Читать книгу VIRDULA Endlosgeschichten Band 1 - Jay H. Twelve - Страница 6
3. DIE GESCHICHTE DER SCHMUCKSCHACHTEL
ОглавлениеDer Blick vom Balkon des Hauses Woolcotstreet Nummer 21 war atemberaubend. Er umfasste die Sydney Brücke im Osten, die sich von North-Shore über die Bucht bis auf die andere Seite erstreckte. Die gigantischen Stützpfeiler, die das Wunderwerk aus Stahl festhielten, dazwischen das im Bau befindliche Opernhaus, das sich wie eine gestrandete Riesenmuschel zur Schau stellte. Langsam schoben sich die Ozeandampfer und Kreuzfahrtschiffe unter der Brücke durch. Wie in alle Richtungen durcheinander eilende Ameisen, schwammen zahlreiche Passagierfähren auseinander. Große Segelschiffe ankerten in der Bucht, Wochenendsegler und schneeweiße Motorboote mogelten sich dazwischen und machten das scheinbare Verkehrschaos noch undurchschaubarer. Alles das konnte man von diesem Balkon staunend beobachten.
Wenn man davon genug hatte und die Augen müde in die Tiefe schauten, breitete sich eine, von weißgekleideten Menschen bevölkerte, grüne Wiese unter dem Balkon aus. Nach welchen Regeln die Spieler auf der Wiese ihre glänzenden Kugeln von einer zur anderen Seite des Spielfeldes rollten, vermochte Don José nicht zu erraten. Er wusste nur, dass es weder Bowling noch Kegeln war, weil die Spieler keine Bahnen, sondern fein gemähten Rasen als Spielfeld benutzten. Dafür aber die Kugeln von Hand und mit viel Schwung zur anderen Seite rollen ließen. Dieses kunterbunte wunderschöne Szenario genoss er schon eine ganze Woche, seit er hier in der dritten Etage des Hauses sein vorübergehendes Quartier bezogen hatte.
Der Besitzer des Apartments hieß Heinz. Er war der Freund eines Freundes, der seinen Job als Designingenieur bei der Firma Nois Brothers in St. Leonards aufgegeben hatte. Er hoffte als bayrischer Schuhplattler und Folkloretänzer in Melbourne das Doppelte zu verdienen, deshalb vermietete er dieses geräumige Apartment für 30 Australische Dollar pro Woche, die nächsten drei Monate an Don. Heinz war einige Jahre zuvor aus Bayern mit seiner hübschen tüchtigen Frau und seinem Kind angekommen. Sie richteten dieses Apartment sehr geschmackvoll ein. Heinz fand bald einen gutbezahlten Job in seinem erlernten Beruf, war bei den Kollegen sehr beliebt, auch die Chefs lobten ihn für seine guten Leistungen.
Obwohl er alles hatte, wovon viele in Bayern nur träumen konnten, ging Heinz lieber zum Schuhplattlertanzen nach Melbourne, um seinen bayerischen Landsleuten beim Biertrinken und Schunkeln ein bisschen Heimatgefühl zu vermitteln. Das war zu dieser Zeit in Australien keine Ausnahme, sondern viel mehr die Regel, worin junge Einwanderer ihre besten Chancen sahen Land und Leute kennenzulernen.
Don José war das nur recht so und er genoss all das, was Schuhplattler Heinz vermissen würde. Seit er vor sechs Monaten von Mount Isa weggefahren war, verbrachte er einige Wochen in Brisbane im Hotel Bristol. In diesem Hotel saß er sehr oft auf dem Balkon beobachtete das Treiben vom dreizehnten Stockwerk hinunter auf den Brisbane River und den Verkehr in den Straßen.
Nach der Begegnung Der dritten Art mit der alten Dame und all dem was er im Outback erlebt und erfahren hatte, brauchte er Einsamkeit und Ruhe, um all diese unbeschreiblich schönen und ungeheuer beeindruckenden Erfahrungen geistig zu verarbeiten. Als er sich von der alten Frau verabschiedete, war er noch immer nicht bereit irgendeinen Schwur des absoluten Schweigens zu leisten. Wie er es auch drehte und wendete, die Konsequenzen dessen, was ihm dort vorgeführt worden war und was er in endlosen Gesprächen von der alten Frau erfahren hatte, gingen weit über sein momentanes Vorstellungsvermögen hinaus. Er brauchte Zeit zum Nachdenken und vor allem Ruhe. Daher wollte er nicht gleich nach Sydney fahren, wo ihn so viele Menschen vermissten.
Von Brisbane fuhr er zunächst etwas nördlich bis Gladstone, wo eine große Aluminiumhütte und eine Tonerderaffinerie gebaut wurden. Warum er gerade diese, von so vielen Fremden brodelnde, kleine Stadt ansteuerte, konnte er nicht genau erklären. Er verbrachte dort einige Wochen, machte lange Spaziergänge in dem neuen Hafen, in dem so viele Förderbänder, Schiffsentlade- und Beladekräne im Aufbau waren und die Monteure in allen Sprachen durcheinander redeten. Er kehrte zurück nach Brisbane, quartierte sich erneut im Hotel Bristol ein. Diesmal nahm er ein Zimmer, dessen Balkon zur Stadtmitte hin gelegen war. Am Abend ging er in einer benachbarten Kirche Pfannkuchen essen. Die Kirche war von einem Holländer ersteigert und zu einem sehr gemütlichen 24-Stunden-Pfannkuchenrestaurant umgebaut worden. Tagsüber machte er lange Spaziergänge durch die Innenstadt, schlenderte entlang den Schaufenstern der Luxusläden. Aber er kaufte nichts. Seit dem Erlebnis mit der alten Dame entwickelte er ein Interesse für Schmuckgeschäfte, verglich die Preise der Edelsteine. Darüber hinaus beschaffte er sich einschlägige Literatur und verbrachte lange Tage in der städtischen Bibliothek, um sich in das Thema einzuarbeiten.
So einfach die chemische Zusammensetzung eines Diamanten ist, nämlich 100% Kohlenstoff, umso komplexer wird die Geschichte mit der Wertstellung und dem Mythos, der sich in Jahrtausenden um diesen Edelstein gebildet hatte. Kohlenstoff ist der Grundbaustein allen Lebens auf der Erde und wird überall für vielfältige Zwecke gewonnen.
Ein Kilogramm reiner Graphit ist in seiner Substanz absolut identisch mit einem Kilogramm Diamanten. Aus einem Kilogramm Graphit könnte man vielleicht 1000 Bleistifte oder 100 Elektroden für Filmprojektoren herstellen. Das würde etwa 500 Australische Dollar auf dem Markt einbringen. Verkauft man dagegen ein Kilogramm Diamanten in einem Juweliergeschäft, würde das bestimmt 50 Millionen Australische Dollar einbringen. Der Diamantenhandel ist so alt wie der Goldhandel. In der Natur kommen Rohdiamanten noch seltener vor, als Gold oder Platin. Die Steine werden in einem sehr kleinen, für Außenstehende nicht erreichbaren Kreis nach strengsten Regeln gehandelt und als geschliffene Ware zu Schmuck verarbeitet oder für Industriezwecke verwendet.
Don bereitete es wahre Kopfschmerzen, von der alten Dame so eine Menge Diamanten anvertraut bekommen zu haben. Sein erstes Problem bestand darin, einen Weg in den Markt zu finden, um diese Tonnen von geschliffenen Diamanten in sehr kleinen Portionen in den Handel zu bringen, ohne den Markt dabei zu ruinieren. Das zweite Problem lag darin, nicht nur diese Mengen geheim zu halten, sondern auch ihre Quelle. Das dritte Problem war, dass er das Ganze im Alleingang erledigen musste. Das vierte große Problem stellte der Transport in andere Länder dar. Er hatte also einen großen Berg von Schwierigkeiten vor sich, die er mit absoluter Diskretion und Umsicht langfristig lösen musste.
Er saß vor einem Kaffeehaus in der Innenstadt Brisbanes, trank Kaffee, blätterte in den Tageszeitungen herum und grübelte:
„Was macht ein 29-jähriger junger Mann mit mehr als 100 Tonnen feinste geschliffene Diamanten?“
Die 100 Tonnen waren je nach Größe und Schliff fein säuberlich sortiert. Erbsen- bis nussgroße Steine, die noch immer vor seinem geistigen Auge glitzerten. Um sich zu jeder Stunde daran zu erinnern, dass das ganze kein Traum war, rollte er einen nussgroßen Diamanten zwischen seinen Fingern in der Hosentasche. Auch wenn er es irgendwie schaffen würde, 100 Tonnen in Umlauf zu bringen und zu 50% des Marktwertes zu verkaufen, soviel Bargeld gab es gar nicht. Die „Maschine“, die er dort gesehen hatte, konnte jedoch mit Leichtigkeit eine Tonne pro Tag produzieren. Damit es langfristig als massentaugliches System funktionieren könnte, müsste er alle existierenden Rohdiamanten weltweit aufkaufen, zermahlen und als Diamantenstaub der Industrie für alle möglichen Zwecke und Werkzeuge zur Verfügung stellen. Parallel dazu müsste er einen Weg finden die Tonnen perfekt geschliffener Diamanten diskret auf den Markt zu bringen. Auf diese Weise würden aber Millionen Menschen, die die Kunst des Diamantschleifens beherrschen, innerhalb weniger Jahre überflüssig werden. Tausende Tonnen Gestein werden täglich von Millionen Bergarbeitern abgebaut, damit ein Bruchteil dessen als Rohdiamanten gewonnen werden kann. Er erinnerte sich an Antwerpen und Amsterdam, wo es unzählige kleine Buden von Diamantenschleifern gab, und jeder dieser Menschen sein Handwerk von seinen Vorfahren erlernt hatte, damit er seine Familie versorgen konnte. Wovon sollten all diese Menschen leben, wenn sie keine Arbeit mehr hätten? Eine Schwierigkeit zog die nächste nach sich und es war kein Ende in Sicht.
Jeder große Diamant auf dem Markt besaß eine eigene Geschichte und einen eigenen Namen. Man konnte nicht einfach bei Sotheby’s einen nussgroßen Diamanten versteigern lassen, wenn zu ihm keine Geschichte vorhanden, oder seine Herkunft ungeklärt war. Die allererste Überlegung Dons, diesen phantastischen Fund der australischen Regierung zu überschreiben, käme einer Katastrophe gleich. Ganz Australien und alle möglichen Abenteurer hätten sich über das Land wie Heuschrecken hergemacht. Das Land wäre im Handumdrehen umgegraben, zudem müsste man Machtkämpfe um jeden Stein befürchten, gefolgt von katastrophalem Preisverfall, Arbeitslosigkeit und sogar nachfolgenden Kriegen.
Als er schließlich seinen Kaffee zu Ende getrunken hatte, war er so weit. Er zahlte, ließ die Zeitungen auf dem Stuhl liegen und ging wieder in die Innenstadt. Im ersten Antiquitätenladen erwarb er eine kleine Edelholzschatulle samt einer Brosche aus Silber und Perlmutt. Im nächsten Trödelladen fand er einen kleinen Lederbeutel, der ziemlich alt war und von Fingerfett wie gewichste Schuhe glänzte. Dieser Beutel hatte einmal Chininpillen vor Feuchtigkeit bewahrt, als die ersten Siedler ins Land kamen. Für beide Gegenstände zahlte er gerade mal 138 Australische Dollar. Der nussgroße Diamant passte genau in das Beutelchen und dieses in das Schmuckschächtelchen.
„Das hätten wir schon mal erledigt“, dachte er zufrieden und ging weiter. Durch die viele Literatur die er gelesen hatte fand er sehr oft den Hinweis, dass der Diamantenhandel zum großen Teil in jüdischen Händen lag, weshalb er jetzt nach einem jüdischen Schmuckladen suchte. Es war etwas schwer einen zu finden, aber noch schwieriger war es den richtigen zu finden, in dem auch der Besitzer hinter dem Tresen stand. Australien war eines der bevorzugten Länder, in welches viele Juden in den Fünfziger Jahren ausgewandert waren. Sein Blick fiel auf ein Reklameschild das ihn von der Sonne beleuchtet anblinkte. Hoffnungsvoll öffnete er die Ladentür.
„Womit kann ich dienen, junger Herr“, fragte ein etwa sechzigjähriger Mann, der eine kleine schwarze Kippa trug und mit einem ins rechte Auge geklemmten Vergrößerungsglas an seinem Tisch arbeitete. Das war eindeutig ein antiquarischer Schmuckladen, in dem sich selten jemand blicken ließ.
„Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin, guter Mann, aber ich hätte - wenn möglich - etwas anzubieten“, antwortete Don leicht verlegen.
Der alte Mann entfernte die Lupe von seinem Auge, behielt sie aber in der Hand. Don wusste gleich, dass er den richtigen Laden gefunden hatte.
„Lass mal sehen, junger Mann, möglich ist alles, wenn der Preis stimmt.“
„Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben, mein Herr“, fragte Don höflich, um etwas Zeit zu gewinnen.
„Aber selbstverständlich, junger Mann, mit oder ohne Eis?“
„Einfach pur, nur einen Schluck Wasser bitte. Wissen Sie, mein Herr, es war nicht einfach für mich diesen Entschluss zu fassen.“
„Setzen Sie sich dort auf den kleinen Schemel. Ich bin gleich zurück.“
Der alte Mann schob einen dunkelgrünen Vorhang zur Seite und verschwand in dem Raum dahinter. Ein paar Sekunden später kehrte er mit einer Flasche Mineralwasser und einem Whiskyglas zurück. Er füllte das Glas und stellte es vor Don auf den Tresen. Schweigend beobachtete er wie Don das Glas in einem Zug leerte.
„Geht es Ihnen jetzt besser, junger Freund?“ fragte der alte Mann.
„Hoppla, jetzt nennt er mich junger Freund, na das wird was kosten“, dachte Don und stellte das Glas vor sich ab. „Vielen Dank, guter Herr, jetzt geht es mir viel besser.“
Ohne zu zögern griff Don in die Brusttasche seines Jacketts, nahm die Schachtel heraus und reichte sie ihm mit beiden Händen.
„Familienschmuck, nicht wahr?“, fragte der alte Mann.
„Von meiner Uroma, aber kein Schmuck, sondern etwas sehr Wertvolles“, erwiderte Don und schloss die Hände um die Schachtel, als hätte er es sich anders überlegt. Diese Geste steigerte die Neugier des Alten, der sichtlich nervös wurde.
„Lassen Sie mal sehen, was Sie da haben. Vielleicht kann ich den Wert zunächst einmal grob schätzen.“
Don ließ das Schächtelchen langsam aus seinen Händen auf die Theke gleiten. Der alte Mann nahm es zwischen Daumen und Mittelfinger, entsicherte den kleinen Riegel, hob den Deckel und kippte das Schächtelchen um, so dass der kleine Beutel auf die Theke fiel. Er nahm ihn vorsichtig in die Hand, tastete zunächst mit den Fingern, wog ihn auf der Handfläche und pfiff dann durch die Zähne.
„Soll das ein Diamant sein, mein Herr?“
„Donnerwetter, jetzt sind wir schon beim ‚mein Herr’ angelangt“, bemerkte Don. „Es ist ein lupenreiner Diamant, mein Herr“, bejahte er die Annahme des Schmuckhändlers.
Schweigend legte der alte Mann das Beutelchen auf die Theke, schritt nachdenklich zur Eingangstür, schloss sie ab und drehte das Ladenschild auf „Closed“. Dann ging er zum Fenster, zog die Vorhänge zusammen und kehrte zurück zur Theke.
Mit zittrigen Händen entknotete er vorsichtig die Schnur und öffnete erwartungsvoll das Beutelchen. Ganz vorsichtig ließ er den Stein auf seine Handfläche gleiten dabei setzte er sich auf seinen Arbeitsschemel. Er nahm die Lupe auf klemmte sie sich ans Auge und kramte in einer Schublade nach einer Pinzette. Behutsam legte er den Stein auf die in der Theke eingelassene Filzplatte und betrachtete den außergewöhnlich großen Diamanten unter der Tischleuchte.
„Mein lieber junger Herr, das sehe ich schon mit bloßem Auge. So etwas ist mir noch nie zwischen die Finger gekommen. Was für ein Schliff eines großen Meisters.“
Dann nahm er den Stein mit der Pinzette auf und drehte ihn langsam vor seiner Lupe. Die Lichtbrechungen wirkten wie ein Zauber auf den alten Mann.
„Jetzt brauche ich ein Glas Wasser, das können Sie mir glauben.“
Don füllte sein Glas mit Wasser und reichte es dem alten Mann, der es auch in einem Zug leerte.
„Das übersteigt bei Weitem meine finanziellen Möglichkeiten, aber ich habe Partner, die möglicherweise helfen können.“
„Das dachte ich mir schon, aber Sie sind ein Mann vom Fach und haben einen guten Ruf. So hoffe ich, werden wir eine vernünftige Lösung finden“, sagte Don José mit sanfter Stimme und so leise, als ob er nur laut für sich dachte. Der Alte schwieg und bewunderte den Diamanten immer wieder ganz in Gedanken versunken.
„Wenn Sie Zeit brauchen sich mit Ihren Partnern zu beraten, lasse ich den Stein in Ihrer Obhut, wenn es recht ist, mein Herr.“
Der alte Mann horchte auf und blickte den Kapitän überrascht an, als hätte er ihn nicht richtig verstanden.
„Ich habe mir von meiner Oma sagen lassen, dass das Diamantengeschäft auf absoluter Diskretion beruht und auf Vertrauensbasis nur mit jüdischen Händlern gemacht wird. Deshalb gehe ich davon aus, dass sie dieses Geschäft koscher behandeln werden, mein Herr.“
Der alte Mann streckte dem Kapitän seine rechte Hand entgegen und hielt die Linke an sein Herz. Don José ergriff die Hand und sagte:
„Möge der Allmächtige unser Zeuge sein.“
„In allen Dingen und auf ewig“, ergänzte der Alte feierlich.
Don entnahm aus seinem Portemonnaie eine frisch gedruckte Visitenkarte, schrieb auf die Rückseite „Hotel Bristol Zimmer 1122“ und überreichte sie dem alten Mann.
„Hinterlassen sie bei der Rezeption eine Nachricht für mich. Wenn das Geschäft hier im Bristol abgewickelt werden soll, schreiben sie ‚Onkel ist angekommen’. Wenn das Geschäft in Sydney stattfinden soll, dann schreiben sie ‚Tante ist angekommen’. Dann komme ich wieder hierher, um alles weitere zu besprechen.“
Der Alte legte den Stein vorsichtig zurück in den Beutel und diesen in das Schächtelchen, als wollte er in Ruhe bedenken, was ihm soeben passiert war. Dann blickte er Don tief in die Augen und bemerkte kopfschüttelnd:
„Sie sind ein außerordentlicher, junger Mann, ein Ehrenmann erster Güte. Es ist mir eine Freude und Ehre mit Ihnen Geschäfte zu machen.“
„So denke ich auch von Ihnen, edler Herr. Lassen Sie von sich hören, Shalom“, verabschiedete sich Don, ging zur Tür, schloss sie auf und spazierte hinaus. Er hörte das Schloss hinter sich klicken und wunderte sich, wie der Alte es so schnell zur Tür geschafft hatte.
Es dauerte zwei Tage, ehe er den erwarteten Briefumschlag an der Rezeption des Hotels vorfand. Zunächst ging er ins Hotelrestaurant, bestellte eine Suppe und Filet Mignon Medium, dazu ein Bier. Genüsslich verzehrte er alles in Ruhe. Sollte jemand in der Nähe gewesen sein der ihn wegen der Nachricht in dem Umschlag observierte, er würde niemals glauben, dass Don so ruhig speiste, während eine so wichtige Nachricht ungelesen auf ihn wartete.
Dass man ihn beschattete, wusste Don mit Sicherheit. Schon am gleichen Abend, nachdem er sich von dem alten Mann im Schmuckgeschäft verabschiedet hatte und ins Hotel zurückgekehrt war, rechnete er damit, dass jemand in der Lobby oder Bar auf ihn lauerte. Deshalb ging er gleich zur Bar und bestellte sich einen Tee mit Zitronensaft. Der Barkeeper kannte schon seine Trinkgewohnheiten und servierte starken „Earl Grey“ Tee und eine ganze Zitrone auf einem separaten Teller. Während Don seinen Tee in Ruhe ziehen ließ, stopfte er sich eine wuchtige Pfeife. Kaum hatte er den Tabak zum Glühen gebracht, als ihm eine attraktive, etwa fünfunddreißigjährige, dunkelhaarige Dame auf die Schulter klopfte.
„Darf ich meine Zigarette an Ihrer Pfeife anzünden junger Mann?“ flüsterte sie charmant und verführerisch zugleich. Diese Art der Anmache ist international verbreitet, entweder baten die Damen des horizontalen Gewerbes um Feuer, oder um einen Drink oder um beides. Don wollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, streckte sich nach vorne, nahm die Hotelstreichhölzer aus dem Aschenbecher, zündete eines an und hielt das brennende Streichholz so, dass sich die Dame etwas nach vorne beugen musste, um ihre Zigarette anzuzünden. Während er den Duft des Parfüms der Dame wahrnahm, zwinkerte er dem Barkeeper zu. Sie duftete nach sehr teurem französischem Parfum. Sehr intensiv, fast berauschend erotisch, dachte Don José. So etwas wird in dem Gewerbe nicht verwendet, denn schon ein kleines Fläschchen kostete ein Vermögen. Er löschte das Streichholz im Aschenbecher und schaute die Dame schweigend an.
„Vielen Dank, mein Freund. Wie dumm von mir die Streichhölzer zu übersehen“, sagte sie mit gespielter Verlegenheit.
„Ich wusste nicht, dass wir uns kennen, Verehrteste. Seit wann sind wir Freunde?“
„Ach, das ist nur so eine Redewendung, weil Sie so nett zur mir sind.“
Die Frau machte einen intelligenten und weltgewandten Eindruck auf ihn und erweckte seine Neugier. Er wollte mehr über sie erfahren.
„Es ist mir eine Ehre und Vergnügen, darf ich mich vorstellen?“
Don sprang flink vom Barhocker, streckte seine Hand aus und deutete, ganz Gentleman, einen leichten Handkuss an.
„Mein Name ist Don José de Gracias, verehrte Dame.“
„Oh sehr erfreut, ich bin Silvia Tizino mit „z“ dazwischen wie Zeppelin.“ Sie ergriff seine Hand und drückte recht fest zu. Wir haben es hier mit einer intelligenten und gut trainierten Dame zu tun, dachte er.
„Tizino wie Tizian, der große Meister der Renaissance, nicht wahr?“
Sie schaute ihn verblüfft mit einer leichten Kopfdrehung an, lächelte dann doch und machte mit Bedacht einen kräftigen Zug an der Zigarette. Dann blies sie den Rauch wie ein Drachen durch die Nasenlöcher wieder aus, warf ihren Kopf verführerisch in den Nacken und entließ den Rest hoch zur Decke wie eine Lokomotive.
„Was höre ich da? Sie sind ein Kunstkenner der alten Schule?“
„Mehr ein Liebhaber der Geschichte als Kunstkenner. Das Zeitalter in dem diese wunderschönen Werke entstanden sind, hat mehr mit Wundern, als mit der Schönheit des Geistes zu tun. Die alten Meister hatten sehr eigenwillige, machtgierige Auftraggeber, die oft den Wunsch äußerten, eine Fantasiewelt in schönen Farben darzustellen. Mit irgendwelchen gütigen Heiligen, die ihrem Wunschdenken entsprungen sind. Es wimmelt nur so von Engeln, Königen, frommen Priestern, üppigen Damen und Landschaften, die es eigentlich nie gab.“
Sie schaute Don mit großen Augen an, als hätte sie einen Geist vor sich. Sie sammelte sich schnell wieder, denn die Zigarette drohte ihre Finger zu verbrennen. Hastig drückte sie den Rest in dem Aschenbecher aus und versuchte ihre Finger von den Aschespuren zu reinigen.
„Heiliger Bimbam, ich hatte nicht erwartet einen geistigen Tieftaucher hier an der Bar zu treffen.“
„Und wen genau hatten Sie erwartet, Verehrteste?“ fragte Don etwas zu direkt für eine freundschaftliche Unterhaltung. Er wollte sie ein wenig in die Ecke drängen.
„Kein Grund zur Aufregung. Ich wollte Ihnen nur ein Kompliment machen, weil Sie so haarscharf den Nagel auf den Kopf getroffen haben.“ Sie lächelte ihn gütig an, wie die Mona Lisa im Louvre.
„Ich treffe nicht nur Nägel auf ihre Köpfe, sondern dank meiner Intuition auch meist ins Schwarze, verehrte Silvia.“
Jetzt hatte er sie definitiv in der Ecke. Sie kniff ihre Augen so eng zusammen, dass sich ihre langen Wimpern fast berührten. Die Maske ist weg, jetzt wird alles professionell gehandhabt, dachte Don.
„Sie sind nicht nur in der Geschichte des Mittelalters gut zu Hause, sondern können auch Gedanken lesen, meine Hochachtung, lieber Don. Ich glaube, ich bin jetzt etwas müde und werde mich mit leichteren Gedanken ins Bett legen. Gute Nacht wünsche ich Ihnen.“
Sie machte noch einen tiefen Zug an ihrer zweiten Zigarette, drückte sie hastig im Aschenbecher aus und rutschte eilig vom Barhocker, ohne Dons Reaktion abzuwarten. Als sie in Richtung Ausgang an einer Spiegelsäule vorbei ging, erfasste Don ihr Gesicht im Spiegel, wie sie auch ihn erblickte, streckte ihm die Zunge raus und bog nach rechts ab. Sieh da, die Dame wird zickig, so kurz vorm Schlafengehen. Sie wackelte so heftig mit ihrem Po, als wollte sie ihm ebenfalls noch ihren nackten Po präsentieren. Einen schlechten Verlierer sollte man meiden, dachte Don und trank endlich seinen Tee.
Gegen Mitternacht betrat er sein Zimmer und bemerkte sofort den unverwechselbaren Duft des teuren Parfüms. Er schmunzelte doch den richtigen Eindruck von Silvia gehabt zu haben. Was sie vorfand waren seine feine Garderobe, samt einer ausgefallenen Kulturtasche und ledernem Koffer, die er sich vor zwei Wochen beim Herrenausstatter in der Ann-Street gekauft hatte, sowie ein paar Bücher. Das war alles. Alle anderen Sachen lagen auf einer gecharterten 40’-Yacht im Yachthafen von Gladstone gut versteckt. Den Landrover mit der Ausrüstung hatte er in einer gemieteten Garage südlich von Brisbane untergestellt. Alle diese Vorkehrungen waren schon lange Bestandteil seines Lebens. Schon als er in seiner alten Heimat von kommunistischen Spitzeln beschattet worden war, musste er sich entsprechend einrichten. Er suchte damals keinerlei politische oder religiöse Gruppen auf, aber alle bewunderten sein analytisches Denken. Allzu gerne versuchten sie seine Aufrichtigkeit für ihr Anliegen einzuspannen. Daher lernte er sehr früh, wie man solchen Leuten aus dem Weg gehen sollte.
In den letzten zwei Tagen bemerkte er drei verschiedene Schatten, die sich abwechselnd an seine Fersen hefteten. Er ging einfach seinen eigenen Plänen nach, suchte keinen Ärger, kaufte hier und dort Dinge, die er für die lange Reise benötigte. Sie sollten ruhig sehen, dass er gut bei Kasse war, sonst könnten sie vielleicht noch auf die Idee kommen, ihn über den Tisch ziehen zu wollen.
Don dachte über die letzten zwei Tage nach, in denen er auf die Nachricht des alten Mannes gewartet hatte, sah den Briefumschlag ungeöffnet auf dem Tischchen liegen und entschied zunächst die Zähne zu putzen, danach noch eine letzte Pfeife zu stopfen. Mach es dir gemütlich, mein Junge, dachte er. Die Weltgeschichte zu gestalten ist eine große Herausforderung, die du in jeder Phase auskosten solltest. Schließlich saß er bequem, die Pfeife rauchte. Vor ihm lag der Brief den er endlich behutsam öffnete. Ein kleiner handgeschriebener Zettel lag darin auf dem die kurze Nachricht stand: „Onkel ist angekommen.“
Am nächsten Morgen frühstückte er ausgiebig, las Zeitungen, rauchte eine Pfeife und kehrte schließlich in sein Zimmer zurück. Er rief den Hotelmanager an, fragte ob ein kleines Konferenzzimmer für heute Nachmittag frei sei und vereinbarte die Reservierung für 15 Uhr bis Mitternacht. Aus der hoteleigenen Mappe zog er einen Briefbogen heraus und schrieb folgendes: „Warte auf Onkel in der Lobby des Hotels, 15 Uhr im Konferenzraum Nr. 3.“ Den gefalteten Briefbogen steckte er in einen Umschlag der anschließend in seiner Jackentasche verschwand. Dann nahm er das Telefonbuch von Brisbane zur Hand, suchte nach einem Hotel in der Nähe, das in wenigen Minuten zu Fuß zu erreichen wäre. Er entschied sich für das Park Royal in der Alice Albert Street, unweit der Synagoge, schrieb noch die Telefonnummer auf und verließ das Zimmer. Unten vor dem Eingang des Hotels warteten zwei seiner Beschatter, einer saß im Taxi, der andere stand neben dem Telefonhäuschen, unweit des Eingangs.
„Sieh da, der Onkel lässt es sich was kosten“, sagte Don, drehte sich abrupt um und ging zurück ins Hotel. Er schritt zur Rezeption, sprach kurz mit dem Concierge, gab ihm den Briefumschlag und bat darum ein Taxi zu der Adresse des Schmuckgeschäftes zu schicken. Dann schlenderte er in die Bar, doch anstatt dort zu bleiben, drehte er sich um und ging zur Lobby. Dort sah er den Bellboy mit dem Taxifahrer sprechen. Don wartete ein paar Minuten beim Zeitungsstand, ging anschließend zum Aufzug. Im Aufzug drückte er Stockwerk 11, hatte nicht vor auszusteigen, sondern drückte den Knopf zur Parkgarage. Auf Parkdeck 1 stieg er aus und verließ das Hotel durch den Seitenausgang.
Don überquerte die Straße, suchte ein Kaffeehaus in dem er draußen sitzen konnte. Es gab keines in der Nähe. So ging er in einen Buchladen, suchte nach einem Yachtmagazin und stellte sich so ans Fenster, dass er die Einfahrt in die Tiefgarage des Hotels genau im Blick hatte. Ganze drei Ausgaben musste er von vorne bis hinten und irgendwo dazwischen durchblättern, ehe das Taxi eintraf und im Parkhaus des Hotels verschwand. Er kaufte schnell ein Modemagazin für Männer und überquerte die Straße. Durch den Seiteneingang des Hotels ging er sofort zum Lift, fuhr in die elfte Etage und ging geradewegs in Richtung seines Zimmers. Schon im Flur vernahm er den frischen Duft von Silvias Parfüm. Er blieb abrupt stehen um nachzudenken. Sie musste vor fünf Minuten hier gewesen sein, aber in welche Richtung war sie gegangen? Falls sie in seinem Zimmer wäre, wollte er sie dort nicht erwischen, weil das den Abbruch der Verhandlung bedeuten würde. Sie könnte aber auch auf derselben Etage wohnen, überlegte Don.
Vielleicht war sie in meinem Zimmer, nur um sicher zu gehen, dass ich ihr nicht in die Quere komme. Viel zu viele -vielleicht-, dachte er. Fakten schaffen ist besser. Er drehte sich um, ging den Flur entlang, bog in den Seitenflügel der Etage, ging bis ans Ende und verweilte etwa zehn Minuten am Fenster. Dann spazierte er langsam zurück, vernahm jedoch keinen Duft mehr im Flur. Die Klimaanlage hatte Silvias Parfum verpuffen lassen. Auch als er in sein Zimmer trat, vernahm er keinen Duft mehr. „Logisch“, dachte er. Sie logiert auf der Etage und ging nach unten, als das Taxi in die Tiefgarage kam. Entschlossen rief er das Park Royal Hotel an, machte eine Reservation für eine Suite in der oberen Etage und kündigte sein Eintreffen kurz vor Mittag an. Dann schrieb er auf einem zweiten Briefbogen die Nachricht: „Lieber Onkel, wegen besserem Klima bin ich ins Hotel Park Royal umgezogen. Treffpunkt Suite 2203 um 15.30 Uhr.“ Er steckte den Brief in einen neuen Umschlag und schrieb darauf: „Für meinen Onkel“, verstaute ihn in seinem Jackett und verließ das Zimmer. Bis zur ersten Etage fuhr er mit dem Aufzug, den restlichen Weg stieg er die Treppen hinunter, welche vor dem Frühstücksraum endeten. Von hier aus konnte er den Konferenzraum sehen und ging sofort dorthin. Der Duft war da, aber der Raum war leer.
„Goldrichtig getippt“, flüsterte er und begann den Raum gründlich zu untersuchen. Nach zehn Minuten musste er zugeben, dass sie etwas hier hinterlassen hatte, aber war noch nicht dahinter gekommen. „Denk logisch Junge“, sprach er zu sich. „Es ist zu früh den Raum nur zu untersuchen. Sie hätte es viel später tun müssen, aber nicht so früh den Raum präparieren. So, wo ist das Ding?“
Der Konferenztisch aus wunderschönem Edelholz gearbeitet war ziemlich lang. Darauf standen drei Aschenbecher aus Glas verteilt, nichts weiter. Keine Tischdecke, keine Schreibhefte darauf. Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb bei dem Telefon hängen. Der Apparat stand auf einer Anrichte, in der möglicherweise Gläser und Geschirr untergebracht waren. Er erblickte einen weiteren Aschenbecher neben dem Telefon.
„Hoppla, das ist ein Aschenbecher der nicht zum Hotel Bristol gehört“. In der Tat lag dort ein ziemlich großer viereckiger Gegenstand, der aus Kunststoff hergestellt war. An allen vier Seitenflächen stand in königsblau „Hilton“ geschrieben.
„Mal sehen was das Ding zu erzählen hat“, dachte Don und nahm den Aschenbecher vorsichtig in die Hand. Er war schwer, sogar viel schwerer als die Glasaschenbecher, die auf dem Tisch standen, obwohl der Kunststoff viel leichter hätte sein müssen. Er betrachtete ihn von allen Seiten und wog ihn in der Hand, aber er konnte keine Knöpfe oder Verschlüsse entdecken. Dann nahm er den Aschenbecher so, dass die Finger einer Hand in das Innere griffen, die der anderen Hand die quadratische Außenfläche hielten. Er versuchte ihn mit einer Drehung im Uhrzeigersinn zu verdrehen. Es tat sich nichts. Ein zweiter Versuch in die Gegenrichtung brachte ein leises „Klick“ und er hatte zwei Hälften in den Händen. Die obere Hälfte war hohl und auf der unteren Hälfte war ein Tonbandgerät angeklebt. Das Gerät lag in einem durchsichtigen Plexiglasgehäuse, so dass der Innenraum mit einer Spule, zwei Batterien, einem kleinen Antriebsmotor und ein paar bunten Drähten, sowie elektronischen Komponenten vollgestopft war. So ein kleines Tonbandgerät hatte Don noch nie gesehen. An einer Ecke war ein winzig kleiner Schalter angebracht und daneben eine silberne Metallschrift.
„Das haben wir gleich“, dachte der Kapitän und drückte den kleinen Stift hinein. Dann schob er den kleinen Schalter in entgegengesetzter Richtung und das Band fing an zu laufen. Er warte eine Weile bis das Band auf die andere Rolle aufgespult war und ließ es dann in Gegenrichtung laufen. Diesmal lief das Band wesentlich langsamer und es produzierte Knackgeräusche. Deutlich vernahm er die Stimmen von mehreren Personen, die gleichzeitig in einer ihm fremder Sprache redeten.
„Donnerwetter, diese Leute haben es eilig gehabt den Hilton Aschenbecher ins Bristol zu bringen und sich noch nicht einmal die Zeit genommen, das Band zu wechseln“, grübelte er, während das Band lief und die Stimmen lauter wurden. Ihm kam die Sprache irgendwie bekannt vor, weil einige Wörter ein wenig wie Deutsch oder ähnlich klangen. Da er oft mit Juden zu tun hatte, nahm er an, dass es Hebräisch sein könnte. Es war ihm auch egal, denn das, was auf dem Band aufgenommen war, betraf eine andere Angelegenheit, die ihn nichts anging. Er schaltete das Gerät ab und montierte den Aschenbecher wieder zusammen. Dann suchte er in der Schublade der Anrichte nach einer Serviette oder einem Tuch, womit er ihn einwickeln konnte. Die Schubladen waren leer. So steckte er den Aschenbecher einfach unter sein Jackett und hielt ihn mit dem Oberarm fest. Den Briefumschlag, den er mitgebracht hatte, legte er genau dorthin, wo der Hilton Aschenbecher gestanden hatte und beschwerte ihn mit einem der Glasaschenbecher.
„Langsam werden diese Leute merken, dass sie es nicht mit einem Trottel zu tun haben“, flüsterte der Kapitän und verließ den Konferenzraum. Er benutzte die Treppe zur ersten Etage und fuhr dann mit dem Aufzug weiter in den elften Stock. Sobald er in seinem Zimmer war, packte er schnell alle Kleidungsstücke und Utensilien in seinen Koffer, warf noch einen schnellen, letzten Blick ins Bad und ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich und fuhr mit dem Aufzug bis in die Tiefgarage. Dort stellte er den Koffer beim Wächter ab, bat ihn ein Taxi zu rufen, ging zur Rezeption und beglich seine Rechnung. In der Lobby wimmelte es von Gästen, die gerade mit einem Reisebus angekommen waren. Ob der Schatten irgendwo auf ihn wartete, konnte er so nicht feststellen. Es war ihm jetzt egal, schließlich wusste jede beteiligte Partei woran sie war, also brauchte man keine weitere Zeit zu verschwenden.
Die Suite im Park Royal Hotel war sehr geräumig und schön eingerichtet. Vom Eckbalkon konnte er die Stadt und den Brisbane River in der Mittagssonne genießen. Das Zimmermädchen war damit beschäftigt seine Anzüge und Hemden in den Schränken unterzubringen. Don José saß während dessen auf dem Balkon und rauchte eine Pfeife. Das Zimmermädchen war eine junge Frau Anfang zwanzig und sehr hübsch. Während sie sich bemühte ihm zu erklären, wie die Dinge im Badezimmer funktionierten, der Fernseher bedient wurde usw., bemerkte er einen leichten europäischen Akzent an ihr, den er nicht genau zuordnen konnte.
„Wo kommen sie her, Fräulein?“ fragte er. Sie blickte hoch, als sie gerade den Whirlpoolhebel bediente.
„Meine Eltern sind vor ein paar Jahren aus Spanien eingewandert.“
„Dann können wir uns in spanisch unterhalten“, antwortete Don und lächelte sie an.
„Das ist aber erfreulich einen Landsmann kennen zu lernen. Mein Name ist Alida und Ihren Namen habe ich schon auf der VIP Liste gelesen. Kommen Sie auch aus Spanien?“ fragte sie, als sie aus dem Badezimmer kam. Don ging in das geräumige Schlafzimmer voran, auf dem Weg ins Wohnzimmer sprach er etwas lauter:
„Eigentlich nicht direkt, vielleicht vier Generationen zurück. Zur Zeit der großen Hexenjagden sind meine Vorfahren nach Nordeuropa geflüchtet, nehme ich an.“
„Die Hexenjagden sind noch immer im Gange, edler Herr, deshalb sind meine Eltern vor Frankos Killerkommando geflüchtet.“
Er dachte darüber nach, was er soeben gehört hatte und schwieg.
„Sie werden es nicht glauben, aber sie haben meine Eltern auch hier im fernen Australien ausfindig gemacht und umgebracht.“
„Wer hat Ihre Leute umgebracht, junge Frau? Die Frankoleute oder die andere Seite? Das möchte ich genau wissen.“
„Die fünfte Kolonne der Frankistas, die Priester des Opus Dei, sie haben wochenlang unser Haus in Melbourne beschattet.“
Er schwieg eine ganze Weile und dachte weiter nach. Alida stand noch immer da und wartete. Don José fragte:
„Wie sind Ihre Eltern ums Leben gekommen?“
„Meine Eltern waren mit dem Wagen unterwegs nach Adelaide um nach einem geeigneten Haus und Geschäft zu suchen. Wir mussten umziehen, wissen sie. Diese Bastarde ließen uns nicht in Ruhe. Ihr Wagen wurde von einem Lastwagen von der Straße gedrängt und prallte gegen einen Baum. Der Lastwagen war ebenfalls verunglückt und daher wusste ich, wer meine Eltern umgebracht hatte.“
„Das ist sehr bedauerlich und schmerzhaft für Sie. Ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht traurig gemacht mit meiner Fragerei, aber das geht mir so richtig unter die Haut. Wenn es Ihnen nicht zu schwer fällt, möchte ich gerne wissen, wer den Lastwagen gefahren hat.“
Er schaute sie an und wusste wie ihr zumute war. Er kannte solche Schicksale und hatte selbst viel zu viel Leid erlebt.
„Sie werden es nicht glauben, Don José. Es war ein Priester in voller Montur, der bestimmt nicht damit rechnete, an diesem Tag sterben zu müssen. Der Lastwagen war gestohlen und die Polizei hatte keine Erklärung dafür, wo der Priester hergekommen war. Sein Orden in Melbourne behauptete, ihn nicht zu kennen.“
„Aber Sie hatten auch dazu etwas zu sagen, nicht wahr? Wieso hat die Polizei Sie nicht befragt?“
„Ich habe erst zwei Wochen später davon erfahren. Ich studierte in Sydney Archäologie und Jura und war bei Freunden meiner Eltern unter falschem Namen versteckt. Meine Eltern sind bei dem Unfall vollkommen verbrannt und konnten erst zwei Wochen später identifiziert werden.“
„Das leuchtet mir ein. Als Sie dann davon erfuhren, haben Ihre Freunde Ihnen davon abgeraten nach Melbourne zu fahren?“
Sie schaute ihn verwundert an.
„Woher wissen Sie das eigentlich alles, sind Sie einer von denen?“
„Nun beruhigen Sie sich. Ich bin einer dem Sie vertrauen können, weil ich nur zu gut weiß, worüber Sie sprechen.“
„Den Eindruck hatte ich auch gleich als ich Ihnen begegnete. Allerdings, heutzutage kann man sich leicht täuschen.“
„In meinem Fall haben Sie Glück, sehr viel sogar, warum werden Sie gleich erfahren.“ Er ging zu dem wuchtigen Schreibtisch, setzte sich hin und ergriff das Telefon. Er wusste nicht ob er seinen Freund Erol zu Hause erreichen würde, aber er hoffte es sehr. Als das Telefon in Sydney klingelte, schaute er sie lächelnd an. Das Zimmermädchen stand wie angewurzelt da. Sie wusste nicht recht wie sie sich verhalten sollte.
„Hier bei Erol.“ meldete sich eine vertraute männliche Stimme.
„Edy, du alter Seemann, wie geht es euch beiden Herumtreibern?“ brüllte Don José vor Freude.
„Hi, Don, wo steckst du? Was machst du? Wir dachten schon die Dingos hätten dich zwischen den Zähnen erwischt.“
„Edy, mir geht es bestens. Ich bin in Brisbane im Hotel Park Royal. Wo ist Erol? Ich brauche eure Hilfe und zwar ziemlich schnell. Frag nicht, es ist wichtig.“
„Erol ist gleich zurück. Er wollte unten an der Straße Fisch und Chips zum Mittagessen holen. Wozu die Eile mein Freund?“
„Sobald ihr gegessen habt..., Moment mal, jetzt haben wir es gleich.“ Don holte ein kleines schwarzes Adressbuch aus der Tasche, klemmte den Hörer zwischen Kopf und Schulter und blätterte in seinem Adressbuch.
„Schreib auf, Edy: 99823374. Das ist die Nummer eines befreundeten Piloten, der einen Doppeldecker besitzt. Kuki ist sein Name. Er wird euch beide sobald wie möglich nach Brisbane fliegen.“
„Kuki? Ist das der Name des Flugzeuges oder des Piloten?“ fragte Edy belustigt.
„Beides Edy, und macht euch eine Prise Pulver unter die Nase.“
Das war ein aus Spaß ersonnener Spruch, der aber sowohl die Dringlichkeit, als auch höchste Gefahr beschreiben sollte.
„Wo sollen wir absteigen? Im gleichen Hotel?“ wollte Edy wissen, alles andere hatte er schon verstanden.
„Ich habe eine Suite, in der ist Platz für uns alle.“
„Aye, Aye, Kapitän. Den Kuki schicken wir zurück, sobald wir gelandet sind.“
„So ist das und bitte kleidet euch anständig. Ihr werdet euch um eine junge Dame kümmern müssen, sie braucht euch dringend.“ Als hätte er sich an etwas erinnert, ergänzte er seine Anweisungen: „Wartet auf mich in der Bar des Hotels. Kommt nicht gleich zu mir in die Suite, weil ich ein paar Sachen erledigen muss.“
„Aye, Aye, Kapitän, so wird’s gemacht. Bis dann, mein Freund.“
Don legte den Hörer zurück aufs Telefon, stand auf, ging zu der jungen Frau, sah in ihre verwirrten Augen und sprach ruhig zu ihr:
„Erol und Edy sind meine besten Freunde. Sie sprechen kein Spanisch aber auf die zwei können Sie sich absolut verlassen. Ab heute Abend sind die zwei Burschen nur für Ihre Sicherheit verantwortlich. Ich habe heute Nachmittag hier in der Suite eine Konferenz. Diese wird bis etwa sieben Uhr dauern und Sie werden als Bedienung arbeiten. Kaffee, Tee, was auch immer die Herren haben wollen, Sie werden sich in der Küche aufhalten und sehr diskret sein. Kommen Sie nur ins Zimmer, wenn ich schelle. Wenn die Herren weg sind, werden wir meine Freunde aus der Bar hierher kommen lassen und alles Weitere besprechen.“
Alida stand noch immer an derselben Stelle und wischte sich die Tränen vom Gesicht.
„Warum tun Sie das, Herr Don José? Sie sind mir keinen Gefallen schuldig.“
„Ich tue es für meine Uroma. Über diese alte Frau werde ich Sie später unterrichten. So, liebe Alida, ich habe jetzt einen Riesenhunger und um 15:30 kommen meine Geschäftspartner. Bis dahin melden Sie sich beim Etagenmanager. Gehen Sie an die Rezeption und instruieren Sie den Concierge, dass ich Gäste erwarte. Bringen Sie mir bitte ein gegrilltes Hähnchen, Salat und ein paar knackige Brötchen ins Zimmer.“
„Das mache ich sehr gerne für Sie, edler Don“, sagte sie schluchzend und ging ins Bad um sich die Tränen wegzuwischen. Als sie frisch gepudert ins Zimmer zurück kam, fragte sie vorsichtig:
„Der Küchenchef macht heute Wildgerichte. Seine Spezialität ist geschmorter Fasan mit Pilzen, dazu Jasminreis, Gemüse und Preiselbeeren. Sehr appetitlich, das möchte ich Ihnen lieber empfehlen, weil der Chef einen Wutanfall kriegt, wenn er das Wort „Hähnchen“ hört.“
„Wie hätte ich das vergessen können, dass wir im Park Royal logieren.“ Und beide lachten vor Freude sich so gut zu amüsieren.
Als das Zimmermädchen Alida eine halbe Stunde später den Servierwagen durch die Doppeltür der Suite manövrierte, wurde sie vom Küchenchef persönlich begleitet. Das war kein Wägelchen wie Don es kannte, sondern ein Servierwagen, auf zwei Etagen voll beladen mit glänzenden Silbergefäßen und mit vergoldeten Henkeln und Griffen. Der Küchenchef hatte ein purpurrotes Gesicht, einen Riesenbauch, war schneeweiß gekleidet und trug einen Hut, so hoch, dass er den Kronleuchter streifte. Ein weißblaues Küchentuch hatte er wie einen Schal um den wulstigen Hals geknotet und ein größeres Tuch über dem Arm gehängt. Don erkannte auf Anhieb in ihm einen waschechten Bajuwaren und sprach ihn gleich auf Deutsch an:
„Das ist aber eine echte Freude, Chef, dass Sie sich hierher bemüht haben. Einen waschechten Bajuwaren zu begrüßen, soll man sich nicht entgehen lassen.“
Der Chef verzog seine schmalen Lippen zu einer Art Banane und die Augen lachten vor Freude und Anerkennung.
„Was sehe ich da? Das kann doch nicht wahr sein, Don José, der meine Kalbshaxe samt Teller weggeschmissen hat, weil er mit einem Hechtsprung in die Isar ein kleines Mädchen retten wollte. Jesus und Maria, das ist eine Überraschung!“
„Alois, mein Freund, du übertreibst schon wieder. Das kleine Mädchen war dreizehn und konnte gut schwimmen. Sie wollte ja nur ihren Eltern einen Schreck einjagen. Wie geht es dir so, hier im Lande?“
„Don, du bist immer noch der Alte. Was machst du denn hier in Brisbane?“
„Geschäfte, Alois, wie immer. In Brisbane bin ich nur auf einen Sprung, sonst bin ich die meiste Zeit im Land unterwegs, wenn ich nicht gerade meine Wohnung in Sydney sauber mache, nachdem die Partygäste weg sind.“
„Das hört sich nach einer gesegneten Lebensart an, mein Freund. Es freut mich sehr zu wissen, dass wenigstens einer meiner alten Gäste meine Kochkunst zu schätzen weiß.“
„Chef, alle Ihre Gäste sind verzaubert von Ihren Künsten“, fiel Alida ihm ins Wort, weil sie es eilig hatte, das gute Essen nicht kalt werden zu lassen.
„Du kleiner Spatz, was weißt Du schon von alter Freundschaft.“
„Dann wollen wir sehen, was du heute zusammen gezaubert hast“, frohlockte Don José, sichtlich erfreut wieder einem echten Meister der guten Küche begegnet zu sein.
Alois hob den Deckel, aber nur ein paar Zentimeter und beugte sich nach unten.
„Riech mal“, sagte er zu Don José. Das tat er auch gleich, richtete sich auf und machte eine Grimasse, als ob sich ihm der Magen umdrehte.
„Alois, das stinkt ja bestialisch“, sagte er grimmig, verzog dabei sein Gesicht zu einer echten Fratze und lachte laut. Alois und Alida lachten beide auf und Alois wuchtiger Bauch wippte wie ein riesiges Jo-Jo auf und ab.
„Halleluja, auf deine Nase ist immer Verlass. Dann wollen wir mal, Fräulein Alida. Der Herr ist vorgewarnt“, sagte Alois und gab ihr ein Zeichen, den Wagen in den Nebenraum zu schieben.
„Alois, habt Ihr schon zu Mittag gegessen, Ihr beide, meine ich?“
„Aber, aber, das gehört sich nicht in diesem Hotel, das weißt du doch.“
„Komm schon, Alois, das weiß ja keiner außer uns, nicht wahr?“
„Aber nur einen Happen, ich muss gleich wieder weg, weil die Jungs unten sonst den Pfeffer mit dem Puderzucker verwechseln“, lachte er.
„Von wegen nur einen Happen“, dachte Don, als er seine Finger in das Wasser des Weinkühlers eintauchte und sie mit der Serviette trocknete. Der Tisch sah aus wie ein Schlachtfeld und der riesige Fasan bestand nur noch aus einem Häuflein abgeknabberten Knochen. Alois trank seinen letzten Tropfen Riesling vom Bodensee und rülpste wie ein Nilpferd aus der Tiefe seiner Seele, die bei ihm offensichtlich im Bauch wohnte.
„Pfui Deibel, Alois“, schimpfte Don und rülpste ebenfalls und alle drei lachten wie kleine Kinder. Don blickte zur Wanduhr. „Es wird Zeit aufzuräumen, meine Gäste kommen bald.“
„Klar doch Kumpel, ein Räumungskommando wird gleich kommen. Hast du etwas besonderes, das ich für deine Gäste zubereiten soll?“ fragte Alois als er schon zur Tür unterwegs war.
„Alois, nur sehr koscheres Essen, wenn du das überhaupt fertig bringst, mit einer Flasche Riesling im Kopf.“
„Es liegt schon etwas in der Kühltruhe, direkt aus Tel Aviv importiert. Nur auspacken und aufwärmen. Der Direktor isst nur koscheres Essen und traut mir nicht übers Messer.“ Sie lachten wieder und Alida fing an das Geschirr einzusammeln.
„Mein Gott, das hat gut getan, so köstlich habe ich das letzte Mal mit meinen Eltern in Madrid gegessen. Wie sich die Zeiten ändern. Jetzt bin ich mit dem Chef sogar per Du. Ob das gut geht, vermag ich jetzt gar nicht dran zu denken“, sagte Alida.
„Das kannst du ruhig glauben, weil du nicht mehr hier arbeitest. Ab sofort bist du meine Assistentin mit doppelter Gage und zwei lustigen Schutzengeln, die dich, wie ihre eigene Schwester beschützten werden“, antworte Don.
„Das ist zuviel, einfach zuviel zu verlangen!“
„Don José de Gracias hat gesprochen und das ist ein Befehl!“
„Aye, Aye, Kapitän“, frohlockte Alida vor lauter Entzücken, das wohl dem guten Wein und der fröhlichen Atmosphäre entsprungen war.
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