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Zwischen dem Königreich Frankreich und dem deutschen Reich

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Eine ganze Reihe von Grenzangelegenheiten betraf die Scheldegrenze. Osterbant ist ein von den drei Flüssen Schelde, Scarpe und Sensée begrenztes Gebiet, das die ganze Region zwischen Douai und Valenciennes beinhaltet, einschließlich einiger Klöster wie Anchin, Marchiennes, Hasnon, Vicoigne. Diese kleine Region sollte zum Gegenstand eines Konfliktes zwischen dem König von Frankreich und dem Grafen von Hennegau werden, der sich über Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte hinzog. Es ging dabei im Grunde um die Definition der Grenze zwischen regnum und imperium24.

Der Vertrag von Verdun 843 hatte den pagus Austrovadensis dem Königreich von Karl dem Kahlen unterstellt. Es ist sicher, dass es in den letzten Jahrzehnten des 11. Jahrhunderts und noch zu Beginn des 12. Jahrhunderts über die Zugehörigkeit Osterbants zu dem, was das Königreich Frankreich geworden war, keine Diskussion gab. Dies zeigen etwa die anlässlich der Errichtung des Bistums Arras 1093 –1094 angefertigten Dokumente. Darf man annehmen, dass dieses Bewusstsein der Zugehörigkeit Osterbants zum westlichen Königreich im Laufe der zwei folgenden Jahrhunderte verloren gegangen ist? Was in diesem Zusammenhang eine Rolle gespielt haben dürfte, ist die Tatsache, dass der Teil der Diözese von Arras, den Osterbant darstellte, nach 1072 und der „Usurpation“ der Grafschaft Flandern durch Robert den Friesen an die Grafschaft Hennegau angegliedert wurde. Jedenfalls wies Ludwigs des Heiligen Schiedsspruch von Peronne am 24. September 1256 Osterbant der Grafschaft Flandern zu. Allerdings wurde das Schiedsrichteramt Ludwigs des Heiligen in diesem Punkt nicht anerkannt. Dies änderte sich mit der Thronbesteigung Philipps des Schönen anlässlich eines internen Konflikts der Abtei Anchin um das Abbatiat. Als er in den Konflikt eingriff, schrieb der König am 17. Juni 1286 an den Grafen von Hennegau, um die Zugehörigkeit Osterbants zum Königreich Frankreich zu bestätigen: „denn im Gebiet von Osterbant, das, wie wir erfahren haben, zu unserem Königreich gehört, befindet sich das Kloster von Anchin, das von unseren Vorfahren gegründet wurde“. Es ist wichtig, hier zu sehen, dass diese erste Bestätigung der Zugehörigkeit Osterbants zum Königreich Frankreich, enthalten in dem „wie wir erfahren haben“ („sicut didicimus“), Philipp dem Schönen 1286 von den Mönchen von Anchin aufgezeigt wurde, die den König von Frankreich gegen den Grafen von Hennegau geradezu ausspielten.

Einige Jahre später, als der Konflikt erneut aufgeflammt war, zwang der König von Frankreich den Grafen von Hennegau tatsächlich, am 16. September 1290 für Osterbant den Lehnseid zu leisten. Allerdings berührt die getroffene Regelung die rechtliche Frage nicht grundlegend: Philipp lässt wissen, dass Johann ihm den geforderten Lehnseid für Osterbant geleistet hat, und erlässt ihm das aufgrund der Verspätung auferlegte Bußgeld. Gleichwohl gestand Philipp die Möglichkeit ein, dass das Gebiet Osterbant nicht vollständig zu seinem Königreich gehörte; daher wurde eine Untersuchung beschlossen, um festzustellen, was zum Königreich gehörte und was nicht, und der König verpflichtete sich, jene Gebiete seiner Lehnsherrschaft, die sich außerhalb des Königreichs befanden, nicht in den Lehnseid mit einzubeziehen; die Kirchen und die vier Abteien des Osterbants blieben provisorisch unter seinem Schutz, aber auch hier sollte eine Untersuchung durchgeführt werden und der König akzeptierte im Voraus deren Ergebnisse.

Nach einigen Zwischenfällen wurde diese Übereinkunft 1292 bestätigt. Alles in allem gingen die Beziehungen zwischen dem König und dem Grafen von Hennegau, die durch eine gemeinsame Feindschaft gegenüber dem Grafen von Flandern verbunden waren, sehr rasch von Gegnerschaft zu einem von Heiraten besiegelten Freundschaftsvertrag über. Und am 19. Juni 1297 übergab Philipp der Schöne den Schutz der Klöster von Osterbant an Johann von Avesnes. Der Graf von Hennegau musste demnach dem französischen König vorsorglich den Lehnseid für das Gebiet Osterbant leisten, aber es war vereinbart, dass eine Untersuchung feststellen sollte, wie es sich damit wirklich verhielt.

Natürlich war es illusorisch, eine derartige Untersuchung durchzuführen, aber die periodische Erneuerung dieses Abkommens erlaubte schließlich jeder der beiden Seiten, ihren Standpunkt beizubehalten, was sie als ihr Recht ansah.

De facto sind das ganze 14. Jahrhundert und die Zeit darüber hinaus gekennzeichnet durch die Ankündigungen zur Durchführung dieser Untersuchungen (Enquêten). Eine Schiedskommission wurde eingerichtet, die gute Miene machte und sich an die Arbeit begab, freilich ohne Ergebnisse zu erzielen. Die Frage des Osterbants war auf jeden Fall im 15. Jahrhundert immer noch nicht geregelt, als 1448 der Herzog Philipp der Gute eine große Untersuchung organisierte, die die Rechte seiner Vorfahren und seine eigenen auf Osterbant nachweisen sollte. Bei dieser Gelegenheit gab ein Zeuge an, Grenzsteine aus Kupfer gesehen zu haben, die sich im Flussbett der Scarpe bei Douai befanden und das französische Königreich und das Kaiserreich trennten, Grenzsteine, die ebenso imaginär, aber weniger berühmt waren wie jene im Flussbett der Maas, von denen Zeugen in den 1380er Jahren behauptet hatten, davon reden gehört zu haben. Die Angelegenheit blieb in der Schwebe; die Briefe Ludwigs XI. aus Abbeville vom 5. Oktober 1464 hielten fest, dass der König dem Herzog von Burgund zu Lebzeiten einen Aufschub der Prozesse und Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Grenzen des Königreichs und des Reiches sowohl entlang von Alost, Terremonde, Hennegau und Osterbant als auch entlang der Grafschaft in Burgund zubilligte. Eine Abhandlung über die Ansprüche Marias von Burgund und Maximilians von Österreich gegenüber Ludwig XI. von Frankreich konstatierte denselben unentschiedenen Rechtsstatus zwischen dem Königreich Frankreich und dem Reich hinsichtlich Osterbants.

Einige andere Angelegenheiten, die sich eher im Schatten jener von Osterbant abspielten, erhielten eine ähnliche Regelung. Das Gebiet der Abtei Fesmy im Süden des Hennegaus befand sich an der Grenze des Königreichs und des Fürstentums. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts scheint diese Situation und damit der exakte Verlauf der Grenze zwischen regnum und imperium zum Problem geworden zu sein, ohne gelöst werden zu können. Auch hier erfolgte das Eingreifen Philipps des Schönen, wahrscheinlich 1287, auf Bitten des Abtes, der einen Beschützer gegen den Grafen von Hennegau suchte. Der Graf von Hennegau antwortete, indem er eine Untersuchung durchführte, in deren Verlauf Zeugen erklärten, dass sie gemäß ihrem verbrieften Recht im Reich „schliefen und aufstanden“25. In der Folgezeit wurde Fesmy in die vom König von Frankreich und dem Grafen von Hennegau im 14. und 15. Jahrhundert rituell angeordneten Untersuchungen über Osterbant einbezogen. Man gelangte jedoch offensichtlich ebenso wenig zu einer Lösung wie für Osterbant.

Der Fall des Priorats von Solesmes ist vergleichbar mit jenem von Fesmy, allerdings kam erschwerend hinzu, dass Solesmes zu dem Kloster Saint-Denis gehörte. Am 13. Februar 1293 bestätigte der König von Frankreich die Untersuchung des Bailli von Vermandois, die feststellte, dass die Abtei seit alters herunter dem Schutz des Königs von Frankreich stand und sich im Innern des Königreichs befand26. Auch hier blieb die Angelegenheit im Grunde unentschieden.

Tournai war ein königlich-französisches Bollwerk am Rande des feindlichen Flandern; die Stadt verfolgte Ende des 13. Jahrhunderts eine Politik rechtlicher Vereinigung und eine Territorialpolitik, die zur Annexion von drei Vororten führte, die sich auf dem rechten Scheldeufer befanden27. Wenngleich die Abtretung des ersten noch keine Proteste hervorrief, brachte die Übertragung der beiden anderen Marktflecken den Grafen von Hennegau wegen seiner Rechte auf – unter dem Vorwand, das Gebiet gehöre zum Reich. Der territoriale Erwerb war geringfügig, aber wichtig für Tournai, das eine bedeutende Basis des französischen Königtums im direkten Kontakt mit dem rebellischen Flandern darstellte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der König von Frankreich den Erwerb gutgeheißen hatte. Der Graf von Hennegau ergriff darauf demütigende Maßnahmen gegen die Bewohner von Tournai. Nach verschiedenen Zwischenfällen wurde schließlich Johann von Avesnes vom Pariser Parlament dazu verurteilt, den Bewohnern von Tournai das wieder zuzugestehen, was ihnen genommen worden war, aber man gestand dem Grafen den Vorbehalt seiner eventuellen Rechte über das „Erbeigentum“ zu, Rechte, die später durch eine Untersuchung festgestellt werden sollten. Und am 24. Oktober 1315 ernannte Ludwig X. die Kommissare, die damit beauftragt wurden, die wahren Grenzen des französischen Königreichs gegenüber Tournai zu untersuchen; am 21. Dezember erneuerte er seine diesbezüglichen Anordnungen. Allerdings wurde am 23. Oktober 1316 ein Pakt zwischen dem Grafen von Hennegau und der Gemeinde geschlossen, demgemäß der Graf von Hennegau die Verkäufe genehmigte, für die seine Zustimmung nicht erbeten worden war. Aber noch am 27. Oktober 1326 vertraute der König die Regelung einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem Grafen von Hennegau und den Bewohnern von Tournai Schlichtern an, indem er die genaue Lage der fraglichen Orte festzusetzen („cerchiminari, limitari et esbonari“) befahl. Und selbst nach 1468 erließ Ludwig XI. Dekrete mit demselben Tenor.

Die Westgrenze der Diözese Cambrai reicht viel weiter nach Westen als die politische Grenze des Bistums, das selbst zum Reich gehört, aber das Dekanat von Beaumetz innerhalb des französischen Königreichs lässt. Wahrscheinlich ist es an dieser Stelle, dass man tatsächlich eine Vergrößerung des Königreichs Frankreich auf Kosten des Reiches feststellen kann, aber dieser Vorsprung des Königreichs scheint ins 12. Jahrhundert zurückzureichen und mit der auf das Bistum Cambrai gerichteten Politik des Grafen von Flandern verbunden zu sein. Somit hat er nichts zu tun mit einem vermeintlichen französischen Expansionismus28. Der Graf von Artois wurde anschließend glücklicher Erbe dieses Gebietsvorteils. Die Debatte zwischen Artois und Cambrai, die ein halbes Jahrhundert dauerte, entbrannte 1306–1307 erneut in großer Heftigkeit. Mahaut, die Gräfin von Artois, verlangte vom Bischof, die Grenzen ihrer beiderseitigen Gerichtsbarkeit definitiv festzulegen29. So scheint es, dass „1308 die Grenze des Artois für Jahrhunderte bei Cantimpré festgelegt wurde, einem Vorort im Westen von Cambrai. Die Lehnsherrschaft des Bischofs von Cambrai, die sich im Reich befand, wurde so in Richtung Schelde zurückgedrängt“ (B. Delmaire) und zahlte somit den Preis für die vorausgegangene Entwicklung. Die Domherren von Cambrai haben sich offenbar nur schwer mit dieser Situation abgefunden. Am 6. März 1354 beriefen sie sich in einem seltsamen Dokument auf die Autorität Karls des Großen, um die Zugehörigkeit ihrer innerhalb des französischen Königreichs gelegenen Besitzungen zum Reich zu legitimieren, und sie betonten, dass all dies anlässlich des Treffens von Vaucouleurs zwischen dem „Kaiser Heinrich“ (sic) und dem „schönen König Philipp“ ratifiziert worden sei. Wenn die Gebiete des Domkapitels damals dem Artois zugeschlagen werden konnten, dann nur, weil der Bischof von Cambrai keuscherweise den Huldigungskuss der Dame von Oisy abgelehnt habe; diese habe daher aus Unmut ihre Huldigung dem Grafen von Artois entgegengebracht30.

Es wäre falsch, hinter all diesen die Scheldegrenze betreffenden Angelegenheiten einen französischen Willen zur Expansion zu erkennen. Die Spielführer waren auf jeden Fall die lokalen Akteure; sie waren es, die den König von Frankreich wissen ließen, dass Osterbant ein Teil seines Königreichs sei, und sie waren es, die ihn aufforderten, sich mit diesen Grenzangelegenheiten zu befassen. Der König von Frankreich suchte alles in allem nicht, seinen Vorteil daraus zu ziehen, zumal wenn seine vermeintlichen Rechte offenbar nicht zu verteidigen waren. So hatte Philipp der Schöne keine Skrupel, die Bürger von Valenciennes fallen zu lassen, die in ihrem Konflikt mit dem Grafen von Hennegau den König angerufen hatten und vorgaben, dass Valenciennes sich innerhalb seines Königreichs befand. Die meiste Zeit über blieben die „Berichtigungen“ der Grenze zwischen regnum und imperium zudem im Grundsatz ungelöst; ihre Bedeutung war auf jeden Fall sehr begrenzt.

Ebenfalls am Ende des 13. Jahrhunderts traten Konflikte hinsichtlich der Maas auf. Der bekannteste und wichtigste dieser Konflikte ist jener, der die Barrois mouvant (der westliche Teil des Barrois, der sich im Einflussbereich Frankreichs befand) genannte Region betrifft. Indem sich die ältere Geschichtsschreibung darauf berief, entwickelte sie die Vorstellung von einer breiten französischen Territorialoffensive in Richtung des Reiches, die spätestens Ende des 13. Jahrhunderts begonnen habe und deren Impetus nur durch die Wendungen des Hundertjährigen Krieges begrenzt worden sei. Auch hier führt die präzise Analyse dieser Angelegenheiten zu anderen Schlüssen.

Die Grafen von Bar waren seit langem in den Einflussbereich des französischen Königtums geraten31, aber die Tatsache, dass die Könige von Frankreich durch die Hochzeit des späteren Philipp des Schönen mit Johanna, der Erbin der Grafschaft, im Jahr 1284 direkte Herren der Champagne wurden, mischte die Karten neu.

Zu ersten Zwistigkeiten kam es wegen zweier kirchlicher Einrichtungen, des Stiftes Montfaucon und der Abtei Beaulieu, die sich beide an der Grenze zwischen regnum und imperium befanden. Graf Theobald von Bar war seit 1267 der Schutzherr des Stiftes Montfaucon32; was Beaulieu betrifft, besaß er seit ungefähr 1180 die Vogteirechte als Lehen des Bistums Verdun. Das Stift Montfaucon dürfte kurz nach seinem Übergang unter den Schutz des Grafen von Bar mit diesem in Konflikt geraten sein; ab 1272 wendete es sich König Philipp III. zu, um mit ihm am 5. Januar 1273 einen accord de pariage, ein Abkommen zur gemeinsamen Herrschaft, abzuschließen. Theobald protestierte, weil das Haus seines Vogtes zerstört worden war, ordnete zunächst eine gründliche Untersuchung an und ersuchte dann das Pariser Parlament um die Entscheidung des Zwistes; und im Februar 1275 erhielt er Recht. Der König von Frankreich scheint zudem auf die Mitherrschaft über Montfaucon verzichtet zu haben. In zeitlicher Nähe zu diesen Ereignissen, nämlich zwischen dem 2. Februar und dem 5. Februar 1276, hat sogar Rudolf von Habsburg selbst den Übergang der Abtei Orval (in der Nähe von Sedan) in königlichen Schutz empfohlen33, und am 16. November 1281 bat Rudolf den König von Frankreich erneut, den Schutz des Bistums Toul zu sichern. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Konrad der Redliche, Bischof von Toul und einer der Hauptratgeber Rudolfs, befand sich in großen Schwierigkeiten angesichts einer riesigen Koalition, die die französische Königinmutter Margarete zusammengeschmiedet hatte, um sich dem Projekt der Schaffung eines Königreichs Arelat zugunsten des Sohnes und des Enkels von Karl von Anjou entgegenzustellen. Dieses Projekt stand im Rahmen einer Übereinkunft zwischen Rudolf von Habsburg und den Anjou und bei seiner Entwicklung hatte Konrad eine entscheidende Rolle gespielt. Da der Römische König aber nicht in der Lage war, ihm in dieser Region einen effizienten Schutz zuteilwerden zu lassen, hatte er den König von Frankreich angerufen34.

Wenig später trat auch das Kloster Beaulieu in einen Konflikt mit dem Grafen von Bar ein und unterstellte sich seinerseits 1286 dem Schutz des französischen Königs35. Erneut war es nicht der König, der die Initiative ergriff; er reagierte lediglich auf einen Appell, den die lokalen Behörden an ihn richteten. Der Graf von Bar wollte dies nicht hinnehmen. Begleitet von einigen gewalttätigen Episoden, folgten Untersuchungen und Gegenuntersuchungen aufeinander. 1287 erklärte das Parlament zum Beispiel, dass das Kloster zur Grafschaft Champagne gehöre und somit zu Frankreich; Beaulieu befinde sich „diesseits der Grenzen des Königtums und gehörte zum Königreich“. Aber im folgenden Jahr waren es die Vasallen des Grafen von Bar, die gegen die Eingriffe des Königs von Frankreich in der Region Beaulieu protestierten und die Zugehörigkeit der Abtei zum Königreich Deutschland behaupteten: „la dite abbaie de Belleu … [est] … dou roiaulme d’Alemengne“. König Philipp maße sich illegitimerweise die Güter des Reiches an.

Auf die Bitte einzugreifen reagierte Rudolf, indem er eine Untersuchungskommission berief. Vom 14. bis 25. Mai 1288 kam es zur Anhörung von 84 Zeugen, Adligen, Mönchen und Bürgern von Verdun. Alle sprachen sich im Sinne der Reichszugehörigkeit von Beaulieu und Montfaucon aus, das ebenfalls in die Untersuchung war. Rudolf billigte und bestätigte am 12. Oktober 1289 die Untersuchung, die bewies, dass der König von Frankreich die Güter des Reiches usurpiert hatte. Aber das Eingreifen Rudolfs war in der Tat zögerlich, zaghaft und ohne wirkliche politische Auswirkung; es war Bestandteil einer Vorgehensweise, die man Regieren durch Reskripte nennen kann. So war nicht zu verhindern, dass Theobald im September 1290 durch das Parlament erneut zur Zahlung einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde, deren Betrag später festgelegt werden sollte. Der Graf wandte sich an den König von Frankreich, um eine Änderung dieses Urteilsspruchs zu erbitten, und tatsächlich erklärte der König, dass die Sentenz von 1290 falsch und nichtig sei. Zu diesem Zeitpunkt im Jahr 1291 schien es ganz so, als ob die Angelegenheit schließlich zum Vorteil des Grafen von Bar erledigt sei. Der neue Graf Heinrich III. von Bar, der Theobald II. am 7. November 1291 nachfolgte, entschied jedoch, die bedrohliche Hegemonie des Königs von Frankreich auszubalancieren, indem er sich mit dem König von England verbündete. Er heiratete im Frühjahr 1293 die Tochter Eduards I., Eleonore. Die Konsequenzen ließen nicht auf sich warten: Ende 1293 eröffnete Philipp erneut den Prozess um Beaulieu, annullierte seine Briefe von den Mittfasten 1291, verurteilte Heinrich dazu, den Mönchen eine Summe von 10 000 Pfund zu zahlen. In Reaktion darauf schloss Heinrich sich der vom König von England und dem Römischen König Adolf von Nassau gebildeten Allianz gegen den französischen König an. Dies erwies sich als eine schlechte Idee, denn 1297 erlitt er eine schwere Niederlage; weitgehend auf sich selbst gestellt, wurde er gezwungen, am 4. Juni 1301 den Vertrag von Brügge zu unterzeichnen. Mit diesem Vertrag akzeptierte er, dass die Abtei Beaulieu unter der Obhut des Königs von Frankreich stand, und verpflichtete sich zu einer hohen Bußzahlung; vor allem leistete er dem König den Treueid, „ihm und seinem Sohn und Erben für Bar und die Herrschaft Bar“ und für alles, was er „als freies Allod jenseits der Maas, gegen das Königreich Frankreich“ behielt“; es handelte sich um all die Orte, die das Barrois mouvant bildeten.

Handelte es sich wirklich um die Annexion eines Reichsgebiets, wie man so oft geschrieben hat? In der Tat36, das Barrois um den Fluss Ornain hatte zum Anteil Karls des Kahlen gehört. Aber später brachte es die Schwester von Hugo Capet als Mitgift in die Ehe mit Friedrich I., dem Herzog von Oberlothringen, ein und das Barrois folgte dem Schicksal dieses Fürsten und seiner Nachkommen. In der Diözese von Toul gelegen, entfremdete es sich vom Königreich, als die Champagne sich als Hindernis zwischen dem Kapetinger und seiner entfernten Verwandtschaft erwies. Die Grafen von Bar waren dennoch geschickt oder mächtig genug, die Integration des Barrois ins Reich zu verhindern und den Status als gewohnheitsmäßiges Allod zu sichern. Indem er das von nun an als mouvant bezeichnete Barrois für sein Königreich „annektierte“, konsolidierte der König von Frankreich klar und deutlich seine Grenze, aber in Wirklichkeit vergrößerte er sein Königreich dabei nicht auf Kosten des Reiches. Er bezog lediglich einen Grafen von Bar in sein eigenes Spiel mit ein, der vorgegeben hatte, westlich der Maas ein Allod zu besitzen, und der die Zugehörigkeit dieses Gebiets zum deutschen Königreich bestritt. Indem er so handelte, blieb der König von Frankreich gänzlich dem Vertrag von Verdun treu, dessen genauer Verlauf zweifellos auf lokaler Ebene nicht vergessen worden war. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es hier, wie es auch in Osterbant bei den Mönchen von Anchin der Fall war, wiederum die Vertreter der von der Macht des Grafen von Bar bedrohten Abteien waren, die seine Aufmerksamkeit auf diese Tatsache gelenkt hatten.

Entlang der restlichen Grenze Lothringens war die Politik des Königs von Frankreich klassischerweise die Politik eines Territorialherren, der seine Vorherrschaft und Hegemonie durchsetzen wollte. Sie führte bestenfalls zu unbedeutenden territorialen Annexionen und war nicht Bestandteil eines politischen Programms, das die Vergrößerung des Königreichs zum Ziel gehabt hätte.

Mouzon, die zweite Residenz des Erzbischofs von Reims, unterstand dem Reich. Aber der Erzbischof war natürlich den Königen von Frankreich eng verbunden, die er weihte. Unter diesen Umständen war das Hinübergleiten Mouzons zum französischen Königreich quasi unvermeidbar. Man kann jedoch feststellen, dass sich die Erinnerung der Zugehörigkeit zum Kaiserreich hartnäckig hielt37. Noch 1374 wird Mouzon in einem Register des weltlichen Besitzes des Erzbischofs von Reims als zum Reich gehörig aufgeführt. Im Jahr 1379 erwarb zwar Karl V. Mouzon vom Erzbischof von Reims, aber tatsächlich übte der französische König, wie ehemals der Erzbischof von Reims, seine Macht nur persönlich aus als „souveräner Herr von Mouzon“. Die Ratifikationsbriefe vermeiden es, Mouzon dem Reich oder dem Königreich Frankreich zuzurechnen und machen die Angabe, es sei „in finibus seu juxta fines regni nostri“ gelegen. Offene Briefe des Königs von Frankreich mussten am 21. Januar 1456 erneut daran erinnern, dass die Herrschaft Mouzon untrennbar in die Krondomäne inkorporiert sei und dass seine Einwohner als Landsleute und nicht als Ausländer zu betrachten seien.

Im 14. und 15. Jahrhundert versuchte der König von Frankreich, seinen Schutz und seine Aufsicht über das Bistum und die Stadt Verdun durchzusetzen, und dies in Konkurrenz zu den benachbarten Territorialfürsten: den Grafen, dann Herzögen von Luxemburg und ihren Erben, den Grafen von Bar und den Herzögen von Lothringen. Die internen Parteien in der Stadt und im Bistum verstanden es alles in allem, diese Konkurrenten und Rivalen gegeneinander auszuspielen, und man darf die aktive, sogar entscheidende Rolle, die sie in diesem politischen Spiel einnehmen, nicht unterschätzen. Daraus entstanden Zwistigkeiten und Umschwünge, die zurückzuverfolgen müßig wäre38. Diese unaufhörlichen Konflikte haben alles in allem keine Auswirkung auf die Grenze zwischen dem regnum und dem imperium gehabt. Die territoriale Integrität des Bistums Verdun wurde von den französischen Königen niemals in Frage gestellt, trotz der Tatsache, dass die Herrschaft von Clermont, ein Lehen des Bischofs im Besitz des Grafen von Bar, westlich der Maas gelegen war und somit dem Innern des französischen Königreichs zuneigte. Die Festungen und Schlösser von Clermont sollten zwischen 1373 und 1377 im Zuge der Verhaftung Yolandes von Bar von den Amtsträgern des französischen Königs besetzt, aber anschließend an Yolande zurückgegeben werden, ohne dass die Zugehörigkeit Clermonts zum Reich in Frage gestellt wurde39.

Eine 1387 durch den Vogt von Vitry durchgeführte Untersuchung im Kontext einer örtlichen Fehde und eines Heereszugs Karls VI. gegen den Herzog von Geldern 138840 traf zwar auf vom eifrigen Amtsträger des Königs angestachelte Zeugen, die behaupteten, dass zur Zeit König Philipps des Schönen, anlässlich seines Zusammentreffens mit König Albrecht von Österreich, Grenzsteine aus Kupfer ins Flussbett der Maas versenkt worden seien, die den Grenzverlauf anzeigen sollten. Das hätte die Annexion des westlich des Flusses gelegenen Teils des Gebietes um Verdun gerechtfertigt. Eine neuerliche Untersuchung, diesmal vom Bailli von Chaumont 1390 durchgeführt, stellte ebenso fest, dass eine Linie von Grenzsteinen von der oberen Maas bis nach Verdun existieren sollte. In Wirklichkeit begegnet die Behauptung, es gebe Grenzsteine bis in ein Flussbett hinein, wie wir gesehen haben in anderen Fällen wieder; die Angelegenheit blieb ohne Folgen und der König von Frankreich gab dem Drang seiner Amtsträger nicht nach.

Die Grenze blieb unantastbar. 1434 konnten die Einwohner von Verdun an ihre alte Treue zum Reich erinnern, indem sie klar machten, dass sie „innerhalb des Reiches [fast] wie Fremde waren, die sich bei fremden Fürsten und Adligen aufhielten“41.

In Bezug auf das Bistum und die Stadt Toul praktizierte der König von Frankreich dieselbe Hegemonialpolitik; mit mehr oder weniger Erfolg versuchte er, seinen Schutz über die Stadt wie über die Gebiete des Domkapitels durchzusetzen, vor allem über jene westlich der Maas. Die Obhut über die Stadt Toul stand im 14. Jahrhundert im Zentrum eines politischen Spiels, dessen Hauptakteure der Bischof (dessen Position im Niedergang begriffen war), das Domkapitel, die Bürger und die benachbarten Territorialherren von Bar und Lothringen waren; der König von Frankreich war ein weiterer Akteur, den die Bewohner von Toul im Jahr 1300 angerufen hatten, um ihre Autonomie gegenüber dem Domkapitel und dem Bischof zu vergrößern. Dieses Ersuchen kann als ein erster Schritt verstanden werden auf dem langen Weg, der zur Annexion durch Frankreich führte. Offensichtlich war die Zugehörigkeit Touls, das doch den Status einer Reichsstadt besaß, zum Reich spätestens seit der Mitte des 13. Jahrhunderts eine weitgehend formale geworden42. Das hinderte die Stadt nicht daran, als eine Stadt, die „auf der Reichsgrenze“ lag und von daher jeglichen Gefahren ausgesetzt war, gesehen zu werden und sich selbst so zu sehen43. Die Erneuerung der königlich-französischen „Schutzbriefe“ in den Jahren 1401, 1411, 1445, 1462 et 1483 scheint kaum mehr als eine Formsache gewesen zu sein; der Herzog von Lothringen, der näher am Ort des Geschehens dran war, war besser in der Lage, seinen Einfluss geltend zu machen. Was die Gebiete des Domkapitels westlich der Maas betraf, so waren es die Untertanen des Kapitels, die im Laufe des ganzen 14. Jahrhunderts den Schutz des französischen Königs anriefen, um die zu drückende Vormundschaft ihrer kirchlichen Herren zu erschüttern44. In der Realität war der Bischof von Toul dem deutschen König viel zu weit aus den Augen geraten, aber nichts deutet an, dass sich die Grenze zwischen regnum und imperium verschoben hätte.

Commercy war ein Lehen des Bischofs von Metz. Am 21. Januar 1336 erreichte Philip VI., dass Schloss und Stadt Commercy unter seinen Schutz gestellt wurden45. In den folgenden Jahrhunderten scheinen die Könige von Frankreich es geschafft zu haben, ihre Oberhoheit über einen Teil von Commercy und seiner Gebiete anerkennen zu lassen.

Zwischen dem regnum und dem Herzogtum Lothringen, das Reichsgebiet war, kamen Probleme auf wegen der Lehnsgüter, die der Herzog von Lothringen vom französischen König hatte als dem Erben des Grafen der Champagne. Neufchâteau war ein Besitz gewesen, den der lothringische Herzog infolge seiner Niederlage gegen den Grafen der Champagne von diesem hatte zu Lehen nehmen müssen, was durch den Vertrag von Amance 1218 bestätigt wurde46. Kaiser Friedrich II. protestierte erfolglos bei Papst Honorius III. gegen die Übergriffe des Grafen der Champagne. Es ist wahrscheinlich, dass die Bewohner von Neufchâteau, die auf den Messen der Champagne Handel trieben, diesen Machtübergang unterstützt hatten. Infolge der Hochzeit von Philipp dem Schönen mit Johanna von Navarra mussten die Herzöge von Lothringen den französischen Königen den Lehnseid für Neufchâteau, Frouard, Montfort, Châtenois und einen Teil von Grand leisten. Die konkreten Konsequenzen dieser königlichen Oberhoheit sind schwer zu ermessen, aber verschiedene Vorfälle im Laufe des 14. Jahrhunderts unterstreichen die Komplexität der juristischen Situation. Während der Herzog von Lothringen versuchte, als souveräner Fürst zu gelten, erinnerten die Amtsträger des französischen Königs daran, dass das Herzogtum Lothringen von Karl dem Kahlen gegründet worden war. Die Zwischenfälle gingen weiter. Am 1. August 1412 erklärte das Parlament auf Bitten des königlichen Staatsanwalts und der Einwohner von Neufchâteau, dass die Stadt Neufchâteau, die einst ein Lehen des Herzogs Karl von Lothringen war, nunmehr mit der Krondomäne vereint werde. Nur durch Gewalt habe der Herzog von Lothringen „die besagte Anerkennung und den Gehorsam gegenüber dem König“ von den Bewohnern erhalten, die sie doch anfechten. Die Gefolgsleute des lothringischen Herzogs hätten es sich sogar erlaubt, die königliche Justiz zu beleidigen, „und indem sie dies auf spöttische Weise taten, sagten sie: ,Ich verbiete Euch im Namen des Königs, seine Kühe wegzuschleppen.‘ Der andere widersetzte sich und der erste sagte: ,Ich lege Berufung ein beim Parlament. Und so machten sie sich über den König lustig.“47 Aber im Februar 1413 sprachen die dem Herzog von Lothringen gewährten Gnadenbriefe nicht mehr von der Vereinigung von Neufchâteau mit der Krondomäne. 1456 verfasste der Sohn König Renés, Johann von Kalabrien, der nach dem Tod seiner Mutter 1453 Herzog von Lothringen wurde, eine Denkschrift über den Lehnseid, den er dem König von Frankreich schuldete. Er zeigte darin, „dass seit aller Ewigkeit das Herzogtum Lothringen und was dazugehört von keinem Herrn außer Gott und dem Schwert gehalten wurde und es schon vor der Fleischwerdung unseres Herrn Christus vier Herzöge gegeben hatte und die Herzöge von Lothringen bis heute über es verfügten wie über ihr eigenes Erbe und Allod“. Die Ableistung des Lehnseides wurde vom König ständig hinausgezögert. Schließlich verzichtete Ludwig XI. 1465 im Kontext des „Krieges für das Allgemeinwohl“ (Guerre du Bien public) auf die Huldigung Johanns, die dieser ihm für Neufchâteau, Frouard, Montfort, Châtenois und einen Teil von Grand schuldete. Nach mehr als einem Jahrhundert vollmundiger Erklärungen seiner Amtsträger über die Zugehörigkeit von Neufchâteau zum Königreich Frankreich verzichtete der König ohne Umschweife auf egal welches Recht.

Weiter im Süden war dagegen die gesamte Region von Bassigny im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts geräuschlos vom deutschen Reich zum Königreich Frankreich hinübergeglitten. Es handelte sich dabei überhaupt nicht um den Erfolg einer bewussten Politik der Vergrößerung des französischen Königreichs, sondern ist nur darauf zurückzuführen, dass der Bischof von Langres sein Bistum unausweichlich in den Wirkkreis des französischen Königreichs zog.

Zweifellos war die Frage nach dem exakten Verlauf der Grenze zwischen dem Königreich und dem Kaiserreich um die Wende zum 14. Jahrhundert explizit gestellt worden. Ebenso ist es unstrittig, dass dies eine Reihe von Spannungen und Sorgen hervorrief. Im Laufe der langen vorausgegangen Periode vom 9. bis zum 13. Jahrhundert, in der Phase der Neugestaltung der „feudalen“ Geographie, gab es einen schleichenden und stillen Annexionsprozess in beide Richtungen, auf Kosten des französischen Königreichs und zugunsten des deutschen Reiches (Osterbant, Barrois um den Fluss Ornain) beziehungsweise zugunsten des Königreichs Frankreich und auf Kosten des Reiches (Westen des Bistums Cambrai, Bassigny). Wie Michel Bur gezeigt hat, war es Friedrich Barbarossa auf dem Höhepunkt seiner Macht in den Jahren 1160 bis 1180, der die Maasgrenze konsolidiert hat; Ende des 13. Jahrhunderts ist es dann der König von Frankreich auf dem Höhepunkt seiner Macht, der im Rahmen eines veränderten Kräfteverhältnisses die Maasgrenze konsolidiert. Von bestimmten lokalen Kräften herbeigerufen, bestätigte er erneut die Zugehörigkeit solcher Gebiete zum Königreich, die die Tendenz zeigten, sich daraus herauszulösen.

Dass die eifrigen Amtsträger des Königs von Frankreich an der Grenze und selbst im Parlament hartnäckig eine Politik verfolgten, die darauf zielte, die Rechte des Königs in Richtung einer territorialen Erweiterung seiner Souveränität zu entwickeln, ist zweifellos richtig. Dass dies im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts bisweilen zu einigen kleinen Grenzberichtigungen führte, ist möglich. Aber in jedem Fall waren diese Annexionen völlig bedeutungslos. Die Vergrößerung des Königreichs war kein erklärtes politisches Ziel. Die Interventionsmöglichkeiten des Königs hingen weitgehend von den Strategien der Beteiligten vor Ort ab. Letztere bedienten sich seiner mindestens ebenso, wie er selbst sich ihrer bediente. Die Grenze bleibt im Großen und Ganzen während der letzen beiden Jahrhunderte des Mittelalters stabil.

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