halten. Er stellte ihn auf den Tisch und schnitt mit dem zu groß geratenen Buschmesser das Fleisch von den Knochen.

Diesmal war er schnell fertig, entschuldigte sich kurz ging zum Wagen zurück um den Teekessel zu holen. Während die alte Dame noch immer schwieg, bereitete er einen Hagebuttentee zu, fand auch noch eine Packung Kekse in der Vorratskiste. So viel Aufwand wollte er heute Abend gar nicht veranstalten, aber er war schließlich nicht alleine, eine unbekannte alte Dame hatte sich als Gast eingeladen.

Als diese endlich fertig gegessen hatte, nahm er Teller und Topf vom Tisch, stellte beide Tassen, Zuckerdose, die Packung mit Keksen dazwischen und setzte sich wieder. Die alte Dame goss den Tee in die Tassen, nahm einen Löffel Zucker und rührte alles sehr langsam, als würde sie nachdenken, wie die Konversation nun weiter gehen sollte. Don José eröffnete ungeduldig das Gespräch:

„Ich hoffe, Sie sind mit dem Hagebuttentee einverstanden? Etwas anderes habe ich heute nicht anzubieten.“

„Oh doch, das ist mir recht so. Du hast sicherlich einen Tropfen Rum oder?“

„Leider nicht, verehrte Dame“, antwortete Don etwas sarkastisch und dachte über seinen Gast als mögliche Alkoholikerin nach. Das fehlte ihm gerade noch.

„Ich habe etwas Alkohol für medizinische Zwecke. Damit kann man keinen Tee trinkbar machen.“

„Das ist mir auch lieber so, junger Mann. Ich trinke den Tee lieber naturbelassen.“

„Na also“, dachte er, „wenn es keinen Rum gibt, geht es auch so.“

Sie schlürften eine Zeit lang den heißen Tee, tunkten ab und zu einen Keks hinein und schwiegen.

„Deine Großmutter hat auch gerne Hagebuttentee getrunken, nehme ich an“, bemerkte die alte Dame.

„Goldrichtig, gute Frau. Ach, da fällt mir ein, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist...“

„Ich kenne deinen Namen „ fiel sie ihm ins Wort, „du kannst mich Oma nennen, oder besser gleich Uroma zu mir sagen, weil ich eben eine bin.“

Als er gerade ansetzen wollte sie zu fragen, woher sie seinen Namen kenne, sprach die alte Dame weiter.

„Ich weiß, dass du viele Fragen an mich richten möchtest. Hab Geduld mein Sohn, du wirst mit der Zeit alle Fragen beantwortet bekommen und auch solche, über die du jetzt gar nicht nachgedacht hast. Alles zu seiner Zeit.“

„Moment mal, gute Uroma, gehe ich richtig in der Annahme, dass deinem Erscheinen eine bestimmte Mission zu Grunde liegt, von der ich aber erst viel später erfahren werde?“

Er konnte seine Gedanken nicht weiter zu Ende verfolgen, weil sie ihre Hand hob und abblockte.

„Nicht so hastig, junger Mann, alles zu seiner Zeit.“

„Der junge Mann, den du meinst zu kennen hat einen Namen, auf den der junge Mann sehr stolz ist. Also, wie heiße ich? Und wie, bitte schön ist dein Name?“ fragte Don José mit ernstem schneidigen Ton.

„Wenn du es auf dieser Ebene haben möchtest, soll es mir recht sein. Du heißt Don José de Gracias, bist Bergbauingenieur und Geologe, aber auch Seemann. Deine Leute nennen dich Kapitän Don José, weil du ein kühner Segler bist. So weit, so gut. Was deinen Namen anbelangt, auf den du so stolz bist, stammen deine Urahnen nicht aus Spanien, wie es in deinem Stammbuch steht, sondern aus Ägypten. Die Wurzeln deiner Urahnen gehen viel tiefer als du es dir vorstellen kannst. Soll ich weiter reden?“

Das verschlug Don José nun endgültig die Sprache, was ihm nicht so leicht passierte. Unzählige Fragen türmten sich nun in seinem Kopf auf. „Ist diese Frau ein Geist, woher kommt sie, woher weiß sie soviel über mich, was hat sie vor?“ Da er nicht antwortete, sprach sie weiter.

„Jetzt bist du sprachlos und verwirrt und grübelst fieberhaft, was hier eigentlich mit dir geschieht. Ich bin hier und heute, weil du mich gerufen hast, weil du an einen Punkt gelangt bist, an dem das Gedächtnis deiner Urahnen die Barriere deines Bewusstseins durchbrechen muss, damit du in deinen Überlegungen vorankommst“, erklärte sie weiter in einem gütigen Ton, der ihm so vertraut vorkam, aber er wusste nicht woher.

„Du meinst sicherlich meine Überlegungen hinsichtlich der Aborigines und deren Traumweltphilosophie?“

„Goldrichtig, mein Sohn. Von Anfang an hast du diese Menschen wie kaum ein anderer verstanden. Auch wenn es dir nicht bewusst war, bist du doch tief in ihre Traumwelt eingedrungen.“

„Demnach bist du mir gerade hier nicht zufällig begegnet?“

„Das erste Postulat, das du tief in dein Gedächtnis eingravieren sollst, ist die Tatsache, dass im Universum absolut nichts zufällig geschieht. Absolut nichts, mein Sohn, nicht mal der Sprung eines Flohs, oder das Heulen einer Hyäne, oder die Geburt eines Kindes. Alles geschieht auf Wunsch des Träumers und hat einen allumfassenden Sinn des Universellen.“

Don José schaute zu den Felsen, sah sie aber nicht, weil sein Hirn fieberhaft nach einer rationalen Erklärung suchte. Letztendlich entschied er sich, die Situation mit etwas Humor unter Kontrolle zu bekommen.

„Wir hätten uns allerdings etwas Leichteres zum Abendbrot kochen müssen“, lächelte er sie charmant an.

„Mit Bohnensuppe und Lammkoteletts im Bauch lässt es sich leider schwer sinnieren.“

„Ich sehe ein, dass du dir etwas Zeit verschaffen möchtest, um mit den Umständen unserer Zusammenkunft fertig zu werden. Ich weiß, wie schlau du bist, und das erfreut mich jedes Mal sehr, wenn ich mit dir rede“, antwortete die alte Dame.

„Ich kann mich nicht entsinnen, jemals mit dir gesprochen, geschweige dich vorher gesehen zu haben, liebe Uroma. Lass bitte die Katze gleich aus dem Sack, damit ich vor dem Einschlafen weiß, womit ich morgen rechnen muss“, antwortete er mit einer gespielten Gütigkeit.

„Ich sehe du bist müde mein Sohn. Sind wir uns einig, dieses Gespräch morgen fortzusetzen?“, fragte sie gütig. Ohne eine Antwort abzuwarten stand sie auf und ging langsam in die Nacht hinein. Als wäre sie von der Dunkelheit verschluckt worden, löste sie sich buchstäblich in Nichts auf.

Don José erschrak über das abrupte Ende und das Verschwinden der alten Frau. Er bekam ein schlechtes Gewissen, weil er seinen Gast so unhöflich verabschiedet hatte. Lange schaute er ihr in die Dunkelheit nach und hoffte, sie werde wiederkommen und ihm die Chance geben, alles wieder gut zu machen. Eigenartigerweise dachte er nicht darüber nach, wo die alte Frau in dieser Wildnis übernachten konnte, als lebte sie mitten in einer Großstadt.

Schließlich gab er die Grübelei auf und wandte sich praktischeren Dingen zu. Er sammelte das Kochgeschirr ein und ging noch einmal mit der Gießkanne am Arm zum Wasserloch. Mit etwas Sand auf dem Schwamm rieb er den Kochtopf vom Angebrannten frei, spülte ihn mit Wasser aus der Gießkanne ab und trocknete den Topf mit einem Tuch. Nachdem alles gereinigt war, nahm er die Kerosinlaterne vom Felsenvorsprung und verstaute die Kochutensilien wieder in den Holzkasten. Schließlich sammelte er noch die anderen Kerosinlampen ein, und deponierte alles, bis auf Tisch und Stühle, an dem gewohnten Platz auf der Wagenpritsche.

Diese Arbeit lenkte ihn für eine Weile von dem Gespräch mit der alten Frau ab. Irgendwie wirkte sie beruhigend auf seine Seele, obwohl er ihr heute das erste Mal begegnete. Er hatte den Schlaf bitter nötig. Wie jeden Abend breitete er den Schlafsack auf dem Rücksitz des Wagens aus. Zwischen Vorder- und Rücksitz stellte er zwei Kühlboxen, die mit der Batterie verbunden waren. Die Stromversorgung erfolgte aber über den Zündschlüssel, so dass die Kühlung nur bei laufendem Motor arbeitete. Damit die Boxen nun längere Zeit kühlten, breitete er mehrere Pferdedecken als Polster darüber aus. Auf diese Art gestaltete er sich ein bequemes Bett mit reichlich Platz in der freien Natur.

Da er meistens alleine in der Wildnis nächtigte, lagen für alle Fälle Waffen und Munition immer griffbereit. Eine doppelläufige Schrotflinte hing an Federklemmen über der Vordersitzlehne. Ein zweiter Karabiner Kaliber 22 mit Magnum Munition hing genau über seinem Schlafplatz. In jeder Seitentasche der Wagentüren steckte ein neun Millimeter Automatikrevolver. Selbst die Machete lag immer an seiner Seite. Don José war weder paranoid, noch ein Waffennarr. Diese Schutzmaßnahmen hatten ihm die erfahrenen Buschmänner Australiens empfohlen, die sich in der Wildnis sowohl mit gefährlichen Tieren, aber auch mit Herumtreibern sehr gut auskannten. Er war froh in den drei Jahren auf keinen Menschen geschossen zu haben, aber einige Dingo Rudel verjagte er öfter mal durch laute Knallerei.

Er kniete sich hin, öffnete die Seitenfenster eine Handbreit, klemmte ein aus Edelstahlnetz bespannten Stahlrahmen zwischen Scheibe und Holm, kurbelte das Fenster etwas hoch, damit der Netzrahmen fest dazwischen einklemmte. Zum Schluss verriegelte er die Türen von innen, schaltete die Deckenbeleuchtung aus, kroch langsam in den Schlafsack und streckte sich genüsslich. Als er es sich so richtig schön bequem gemacht hatte, fiel ihm die alte Frau wieder ein und er begann erneut über sie nachzudenken.

„Woher kann sie wissen, dass meine Urahnen aus Ägypten stammen?“, grübelte er nachdenklich. Sein Großvater erzählte ihm kurz vor dessen Verschwinden etwas von Ägypten, aber er war damals noch viel zu klein gewesen um alles zu verstehen. Seine Familie hatte nie herausfinden können, ob sein Großvater in eines der Konzentrationslager verschleppt worden war, oder ob er sich irgendwo vor den Nazis verstecken musste.

Seine Mutter hatte ihm von einer Schatulle erzählt, die von seinem Großvater irgendwo im Garten vergraben worden war. Die ganze Gegend war jedoch nach dem Krieg geräumt und mit Wohnsilos bebaut worden. Er konnte sich noch lebhaft an den Garten erinnern. Insbesondere an die Obstbäume, die sein Vater im Herbst immer beschnitten und im Frühling veredelt hatte. In diesem Garten blühten Jasmin und viele Rosen verschiedener Sorten. Als kleiner Junge war dieser Ort ein Spielplatz, wo er seine kleinen Konservendosen mit Knickern und sonstigen für ihn wichtigen Schätze verbuddelt hatte, noch bevor die Räumungstrupps der Zwangsumsiedler seine Familie aus ihrem halbzerbombten Haus vertrieben.

Immer wenn er als Kind etwas wahrnahm oder Neues entdeckte, machte er sich einen Gedächtnisknoten, wie es ihm sein Großvater beigebracht hatte. Irgendwann würde er in seiner alten Heimat nach der Schatulle forschen. „Das wird noch lange warten müssen“ dachte er, „denn die Kommunisten sind zähe Burschen.“ Mit diesem Gedanken tauchte er in den wohl verdienten Schlaf ein.

Am nächsten Morgen durch das Licht der Morgendämmerung geweckt, streckte sich Don José ausgiebig in seinem Schlafsack und rieb sich die noch verschlafenen Augenlider. Nachdem er sich aus dem Schlafsack befreite und zwischen den Vordersitzen nach vorne kletterte, fiel ihm ein, dass er diese Nacht gar nichts geträumt hatte. Das wunderte ihn umso mehr, weil er gewöhnlich vielerlei Träume hatte und nach zweiwöchiger Abstinenz auch erotische Träume seinen Schlaf begleiteten.

Er entriegelte und öffnete die Vordertüren, beugte sich nach hinten und holte aus der Rücklehnentasche seinen Kulturbeutel. Den elektrischen Rasierapparat mit aufladbarer Batterie verkabelte er im Zigarettenanzünder und rasierte sich gründlich. Sein Bartwuchs war spärlich, so hatte er keine Probleme, wie manche bärtigen Männer, die lieber ein Rasiermesser bevorzugten. Dagegen war seine lockige Haarpracht pechschwarz und er hatte echte Probleme einigermaßen ordentlich gekämmt auszusehen.

Das Badetuch lag noch immer auf der Pritsche, wo er es gestern Nacht abgelegt hatte. Es war etwas feucht vom Morgentau, aber das störte ihn wenig. Er ging zum Klapptisch prüfte den Boden rund herum nach Fußabdrücken in die Richtung, in der die alte Frau verschwunden war. Fand jedoch keinerlei Spuren im Sand. Das überraschte ihn nicht weiter, er hatte eine Vorahnung. Dass die Frau aus dem Nichts erschienen war und sich danach im Nichts auflöste, bereitete ihm keine Kopfschmerzen. Diese Vorahnung beruhigte ihn, dass die Begegnung doch einen bestimmten Sinn ergeben würde. Das reichte ihm vorerst. Die alte Frau hatte ja versprochen, alles aufzuklären. So blieb ihm nichts anderes übrig, als geduldig darauf zu warten.

Die aufsteigende Sonne erreichte inzwischen die Felsen, die sie zum purpurroten Elefantenbuckel erleuchten ließ, aber der Range Rover stand noch im Schatten. Don José zog seinen Trainingsanzug aus, breitete ihn auf dem Felsvorsprung zum Lüften aus, wickelte das feuchte Badetuch um seine Hüften und spazierte zum Wasserloch. Mit ein wenig Überwindung und leichter Gänsehaut stieg er ins Wasser, putzte zuerst seine Zähne und planschte eine Zeit lang herum, bis sein Magen zu rebellieren begann. Es war an der Zeit das Frühstück zu machen, ehe die Sonne dazu einlud, sich in der Gegend umzusehen. Als er schließlich zum Wagen zurückkam, war die alte Frau schon dabei Tee zu kochen und den Tisch zu decken. Nun wunderte er sich über gar nichts mehr. Sie war nun einmal da und irgendwie schien es ihm so, als wäre sie seine richtige Uroma.

„Wozu aufregen?“, dachte er, „abwarten was sich daraus ergibt.“

„Einen schönen guten Morgen, Uromachen“, begrüßte er sie fröhlich.

„Guten Morgen, mein Sohn, du hast gut geschlafen, gebadet und jetzt hast du Hunger?“, fragte sie freundlich. Es klang mehr nach einer Feststellung, als nach einer Frage.

„Ich hüte mich zu fragen, wie und wo du geschlafen hast, weil ich vermute dass du nicht ausgefragt werden willst.“

„Du spekulierst sonst selten, mein Sohn, dein Motto ist es doch das Vermutungen und Annahmen keine verlässlichen Gedanken sind. Was zählt, sind Fakten und die muss man sich durch Fragen erarbeiten“, belehrte ihn die alte Dame eines Besseren.

„Goldrichtig, Omchen. Es ist weniger eine Vermutung, vielmehr eine Gewissheit, dass du nicht von meiner Welt bist. Denkbar wäre auch, dass du ein Geist aus der Vergangenheit bist.“

„Über dieses Thema reden wir nach dem Frühstück, wenn wir zu meiner Behausung aufbrechen“, erwiderte sie resolut und stellte die Teekanne auf den Tisch.

„Dann bin ich die Geduld in Person, Omchen. Möchtest du etwas Käse und Brot mit mir teilen?“

„So ist es recht, mein Sohn“, erwiderte sie und setzte sich.

Don José ging zu seinem Wagen, öffnete die hintere Tür, rollte seinen Schlafsack und Decken zusammen. Öffnete den Deckel der zweiten Kühlbox, entnahm zwei grüne Tomaten, eine Packung Vollkornbrot und Tiroler Schinken, den er in Sydney in einem Kolonialladen gekauft hatte. Dazu einen Plastikbehälter mit Schafskäse. Dann ging er zur Pritsche und holte zwei Holzplatten, Messer, Zucker und ein Glas Honig. Die alte Dame schenkte inzwischen den Tee ein und schwieg.

„Lassen wir es uns gut schmecken, Omchen, obwohl ich weiß, dass du keinen Hunger hast, weder Essen noch Trinken, geschweige denn Schlaf benötigst.“

„Das ist richtig mein Sohn. Trotzdem, macht es mir große Freude dir Gesellschaft zu leisten.“

„Dann sind wir der Wahrheit ein Stück näher gekommen, Omchen.“

„Alles zu seiner Zeit, mein Sohn, iss jetzt, sonst wird dein Tee kalt.“

Don José musste seinen Appetit zügeln, sonst hätte er glatt drei Tagesrationen verschlungen. Es war auch an der Zeit zu packen und aufzubrechen, solange der Tag noch jung war. Die alte Dame setzte sich auf den Beifahrersitz und wartete geduldig bis Don alles ordentlich verstaut und die Zeltplane festgezurrt hatte. Endlich nahm auch er seinen Platz auf dem Fahrersitz ein, wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn, startete den Motor und fragte:

„Wohin soll die Reise gehen, liebe Uroma?“

„Wir fahren zurück zur Straße, biegen aber nicht ab, sondern folgen dem ausgetrockneten Flussbett weiter“, entgegnete sie mit sanfter Stimme.

Er schaltete den Rückwärtsgang ein, manövrierte mal vorwärts, mal rückwärts, ehe der Wagen die Durchfahrt zwischen den Felsen erreichte. Er fuhr bis zum Flussbett, hielt den Wagen an stieg aus und zog einen Besen unter der Pritsche hervor. Damit verwischte er alle Reifenspuren die sein Wagen hinterlassen hatte. Das war eine Geste mit Rücksicht auf die Natur, dieses heile Fleckchen Erde noch unberührt zu belassen. Ehe sie weiter fuhren legte die alte Dame ihre Hand auf die Seine, als Don José gerade den Gang einlegen wollte. Mit diesen Worten ermahnte sie ihn eindringlich:

„Wohin wir jetzt fahren und was wir dort vorfinden, worüber wir weiter reden werden, darüber darfst du mit niemandem bis an dein Lebensende sprechen. Wenn du dieses Geheimnis für dich behältst, wird es für die Menschheit erhalten bleiben.“

Sie beugte sich zu ihm, nahm seinen Kopf in ihre Hände und küsste ihn sanft auf die Stirn. In diesem Moment verspürte er plötzlich eine vertraute Nähe zu ihr.

„Ich bin ganz und gar bereit deinen Instruktionen sehr ernst zu folgen und ich unterziehe mich auch der Schweigepflicht, wenn du mir nur eine Frage beantwortest, bevor die Reise losgeht.“

„Ich weiß, was in deinem Kopf herumgeistert. Du möchtest wissen, ob ich etwas Anständiges mit dir vorhabe?“

„So ist es, liebe Uroma, mit mir kann man allerlei anstellen, nur nichts Unanständiges, worum auch immer es sich handeln sollte.“

„Ich verspreche dir dass das, was du in den nächsten Wochen erlebst und erfahren wirst, dein Leben und die Lebensweise unzähliger Menschen grundsätzlich zum Besseren verändern werden. Es ist an der Zeit deinen Urahnen wieder zu begegnen.“

„Liebe Uroma, du weißt wie die Menschen im Allgemeinen sind. Ich bin kein Heiliger und möchte auch keiner werden. Ich habe Freunde und werde vielen anderen begegnen und neue Freundschaften schließen. Ich werde auch irgendwann heiraten und ich kann dir gleich versichern, dass ich kein Geheimniskrämer bin. Wenn du meine Seele mit etwas belastest, worüber ich nicht einmal mit meiner Frau reden darf, wird meine Beziehung mit ihr daran scheitern. Ein Geheimnisträger wird früher oder später jemandem Fragen beantworten müssen. Dann hat er zwei Möglichkeiten: Die Antwort zu verweigern oder die Frage mit Halbwahrheiten zu zerreden. Es gibt Menschen, die ein Recht darauf haben, eine ehrliche Antwort zu bekommen und ich gehöre nicht zu der Sorte, die kneifen. Darüber hinaus mag ich es nicht, wie ein Blinder in irgendetwas verwickelt zu werden, ohne zu wissen, was die Konsequenzen meines Handelns sind. Also werde ich dir jetzt logischerweise absolut kein Versprechen geben können. Erst schaue ich mir an was du mir zeigen wirst, dann entscheide ich was daraus werden soll.“

„Das war aber eine lange Rede, mein Sohn. Ich bin absolut der gleichen Meinung. Erst begutachten, dann bewerten wozu das Ganze gut sein soll. Lass uns jetzt fahren.“

So wie sich die Begegnung der dritten Art für Don José zunächst völlig undramatisch entwickelte, endete sie für ihn in eine unlösbar scheinende Aufgabe, die sein bisheriges Leben gravierend verändern sollte. Nachdem die alte Dame ihr Geheimnis offenbarte, löste sie sich wie zuvor in einem blauen Nebel langsam auf.

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VIRDULA Endlosgeschichten Band 1

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