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2.2. Auf der Suche nach einem deutsch-französischen „Staatsvertrag“

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Die Zusammenstellung der zwischen den Königen und Fürsten beider Länder geschlossenen Bündnisse hat es ermöglicht, eine Chronologie der Beziehungen zwischen beiden Ländern nachzuzeichnen. Diese weicht deutlich von der traditionellen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Vorstellung eines Königs von Frankreich ab, der nach dem „kranken Mann“ schielte, der das Reich war. So ergeben sich zwei erste wichtige Erkenntnisse: Erstens ist fast ständig der König von Frankreich derjenige, der die Initiative ergreift, während der deutsche König oder die deutschen Fürsten auf die Gesuche antworten, die von französischer Seite kommen60. Zweitens sind die Beziehungen zu dem Königreich im Osten keineswegs zentral für den König von Frankreich. Wenn sich der König von Frankreich im Konflikt mit dem König von England befindet, hat er allerdings die eine ständige Befürchtung, dass sich sein Gegenspieler mit seinem Nachbarn oder mit Mitgliedern des Königreichs im Osten verbünden könnte. Seine Deutschlandpolitik ist daher grundsätzlich von dem Ziel geleitet, diese Gefahr zu beseitigen. Später wird dann die burgundische Gefahr die englische ersetzen.

Unter diesen Umständen schien die Politik des Königs von Frankreich gegenüber dem Reich lange Zeit vom Traum eines Bündnis- oder Nichtangriffsvertrags zwischen zwei untrennbaren Paaren bestimmt, die in Frankreich wie in Deutschland ein Königshaus und ein Land bildeten oder bilden sollten: das Königreich Frankreich und das französische Königshaus auf der einen Seite und das Königreich Deutschland und die deutschen Kaiser beziehungsweise das an die Reichsspitze berufene Haus auf der anderen.

Die Umsetzung und periodische Erneuerung dieses Vertrags sollte den grundlegenden Sockel der Beziehungen zwischen den beiden Ländern darstellen und eine Art „Frieden und immerwährende Allianz“ (Héraut Berry) zwischen den beiden Königreichen und den beiden Fürstenhäusern sicherstellen, die sie regierten. In der dynastisch-feudalen Ordnung, die die Beziehungen zwischen Fürsten und Staaten regelte, gab es tatsächlich keinen wirklichen Streit zwischen beiden Königreichen. Der König von England verlor jegliche Möglichkeit, Verbündete im Reich zu finden, was den König von Frankreich davon befreite, eine aktive Politik gegenüber dem Reich zu führen.

Der Versuch wurde ohne Unterlass wiederholt, und als sich dessen völliges Scheitern herausstellte, wandte sich die Politik des Königs von Frankreich der manchmal fast hektischen Suche nach Verträgen mit all jenen zu, deren Bündnis ihm als Garantie gegen die bisweilen recht real erscheinende Gefahr einer Allianz des Königs und/oder der Fürsten von Deutschland mit dem König von England dienen konnte.

Zweifellos muss man zwei andere Elemente mit einbeziehen, die sich bisweilen auf die königlich-französische Politik auswirkten. Da ist einerseits der Traum des französischen Königs, die ganze Frage zu lösen, indem er sich der Kaiserkrone bemächtigte, andererseits die Nutzung von Deutschland als Reservoir für Truppen und Bewaffnete. Aber diese Faktoren stellten niemals, zumindest nicht bis zum 15. Jahrhundert, den zentralen und zähen Willen des französischen Königs dauerhaft in Frage, zur Ausarbeitung dieses definitiven Bündnis- und Friedensvertrages zwischen den beiden Königreichen und ihren Herrschern zu gelangen.

Seine Verwirklichung wurde durch die Allianz zwischen den Königen von Frankreich und den staufischen Kaisern in der Zeit von 1170 bis 1230 bestenfalls angedeutet. Was in dieser Zeit eingerichtet wurde, stellt sich als ein Bündnis zwischen zwei Herrschern oder zwei Fürstenhäusern gegen ihre Feinde dar, in diesem Fall die Allianz zweier anderer Fürstenhäuser; es handelt sich noch nicht um das Bündnis zweier Fürstenhäuser oder Dynastien, die an der Spitze von Königreichen stehen, deren Integrität parallel zur Bekräftigung der Zuneigung, die zwischen den beiden fürstlichen Linien herrschen soll, gewissenhaft garantiert wird.

Die Idee eines „Staatsvertrags“, der die Beziehungen zwischen dem französischen und dem deutschen Königreich regeln sollte, tauchte um die Wende zum 14. Jahrhundert wieder auf, genauer gesagt in dem Moment, als das Schreckgespenst einer Allianz zwischen dem König von England und dem Römischen König Realität zu werden schien.

Das zwischen Philipp dem Schönen und Albrecht von Österreich durch die Verträge vom 5. September bis 8. Dezember 1299 geschlossene Bündnis stellt ein Paradebeispiel dar61. Die Allianz zweier Fürsten ist grundsätzlich immer ein Band persönlicher Zuneigung zwischen ihnen. Dieses Band der Zuneigung zu schaffen und zu garantieren, erfordert eine ganze Reihe von vorausgehenden Abläufen, die es anschließend erlauben, den eigentlichen Freundschafts- und Friedensvertrag zu schließen, durch den die beiden Fürsten sich ihrer unvergänglichen Freundschaft versichern. Um die Bedingungen für dieses Band von Zuneigung herzustellen, kam es im August 1299 zunächst zum doppelten Ehebund zum einen zwischen Blanka, der Schwester Philipps des Schönen, und Rudolf, dem Sohn Albrechts, und zum anderen zwischen einem Sohn Philipps des Schönen und einer noch näher zu bestimmenden Tochter Albrechts. Dann ging man einen „Kompromiss“ ein, der die Einrichtung einer Schiedskommission vorsah, die jedes Streitthema und damit möglichen Hass zwischen den beiden Fürsten beseitigen sollte. Festzuhalten ist jedoch, dass dieser Kompromiss ausdrücklich auch mögliche Übergriffe auf die Rechte der beiden Königreiche als solche regeln will, das heißt, seine Tragweite zielt naturgemäß über die Person der beiden Könige hinaus. Sobald diese Vorbedingungen geklärt waren, wurde der eigentliche Bündnisvertrag in Straßburg am 5. September 1299 besiegelt. Er begründet sicherlich ein Band der Zuneigung und persönlichen Freundschaft zwischen beiden Fürsten, aber sie handeln im Namen ihrer Königreiche und der Vertrag verpflichtet auch ihre Nachfolger.

Das Band der Zuneigung wurde anschließend auf anschauliche Weise bei einem persönlichen Treffen der beiden Fürsten am 8. Dezember 1299 auf der Wiese von Quatrevaux geschlossen. Sie praktizierten hier die Gesten und Riten, die die Freundschaft und Zuneigung zwischen zwei Fürsten begründen und besiegeln, und sie tauschten die vorher in letztgültige Form gebrachten Verträge aus, die während der vorausgegangenen Verhandlungen vorbereitet worden waren.

1299 ging es um mehr als um den Abschluss eines Paktes der Freundschaft, Zuneigung und des Friedens zwischen zwei Herrschern und ihren Familien, der letztlich persönlich bleibt. Vielmehr handelt es sich um einen echten Vertrag von Staat zu Staat, der zwischen Philipp dem Schönen und Albrecht von Österreich geschlossen wurde und der die gegenseitige Integrität ihrer Königtümer garantieren sollte.

Die Übereinkunft hielt trotz allem nicht lange und bereits 1303 fühlte sich Philipp der Schöne durch diesen Vertrag von Seiten des Reiches nicht mehr geschützt.

Die Beziehung zwischen Philipp dem Schönen und seinem alten Vasallen Heinrich von Luxemburg bedurfte der Klärung, nachdem Letzterer den Titel Römischer König erhalten hatte, den Ersterer zuvor für seinen Bruder angestrebt hatte; schon Ende Januar 1309 bot Heinrich VII. Philipp dem Schönen gute Beziehungen im Geiste der Freundschaft und gegenseitigen Zuneigung an. Und Philipp der Schöne antwortete Heinrich VII., dass er gänzlich bereit sei, ihre guten, auf der wechselseitigen dilectio beruhenden Beziehungen fortzusetzen. Aber Heinrich von Luxemburg verfolgte in seiner Eigenschaft als lotharingischer Fürst klar die Absicht, gegen die politische Hegemonie zu kämpfen, die der König von Frankreich an der Grenze im Nordosten und Osten anstrebte. Daraus resultierte der Ausbruch einer ganzen Reihe von politischen Komplikationen zwischen Heinrich VII., dessen Sorge vorgeblich der Einigkeit des Reiches galt, und den Freunden oder Vasallen des Königs von Frankreich. Mit Blick auf seinen Italienzug scheint Heinrich VII. sich 1310 jedenfalls bemüht zu haben, gute Beziehungen sowohl mit dem Haus Anjou als auch mit dem Haus Frankreich herzustellen. Dies führte zu Verhandlungen und zum Entwurf des in Paris von den Unterhändlern beider Seiten geschlossenen Vertrags vom 26. Juni 131062. Die von Heinrich an seine Gesandten übergebenen Vollmachten steckten das Feld der Verhandlungen ab. Demnach waren sie zum Abschluss befugt in folgenden Punkten: 1) compromissum über alle strittigen Punkte zwischen den Königen von Deutschland und Frankreich, 2) tractatus der Freundschaft und der Allianz zwischen Heinrich VII. und dem König von Frankreich und seinen Nachfolgern, 3) ordinationes zu bestimmten Punkten. Man griff hier also bestimmte Elemente wieder auf, die man bereits in den älteren Verträgen von Philipp dem Schönen und Albrecht findet, auch wenn ihre Anordnung nicht ganz dieselbe ist. Mit dem Vertrag von Paris vom 26. Juni 1310 wird nach dem zwischen Philipp dem Schönen und Albrecht von Österreich vereinbarten Vertrag erneut ein echter Vertrag zwischen zwei Königen und ihren Königreichen geschlossen; er will nicht nur ein Bündnis- und Freundschaftsvertrag zwischen zwei Fürsten und zwei Fürstenhäusern sein, sondern er versteht sich auch als ein Vertrag von Königreich zu Königreich.

Doch wurde dieser Versuch, eine geregelte und friedliche Beziehung zwischen den beiden Königreichen zu etablieren, nicht wirklich von Erfolg gekrönt; die Verhandlungen blieben stecken. Das Treffen der beiden Fürsten, die das verbindende Band der Zuneigung hatten knüpfen wollen, fand niemals statt; die Ratifizierung des Vertrags zog sich in die Länge, und es ist nicht sicher, ob sie jemals wirklich erfolgte.

Das Projekt eines Vertrags von Dynastie zu Dynastie und von Königreich zu Königreich wurde während der unruhigen und umstrittenen Herrschaft Ludwigs des Bayern weitgehend auf Eis gelegt. In der Mitte des 14. Jahrhunderts griff man die Idee wieder auf, und die Bemühungen mündeten in den 1356 zwischen Johann dem Guten und dem künftigen Karl V. auf der einen und Karl IV. auf der anderen Seite geschlossenen Vertrag.

Man hat angenommen, dass die schwierigen Verhandlungen, die vor dem Vertragsabschluss geführt wurden, und die erste Version, die sich von diesem Vertrag erhalten hat, den Primat der zwischen dem König von Frankreich und den Luxemburgern umstrittenen Territorialinteressen bezüglich der Grenze im Nordosten widerspiegeln. Das Verschwinden der diesbezüglichen Bestimmungen in der endgültigen Vertragsversion vom Mai 1356 sei schlichtweg der Tatsache geschuldet, dass Karl IV. in Metz vom Dauphin die Zusagen erhalten habe, die er wünschte63. Diese Analyse bezieht indes nur einen Teilaspekt der Realität ein. Denn wie ist die Tatsache zu erklären, dass dieser Vertrag in einer mutatis mutandis identischen Form bis in das zweite Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts von den verschiedenen französischen und deutschen Königen, die in dieser Periode aufeinander folgten, ständig erneuert worden ist? Dieselben Formulierungen werden in der Tat, mehr oder weniger angepasst, in den Jahren 1378, 1390, 1395, 1398, 1399, 1412 und 1413 wieder benutzt64. Diese Langlebigkeit beweist, dass man in dem Vertrag von 1356 viel mehr sehen muss als das Ergebnis eines schlicht situationsbedingten Kompromisses, nämlich die Ausarbeitung einer in gewisser Weise perfekten Form von Bündnis zwischen zwei Königreichen und zwei königlichen Dynastien, eben jenen Vertrag, den der König von Frankreich seit dem Ende des 13. Jahrhunderts anstrebte. Die Lektüre des Textes zeigt es: Die zwei Fürstenhäuser erscheinen hier zugleich als Dynastien, zwischen denen Zuneigung herrschen soll, und als Herren zweier Königreiche, die sich gegenseitig die Anerkennung ihrer territorialen Integrität garantieren, indem sie versprechen, keinerlei Übergriffe zu unternehmen.

Für das 13. und 14. Jahrhundert kann dieser Versuch, eine stabile Beziehung zwischen zwei Dynastien und zwei Königreichen auf der Basis eines „Staatsvertrages“ zu gestalten, demnach als der rote Faden in der Beziehung zwischen den Königen von Frankreich und den Königen von Deutschland angesehen werden, auch wenn er nur während relativ kurzer Phasen zu überzeugenden und nachhaltigen Ergebnissen führte, so besonders in dem Zeitraum von 1356 bis 1378 vor dem Großen Schisma. Es waren in erster Linie der Verlust Wenzels an Einfluss im Reich und vor allem die Auflösung der königlich-französischen Politik aufgrund des Wahnsinns des Königs und der Auseinandersetzung der erbberechtigten Prinzen untereinander, die das erreichte Gleichgewicht dann in Frage stellten.

Wie ging es damit im 15. Jahrhundert weiter? In den Jahren 1392 –1420 folgte als Zwischenspiel eine Phase, die durch Abwesenheit jeglicher königlicher Politik in Frankreich gekennzeichnet ist. Danach fand das Wiederaufleben einer echten königlichen Politik in der Zeit des Dauphins in einer etwas veränderten Situation statt, geprägt durch die Gründung des Etat bourguignon genau zwischen dem französischen Königreich und dem deutschen. Dies revidierte die Normen, die die königliche Politik gegenüber dem Reich bestimmten; die große Gefahr war nicht mehr der König von England, sondern der Herzog von Burgund.

Vor diesem Hintergrund wurden die beiden wesentlichen Verträge des 15. Jahrhunderts zwischen französischen und deutschen Herrschern geschlossen, zunächst 1434 zwischen Sigismund und Karl VII.65, dann, 1474 –1475, zwischen Ludwig XI. und Kaiser Friedrich III.66. Diese beiden Bündnisse zwischen Königen und ihren Königreichen könnten den Eindruck entstehen lassen, dass die beständige Politik, wie sie für das 14. Jahrhundert herausgestellt wurde, noch immer am Werk war, nämlich der Versuch, einen Frieden und eine definitive Allianz zwischen zwei Herrschern und Königreichen zu etablieren, zwischen denen kein Streit existierte. Die beiden Verträge erscheinen unverändert als Verträge zwischen zwei Königen und Königshäusern, die beabsichtigen, in gegenseitiger Zuneigung zu leben und gleichzeitig die Integrität ihrer Königreiche zu bewahren. Der Vertrag zwischen Friedrich III. als Kaiser und Ludwig XI. als König von Frankreich macht sogar eine erstaunliche Kontinuität geltend, die in den Beziehungen zwischen den Königen von Frankreich und dem Reich von der Zeit Karls des Großen bis in die gegenwärtige Epoche hinein existieren soll.

Bei näherer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass es sich vor allem um die Wiederholung einer alten Rhetorik handelt, in der keine Wirklichkeit mehr steckt: Die mit Sigismund und Friedrich III. abgeschlossenen Verträge bestimmen nicht mehr die Politik des französischen Königs gegenüber Deutschland, wie dies in den Jahren 1290 –1380 noch der Fall war, als nämlich der Abschluss eines derartigen Vertrages es dem französischen Herrscher erlaubte, sich nicht tiefergehend mit dem weiten Feld deutscher Politik zu befassen. Mittlerweile war der deutsche Herrscher nur noch ein Verbündeter unter anderen. Das Feld der politischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland wurde von nun an völlig von offensiven dynastischen Politiken beherrscht, die antagonistisch oder auch auf ein zeitweiliges Bündnis ausgerichtet waren. Eine solche Politik betrieben in erster Linie die Häuser Frankreich, Burgund und Österreich, daneben aber auch eine ganze Reihe weniger wichtiger Fürstenhäuser. Die Idee eines Vertrages, der einen stabilen Frieden, territoriale Integrität und die prinzipielle Nichteinmischung zwischen beiden Königtümern garantieren sollte, war ihres Inhalts entleert.

Das Verschwinden des Hauses Burgund läutete eine neue Ära der politischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland ein; das Haus Österreich und das Haus Frankreich blieben nunmehr als alleinige Kontrahenten zurück. Dennoch wurde nicht etwa der Wille, einen dauerhaften Frieden zwischen zwei Königreichen und ihren Herrschern zu etablieren, abgelöst von einer Auseinandersetzung zwischen zwei Nationen und zwei Ländern, die Erbfeinde geworden wären. Es waren nicht zwei Länder, die sich gegenüberstanden, sondern zwei Häuser, die sich um ihr vermeintliches Erbe stritten: Zunächst ging es um die burgundische (1477) und die bretonische (1488) Erbfolge, dann, nach dem Vertrag von Senlis vom 23. Mai 1493, um Mailand und Neapel67. Es wäre eine anachronistische Vorwegnahme, hierin eine Auseinandersetzung zweier Länder und zweier Völker zu sehen, trotz der „nationalistischen“ Propaganda auf beiden Seiten, auf die wir später noch zu sprechen kommen werden.

WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. II

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