Читать книгу WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. II - Jean-Marie Moeglin - Страница 9

1.2. Die Grenze zwischen regnum und imperium

Оглавление

Die Grenze zwischen dem regnum und dem imperium, also zwischen dem französischen Königreich und dem römisch-deutschen Kaiserreich, wurde lange vor der Entstehung dieser beiden politischen Einheiten durch den Vertrag von Verdun im Jahr 843 festgelegt. Es war zu jener Zeit keineswegs voraussehbar, dass es so kommen würde, doch eine Folge von Zufällen führte schließlich dazu, dass die Grenzziehung des Vertrages von Verdun die Grenze zwischen den beiden regna, dem französischen und dem deutschen, hervorbrachte, als diese im 10. und 11. Jahrhundert als unabhängige politische Einheiten in Erscheinung traten.

Der Grenzverlauf zu Beginn des 13. Jahrhunderts sei schematisch wiedergegeben11. Die Grenze verläuft entlang der Schelde von ihrer Mündung nach Cambrai, verlässt in Cambrai die Schelde und trifft auf die Maas zwischen Mézières und Sedan, berührt die Maas jedoch nur einen Moment, verläuft merklich westlich des Flusses durch die Argonne – wo die Bergkämme der Argonne und das Flüsschen Biesmes die Grafschaft Champagne von der Grafschaft Verdun und die Diözese Châlons von der Diözese Verdun trennen – und das Plateau von Langres, erreicht die Saône, folgt ihr, überquert sie schließlich und überlässt Karl die gesamte Grafschaft Chalon, kommt auf dem rechten Saône-Ufer zurück und lässt die Provinzen Lyonnais und Vivarais dem Reich und erreicht schließlich die Rhône erst südlich von Nîmes.

Es stellt sich die Frage, welche Erinnerung man an diese Grenze von Verdun behalten hat. Sie könnte sehr vergänglich gewesen sein. Die Bemerkungen, die Papst Clemens IV. zur der Grenze des Königreichs Frankreich in der Provinz Vivarais in einem an Ludwig den Heiligen adressierten Brief vom 16. Juni 1268 macht, weisen in diese Richtung: Er gesteht, in keinem Buch eine Beschreibung der Grenze zwischen dem Reich und dem Königreich Frankreich gefunden zu haben, und er gibt zu, nicht sagen zu können, wie sie ausgesehen habe, wenn er auch von älteren Personen gehört habe, dass an manchen Orten diese Grenze durch Flüsse markiert gewesen sei, anderswo von Provinzen, wiederum anderswo von Diözesen. Er könne jedoch bestätigen, dass das Vivarais zum Reich gehöre, denn er erinnere sich daran, wie er sich zu Beginn der Regentschaft Ludwigs des Heiligen in Begleitung des Seneschalls von Beaucaire nach Viviers begeben habe, um dort Unstimmigkeiten beizulegen, die hinsichtlich der Zugehörigkeit dieser Region zum Königreich oder zum Kaiserreich aufgetreten waren. Da dort die Archive geöffnet gewesen seien, habe er viele kaiserliche Privilegien und kein einziges königliches Privileg gefunden, und er habe die vexilla imperialia gesehen, derer sich die Bischöfe von Viviers bedient hätten12. Diese Unkenntnis Papst Clemens’ IV. wäre verzeihlich gewesen, wenn der Papst ein Fremder gewesen wäre, doch Clemens war, bevor er Papst wurde, Gui Foucart gewesen, ein Anwalt im Dienste des Königs von Frankreich und ein Vertrauter des Herrschers.

Die Aussage von Papst Clemens IV. führt uns ins Zentrum der Grenzproblematik im 13. Jahrhundert. Lange Zeit wusste man, dass es eine genaue Grenze zwischen dem regnum und dem imperium gab, aber da man weit entfernt von dieser Grenze war, beschäftigte man sich nicht mit den Details. Man überließ es denen, die vor Ort waren und den genauen Grenzverlauf kannten, möglicherweise auftretende Probleme zu lösen. Genau dies sieht die bereits erwähnte Übereinkunft von 1208 zwischen Philipp August und dem Herzog von Brabant vor, der sich nach der Ermordung Philipps von Schwaben bereits als Römischer König betrachtete: Eine Schiedskommission sollte die zwischen regnum und imperium auftretenden Probleme regeln, und das auf halbem Weg „zwischen Péronne und Cambrai“, das heißt ganz genau auf der Grenze13.

Es existierte also kein schriftliches Dokument über die Grenze. Es gab allerdings eine historiographische Überlieferung des Vertrages von Verdun. In der Mitte des 13. Jahrhunderts, lieferte das Speculum historiale des Vincenz von Beauvais eine genaue Zusammenfassung: „Nachdem das Königreich [der Franken] in drei Teile geteilt worden war, begaben sich die drei Brüder in eine Stadt in Gallien, genannt Verdun, und schlossen dort Frieden … Karl erhielt die westlichen Königreiche vom britischen Ozean bis an die Maas; und von nun an verband sich mit diesem Teil der Name Frankreich; an Ludwig gingen all die östlichen Königtümer, nämlich ganz Germanien bis zum Rhein sowie einige Städte jenseits des Rheins mit ihren Grafschaften aufgrund ihres Überflusses an Wein. Lothar, der der Älteste war und den man Kaiser nannte, erhielt alle Königreiche von Italien mit Rom selbst und auch die mittlere Provinz und den Teil Frankreichs zwischen der Schelde und dem Rhein, die ihren Namen änderten und den Namen Lotharingien annahmen.“14

Tatsächlich hatte Vincenz von Beauvais die Chronik des Sigebert von Gembloux vom Beginn des 12. Jahrhunderts kopiert, und Sigebert wiederum hatte diese Erzählung aus der Chronik des Regino von Prüm vom Anfang des 10. Jahrhunderts entnommen und sie mit seinen eigenen Ausschmückungen vervollständigt durch den Hinweis, das Land habe den nomen Francie behalten15. Die Grandes Chroniques de France, die Anfang der 1270er Jahre geschrieben wurden, griffen auf Vincenz von Beauvais zurück, indem sie diese Teilung Ludwig dem Frommen selbst vor seinem Tod zuschrieben. Nach dem Tod Ludwigs des Frommen (und hier lässt sich der Autor der Grandes Chroniques, der Mönch Primat, vom Chronisten Hugo von Fleury vom Anfang des 12. Jahrhunderts inspirieren) hatten seine Brüder Lothar und Ludwig (der Deutsche) Karl sein Königreich Frankreich wegnehmen wollen, doch sie wurden in Fontenoy geschlagen. Primat fügte nun an seine Quellen einfach den Sachverhalt an, dass der Teil, den Karl erhalten hatte, der „plus noble des roiaumes“ war, also der edelste der Königreiche. Auf jeden Fall wurde durch diese Texte festgehalten, dass die Schelde und die Maas die östliche Grenze des französischen Königreichs darstellten, was der Wirklichkeit jedoch nicht ganz entsprach.

Hat man aus diesem Buchwissen eine andere Erinnerung abgeleitet, die man der lokalen Erinnerung bezüglich des Grenzverlaufs tatsächlich hätte entgegenstellen wollen? Eine anonyme Abhandlung, die am Hof der Könige von Frankreich zweifellos am Ende des 13. Jahrhunderts verfasst wurde, beginnt mit der Schilderung, wie die Grenzen des Reiches und des Königreichs entstanden seien: „Man findet in den maßgeblichen alten Schriften und Büchern, dass früher ein gewisser König von Frankreich zwei Söhne hatte, von denen einer König von Frankreich und der andere Kaiser wurde; und es gab einen großen Streit unter ihnen über die Grenzen des regnum und des imperium; ihre Armeen standen sich bereits kampfbereit gegenüber, als man durch die Vermittlung gemeinsamer Freunde übereinkam, dass die vier Flüsse Schelde, Maas, Rhône und Saône von da an die Grenzen des regnum und des imperium seien“16. Aber der Zweck der Beweisführung des Juristen ist es nicht, diese Grenze mit den vier Flüssen in den Vordergrund zu rücken, sondern vielmehr zu zeigen, dass sie auch eine Reihe von Ausnahmen beinhaltet: Der Text bemüht sich tatsächlich an anderer Stelle, die Theorie von den vier Flüssen in Frage zu stellen, indem er erklärt, dass es Enklaven gebe, die der Souveränität des Hauptortes unterstünden. Der Teil von Lyon, der sich auf Reichsboden befinde, müsse demnach der Autorität des Königs von Frankreich unterliegen. Dennoch existiert ein zweites aussagekräftiges Zeugnis dieser „Vier-Flüsse-Theorie“: Um 1340 stützten sich die Propagandisten des Königs von Frankreich auf die Theorie von den vier Flüssen, um ihren Forderungen nach Osterbant (zwischen Douai und Valenciennes) für das Königreich Frankreich Nachdruck zu verleihen17. Aber das ist nur ein Argument unter anderen und man täte unrecht, ihm eine allzu große Bedeutung beizumessen. Vielleicht hat es einen eher vagen Glauben an eine Theorie genährt, wonach sich das Königreich Frankreich bis zu den vier Flüssen erstreckt habe, aber daraus wurde nie auf die Notwendigkeit einer Politik geschlossen, die Theorie und Praxis in Übereinstimmung zu bringen versucht hätte.

In Wirklichkeit hätte die Geschichtsschreibung eine politische Propagandakampagne durchaus unterstützen können, aber als es darum ging, den genauen Grenzverlauf festzustellen, musste man erfahren, dass sie keine große Hilfe bot. In einer Untersuchung im Jahr 1287 zur Zugehörigkeit der in der Diözese von Cambrai gelegenen Abtei Fesmy zum regnum oder zum imperium berichten Zeugen, dass zwei vom Vogt der Abtei Fesmy begleitete Mönche vor dreißig Jahren nach Frankreich gekommen seien und den König darum gebeten hätten, in den Chroniken von Saint-Denis Nachforschungen anzuordnen, um die Frage, die beide beschäftigte, zu lösen; diese Recherchen hätten ins Leere geführt18.

Tatsächlich war diese Unkenntnis für den König oder die zentrale Obrigkeit kein Problem: Wenn die Könige von Frankreich die deutschen Herrscher treffen sollten, wusste man sie an einen Punkt zu führen, der sich genau auf der Grenze befand. Zweifellos waren diese Gelegenheiten recht außergewöhnlich, aber die Tatsäche, dass die Begegnungsstätten über mehrere Jahrhunderte hinweg die gleichen blieben – Ivois (gegenwärtig Carignan) oder auch die Wiese von Vaucouleurs, wo Philipp der Schöne 1299 Albrecht von Habsburg trifft –, zeugt von einer erstaunlichen lokalen Erinnerung an den Grenzverlauf, und auf diese Erinnerung konnte die Zentralgewalt zurückgreifen, wenn es nötig war. So wussten die königlichen Amtsträger im Vermandois, einer Grenzvogtei des Königreichs, sehr gut, dass sich das Ausland „jenseits des Beranger-Baumstammes“ befand, der bereits 1223 –1224 in einem Abkommen zwischen Ludwig VIII. und dem Vogt des Artois erwähnt wurde und der anschließend periodisch in den königlichen Dokumenten wieder auftauchte. Es handelte sich dabei offenkundig um die Grenze zwischen dem Königreich und dem zum Reich gehörenden Cambrésis19. Anderswo, auf Seiten des Bistums Verdun, war es der kleine Fluss Biesmes, der die Grenze markierte. In Abwesenheit natürlicher Hindernisse dienten Ecksteine zur Markierung der Grenze, wie jener, den der Herzog von Burgund 1445 im Rahmen der Diskussionen über die Grenzen des Königreichs und der Grafschaft auf ein Pergament malen ließ. Man konnte in der Mitte des 15. Jahrhunderts sogar Karten erstellen, die den Verlauf der Grenzen oder der Enklaven wiedergaben20.

Muss man also an der Vorstellung festhalten, dass die Grenze des Königreichs Frankreich jene war, die aus dem Vertrag von Verdun hervorgegangen war und deren genauen Verlauf zu benennen der König lange nicht in der Lage war, aber von der er wusste, das sie existierte? Die Dinge sind allerdings insofern komplexer, als die Entwicklungen der territorialen und feudalen Geographie die Grenze von Verdun lokal in Frage gestellt haben könnten. Was war zum Beispiel, als der Graf von Hennegau, ein Reichsfürst, seine Macht über ein Gebiet ausdehnte, Osterbant westlich der Schelde, das in Westfranzien lag; oder als der Graf der Champagne, ein großer Herr des Königreichs Frankreich, dem Herzog von Lothringen, einem andern Reichsfürsten, die Anerkennung der Oberhoheit über einige lothringische Gebiete abtrotzte? So lange, wie keiner der beiden Könige den genauen Grenzverlauf seines Königreichs anerkennen musste, stellte sich das Problem nicht. Aber am Ende des 13. Jahrhunderts brachte es die Entwicklung einer administrativen Monarchie in Frankreich mit sich, dass zwar nicht der König von Frankreich, aber doch seine Amtsträger die Grenzen des Reiches exakt kennen mussten und wollten. Die Grenzfrage geriet in das Feld der deutsch-französischen Beziehungen, und man muss den Vorschlag einer Schiedskommission, die den Grenzverlauf genau festlegen sollte, ernst nehmen, den der französische König 1295 dem deutschen gemacht haben will21.

Tatsächlich brachen in den letzten beiden Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts quasi gleichzeitig eine ganze Reihe von Konflikten über den Grenzverlauf zwischen regnum und imperium auf: zwischen dem Grafen von Bar und dem König von Frankreich über die Zugehörigkeit des Gebietes zweier Abteien zum regnum oder zum imperium, nämlich des Stifts Montfaucon und der Abtei Beaulieu; über die Zugehörigkeit des später als mouvant (französisches Lehen) bezeichneten, westlich der Maas gelegenen Barrois; zwischen dem Grafen von Hennegau und dem König von Frankreich über die Zugehörigkeit Osterbants wie des Gebietes der Abtei Femy zum Königreich oder zum Reich.

Zweifellos hat der Philipp dem Schönen und seinen Ratgebern eigene Regierungsstil, der brutaler war als der seiner Vorgänger, eine Rolle beim Ausbruch der Konflikte gespielt, aber die tieferen Ursachen liegen woanders. Das Entstehung zentraler Regierungseinrichtungen, vor allem des Parlaments, führte dazu, dass man auf beiden Seiten über den Verlauf der Landesgrenze übereinkam. Darüber hinaus gewann die königlich-französische Regierung Ende des 13. Jahrhunderts das Gefühl, dass diese frontières (das Wort taucht in diesen Jahren auf) des Königreichs auch bedrohte Grenzen seien, die gegen mögliche Angreifer beschützt und verteidigt werden müssten. Anfang 1306 ließ der König den Papst wissen, dass man einen zuverlässigen Mann für das Bistum Laon benennen müsse, denn dieses Bistum befinde sich nah am Eingang zum deutschen Kaiserreich22. Das Königtum ging sogar so weit zu behaupten – wie es Philipp VI. am 15. März 1335 tat, als er Sainte-Colombe (das Teil der Dauphiné und damit des Reiches war) in sein Königreich eingliederte –, dass „strategische“ Gründe zur Verteidigung des Königreichs die Berichtigung einiger Grenzen rechtfertigen konnten23.

Parallel dazu spielte ein anderes Element eine zugleich ergänzende und entscheidende Rolle, und zwar die politischen und juristischen Strategien der Akteure vor Ort; sie waren es, die sich an einen mächtigeren Richter wendeten, den König von Frankreich, um sich Vorteile gegenüber ihrem territorialen Gegner zu verschaffen. Im Gegenzug rückten sie die Zugehörigkeit der umstrittenen Gebiete zum Königreich in den Vordergrund, während die andere Seite spiegelgleich antwortete, indem sie deren Zugehörigkeit zum Kaiserreich betonte. Ohne die Anrufung und die Unterstützung durch die lokalen Akteure – denn sie sind es alles in allem, die den wirklichen Grenzverlauf kennen – ist die Zentralgewalt machtlos.

Eine Unterscheidung muss jedoch noch getroffen werden. Der Grenze zwischen regnum und imperium kam nicht in ihrem gesamten Verlauf dieselbe politische Tragweite zu. Die Grenze zwischen dem Königreich Frankreich und dem Königreich Deutschland (Flandern, Hennegau, Lothringen), wo der König von Frankreich der Nachbar einer politischen Konstellation war, die trotz innerer Schwächen eine echte Grundlage hatte, ist zu unterscheiden von der Grenze zwischen dem Königreich Frankreich und dem alten Königreich von Burgund-Provence. Dort war der König von Frankreich Nachbar einer politischen Konstellation, die seit dem 13. Jahrhundert keine wirkliche Herrschaftsqualität mehr besaß und die nurmehr ein Name war, wenngleich diesem Namen noch eine Zeitlang ein gewisser Klang anhaftete.

WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. II

Подняться наверх