Читать книгу Die Schwarze Biene - Jean-Pierre Kermanchec - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеAm nächsten Morgen schien die Sonne und die Insel zeigte sich von ihrer bezauberndsten Seite. Es war üblich, dass Tiefausläufer rasch über die Insel zogen und im Schlepptau Regen und starke Winde mitbrachten. Danach war der Himmel wieder frei für neuen Sonnenschein. Carla entschied, dass der Tag geradezu prädestiniert für einen weiteren, schönen langen Spaziergang sei. Sie hatten gestern immerhin 17 Kilometer zurückgelegt, trotz der Unterbrechungen, wegen des Absturzes von Marie an den Klippen, in der Umgebung des Phare de Creac´h. Auf keinen Fall wollte Carla den Küstenabschnitt von gestern erneut passieren. Daher wählten sie für den heutigen Spaziergang die südliche Krabbenschere aus.
Die Insel hatte die Form einer Krabbe. Ihr Hotel lag genau zwischen den beiden Krabbenscheren. Zwei Landzungen, rechts und links ihres Hotels, formten die beiden Scheren. Die südliche Schere war die kürzere und zog sich ungefähr zweieinhalb Kilometer bis zur Spitze hin. Die nördliche war etwa einen Kilometer länger. Dort waren sie gestern entlang spaziert, auf dem Weg zum Leuchtturm von Creac’h.
Ewen und Carla folgten dem Küstenweg, der an den wenigen Sandstränden der Insel vorbeiführte und zahlreichen Einbuchtungen folgte. Die Bucht Porz Goret war die größte. Ihnen boten sich fantastische An- und Ausblicke. Die in die Bucht hereinrollenden Wellen brachen sich an den Felsen, und das Wasser spritze wie eine Fontäne zehn Meter hoch und legte sich danach wie ein Schleier auf die umliegenden Fels- und Gesteinsbrocken. Bei jeder Welle wiederholte sich dieses Schauspiel. Jede Welle hatte ihre Eigenart und bot einen einmaligen Einblick ins Atelier der Natur.
Sie betrachteten dieses Schauspiel fasziniert und setzten ihren Weg dann fort. Von der Spitze der Halbinsel sahen sie nun auf den Leuchtturm, La Jument, der draußen im Meer auf einer kleinen Felseninsel erbaut worden war.
Die beinahe baumlose Insel bot ihren Besuchern kaum schattige Plätze. Nur hinter großen Felsen konnte Ewen sich etwas der Sonneneinstrahlung entziehen. Er war kein Sonnenanbeter, und mit seiner hellen Haut neigte er rasch zu einem Sonnenbrand. So suchte er immer wieder gerne den Schatten auf.
Er war beeindruckt von dem herrlichen weichen Küstenrasen der Insel, der übersät war von rosa Strandnelken, blauem Grindkraut und weißen Gänseblümchen, die die Luft betörend parfümierten und die Insel verzauberten.
Die Landschaft und das Naturschauspiel hatten Ewen von den Ereignissen des vergangenen Tages abgelenkt. Er genoss die frische Luft und das Rauschen des Meeres. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihnen, dass sie schon mehr als vier Stunden unterwegs waren. Der Küstenweg nahm deutlich länger Zeit in Anspruch, als sie für die zweieinhalb Kilometer gerechnet hatten, die die Halbinsel maß. Carla schlug vor, den Rückweg nicht entlang des Küstenweges zu gehen, sondern die kleine Straße zu nehmen, die durch die Weiler Kerandraon, Feunteun Vélen und Toulallan verlief. Die Straße führte beinahe luftlinienartig über die Halbinsel, so dass sie bestimmt in einer dreiviertel Stunde im Hotel angekommen sein würden.
Sie hatten vielleicht einen knappen Kilometer zurückgelegt, als sie sich Kerandraon näherten. Ewen blieb wie angewurzelt stehen und fixierte eine Person, die etwa 200 Meter von ihnen entfernt die Straße überquerte.
„Das ist doch Marie, Marie Le Goff.“ Carla sah in die angedeutete Richtung und konnte gerade noch erkennen, wie eine Person in einem der Häuser verschwand.
„Hast du sie gesehen?“, fragte er Carla, die noch nichts gesagt hatte.
„Es ging mir zu schnell, Ewen, ich habe nur eine Person gesehen, die in einem Haus verschwunden ist. Ich könnte dir nicht sagen, wer es gewesen ist. Hast du denn ihr Gesicht erkannt?“
„Ich bin mir sicher, dass es Marie gewesen ist. Komm, wir gehen zu dem Haus.“
„Ewen, bitte lass das, wir sind im Urlaub.“
„Ich will doch nur sehen, ob ich mich getäuscht habe.“
Ewen ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Zielstrebig ging er in die Richtung des Hauses, in das er die Person hatte verschwinden sehen.
Am Briefkasten stand der Name Berthelé. Ewen näherte sich der Haustür. In dem Augenblick wurde sie aufgerissen, und ein etwa siebzigjähriger Mann erschien in der Türöffnung.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er Ewen, der knapp drei Schritte vor ihm stand.
„Oh ja, das können Sie. Mein Name ist Ewen Kerber und das“, er zeigte auf Carla, die auf der Straße stehen geblieben war, „ist meine Frau Carla. Wir erholen uns einige Tage auf der Insel. Auf der gestrigen Überfahrt haben wir ein junges Ehepaar kennengelernt, Marie und Jean Le Goff. Bei unserem Spaziergang gestern Nachmittag ist uns ihr junger Mann entgegengerannt gekommen und hat, dass seine Frau Marie abgestürzt sei. Vor wenigen Minuten habe ich den Eindruck gehabt, die abgestürzte Marie Le Goff gesehen zu haben, wie sie in ihr Haus gegangen ist.“
„Marie Le Goff, ich kenne niemanden mit diesem Namen. Bei uns im Haus lebt keine Marie. Meine Frau Nolwenn und ich leben hier alleine.“
„Aber ich habe eine junge Frau gesehen, sie hat ein blaues Kleid getragen. Sie ist höchstens Ende zwanzig gewesen.“
Ewen ließ nicht locker. Er spürte, dass der Mann ihm nicht die Wahrheit sagte.
„Wenn ich Ihnen sage, dass wir hier alleine leben, dann sollten Sie mir das schon abnehmen. Ich will nicht unhöflich, sein aber ich muss mich jetzt um meine Schafe kümmern!“
Der Mann ließ Ewen stehen und ging ums Haus herum zu seinem Stall. Ewen drehte sich um und ging zu Carla.
„Der Mann lügt!“
„Wir können uns doch auch getäuscht haben“, meinte Carla einlenkend.
„Ich habe mich nicht getäuscht, da bin ich sicher. Vielleicht ist es nicht Marie gewesen, aber es ist eine junge Frau ins Haus gegangen. Warum lügt der Mann?“
Carla und Ewen hatten beinahe das Hotel erreicht, als sein Handy klingelte. Carla war erstaunt, sein privates Telefon klingelte nur selten. Ewen nahm das Gespräch an.
„Hallo, Paul, es ist schön, deine Stimme zu hören.“
Ewen sah zu Carla und zuckte mit den Achseln, um ihr zu signalisieren, dass er keine Ahnung hatte, warum Paul Chevrier ihn anrief.
„Ewen, es tut mir leid, euch im Urlaub zu stören, aber wir haben gestern von der Gendarmerie aus Trégunc eine Meldung hereingereicht bekommen. Auf eine junge Frau, Marie Le Goff, sind zwei Mordanschläge verübt worden und sie hat einen Drohbrief erhalten. Die Gendarmerie hat die Angelegenheit zuerst nicht so ernst genommen. Erst als der Drohbrief eintraf, hat man uns benachrichtigt. Jetzt haben wir erfahren, dass die Frau mit ihrem Mann auf die Île d´Ouessant gefahren ist. Ich habe sofort an dich gedacht. Hast du zufällig etwas von den Beiden gehört?“
„Und ob! Aber das ist jetzt eine längere Geschichte. Ich bin gerade auf den Weg zurück ins Hotel. Kannst du mich in einer Stunde noch einmal anrufen, dann können wir ausführlich darüber reden.“ Ewen legte auf und sah Carla an.
„Es ist mir schon klar, dass unser Urlaub jetzt zu Ende ist.“
„Nein, Carla, auf keinen Fall. Ich werde Paul nur schnell informieren, er hat einige Fragen, weil er gestern erfahren hat, dass auf Marie Le Goff bereits zwei Anschläge verübt worden sind.“
„Wenn du erst einmal damit anfängst, dann hörst du nicht mehr auf, ich kenne dich Ewen.“
„Ich werde mich bestimmt zurückhalten. Ich will unseren Urlaub doch auch genießen.“
Ewen war auch klar, dass Carla Recht hatte. Er liebte und lebte seinen Beruf. Dennoch wollte er Carla den Gefallen tun und einige erholsame Tage mit ihr verbringen. Er würde sich Mühe geben, sich möglichst zurückzuhalten und die Lösung des Falles, seinen Kollegen Gilles Roudaut und Paul Chevrier zu überlassen, wenigstens für einige Tage.
Ewen und Carla trafen im Hotel ein. Ewen ging in die Bar und bestellt sich ein Glas Rosé. Der Wirt sah ihn etwas befremdlich an.
„Rosé, Monsieur Ewen? Ich habe keine Flasche kalt gestellt. Im Herbst wird er zu selten verlangt.“
„Bitte öffnen Sie mir eine Flasche. Ich trinke Rosé sehr gerne, auch im Herbst, und ich verspreche Ihnen, die Flasche in den nächsten Tagen zu leeren.“
Der Wirt nickte und ging an die Theke. Als Ewens Telefon klingelte, stand das Glas Rosé bereits vor ihm, und er hatte den ersten Schluck genossen.
„Paul, jetzt habe ich Zeit, mit dir zu sprechen. Was hat es mit diesen Anschlägen und Drohungen auf sich?“
„Nun, wie ich dir vorhin schon kurz geschildert habe, ist auf Marie Le Goff zweimal ein Anschlag verübt worden, und sie hat eine Morddrohung erhalten. Ihr Mann hat in der Gendarmerie die Nachricht hinterlassen, dass sie für einige Tage auf die Île d´Ouessant fahren würden. Das ist mein Wissensstand. Jetzt würde ich von dir gerne hören, ob es dir möglich ist, mit ihr zu sprechen. Du hast vorhin angedeutet, dass du die Frau kennengelernt hast.“
„Stimmt, ich habe die beiden Le Goffs auf der Überfahrt nach Ouessant kennengelernt. Wir haben uns am Tisch unter Deck gegenübergesessen, und Carla ist mit der jungen Marie Le Goff ins Gespräch gekommen. Nach der Ankunft in unserem Hotel haben wir einen ersten Spaziergang über die Insel unternommen, das haben die Le Goffs wohl auch gemacht, denn als wir uns dem Leuchtturm, Phare du Creac´h, genähert haben, ist uns Jean Le Goff entgegengerannt gekommen und hat um Hilfe gebeten. Er hat erzählt, dass seine Frau abgestürzt sei, und er ihr nicht helfen konnte. Ich habe den Notruf informiert, und nach wenigen Minuten sind Retter vor Ort gewesen. Doch dann ist die Überraschung gekommen. Sie haben Marie Le Goff nicht finden können.“
„Ist sie abgestürzt?“
„Le Goff hat es gesagt, aber bei näherer Betrachtung habe ich festgestellt, dass es keinerlei Spuren eines Absturzes gegeben hat. An der Stelle, die uns der junge Mann gezeigt hat, ist absolut nichts zu sehen gewesen. Auch an dem Ginsterbusch, an dem sie sich festgehalten haben soll, haben wir nichts entdecken können. Keinen abgebrochenen Ast, keine heruntergefallenen Blüten, obwohl der Strauch noch voll davon gewesen ist und auch keine Rutschspuren auf dem feuchten Gras.“
„Dann deutet wohl alles auf ein Verbrechen hin.“
Paul war nachdenklich geworden.
„Meinst du, dass Jean Le Goff seine Frau umgebracht haben könnte und die beiden Anschläge als Tarnmanöver durchgeführt, beziehungsweise organisiert hat?“
„Schon möglich, aber mir ist sein Verhalten gestern nicht so vorgekommen. Ich glaube nicht, dass er seine Frau ermordet hat. Ich habe eher den Eindruck, dass die beiden uns etwas vorspielen. Als wir heute, auf dem Rückweg von unserer Wanderung, über die südliche Landzunge, an dem Lieu dit Kerandraon, vorbeigekommen sind, habe ich von Weitem den Eindruck gehabt, Marie Le Goff zu sehen. Die Person hat uns bemerkt und ist in einem Haus verschwunden. Ich bin sofort zu dem Haus gegangen und habe mit ihr sprechen wollen. In dem Augenblick, als ich mich der Haustür genähert habe, ist sie von einem älteren Herrn geöffnet worden. Ich habe ihn nach der jungen Frau gefragt, die soeben das Haus betreten hat. Als Antwort habe ich lediglich erhalten, dass nur er mit seiner Frau in dem Haus wohne. Von einer jungen Frau wisse er nichts. Eine Marie Le Goff sei ihm unbekannt.“
„Du meinst, Marie Le Goff versteckt sich in dem Haus und hat ihren Absturz vorgetäuscht?“
„Könnte doch gut sein. Wenn die Frau für tot erklärt werden würde, hätte der Schreiber des Drohbriefes sein Ziel erreicht, und Marie würde nicht weiter belästigt werden. Vielleicht haben die beiden sich das so ausgedacht.“
„Das würde gleichzeitig bedeuten, dass sie ihr Zuhause wechseln müssen. Sie können dann nicht mehr in Melgven wohnen.“
Pauls Zweifel waren berechtigt. Trotzdem hätte es sich aus seiner Sicht so zugetragen haben können. Er müsste mehr über Marie in Erfahrung bringen.
„Paul, versuche doch bitte festzustellen, wie Marie Le Goff mit ihrem Mädchennamen heißt, und wo ihre Eltern wohnen. Vielleicht findest du noch weitere Details über ihre Kindheit und das Leben, das sie geführt hat, bevor sie Jean Le Goff geheiratet hat. Es wäre doch möglich, dass wir dort einige Hinweise finden, die uns auf die Spur eines eventuellen Verbrechens führen.“
„Gut, Ewen, ich werde mich darum kümmern. Ich versuche, dich in den nächsten Tagen erst einmal in Ruhe zu lassen, damit ihr euren Urlaub noch ein wenig genießen könnt.“
Paul legte auf. Ewen nahm das Glas Rosé in die Hand und nippte daran. Seine Gedanken verweilten bei der verschwundenen Marie. Er hatte nicht bemerkt, dass sich der Wirt dem Tisch genähert hatte.
„Monsieur Kerber, darf ich Ihnen noch etwas Wein nachgießen?“
Ewen wurde durch die Frage aus seinen Gedanken gerissen und nickte.
„Ein Glas nehme ich noch, der Rest ist für morgen.“
Carla betrat die kleine Bar, als Monsieur Tanguy Kerlann schon wieder hinter seiner Theke stand.
„Konntest du mit Paul sprechen?“, fragte sie Ewen und setzte sich zu ihm an den Tisch.
„Ja, es ist alles erledigt, was darf ich dir zum Aperitif bestellen?“
„Ach, ich möchte im Augenblick nichts trinken“, antwortete Carla und griff nach Ewens Hand.
„Ich würde gerne ein paar ruhige Tage mit dir verbringen, ohne dass du ständig mit deinen Gedanken bei irgendeinem Kriminalfall weilst.“
„Ich rufe nur noch einmal den Kollegen in Brest an, dann ist der Fall für mich abgeschlossen. Wenigstens für die nächsten Tage.“
„Hoffentlich, Ewen!“ Carla hegte keine großen Hoffnungen. Es war ihr inzwischen klar, dass Ewen erst nach seiner Pensionierung wirklich abschalten würde, im besten Fall. Er war mit Leib und Seele Kriminalkommissar.
Ewen wählte die Nummer von Gilles Roudaut, der sich sofort meldete.
„Gilles, Ewen hier. Gibt es etwas Neues bei dir?“
„Hallo Ewen, nicht wirklich, wir haben Jean Le Goff ausführlich verhört. Er bleibt bei seiner Aussage, dass seine Frau Marie abgestürzt ist. Es gibt keinen Beleg für ein Gewaltverbrechen. Wir werden ihn wohl morgen früh wieder auf freien Fuß setzen müssen. Er hat uns gesagt, dass er wieder auf die Insel will, um alleine nach seiner Frau zu suchen.“
„Gilles, ich habe vorhin ein Gespräch mit meinem Kollegen in Quimper geführt. Paul Chevrier hat mir berichtet, dass gegen Marie zwei Mordanschläge verübt worden sind, und dass sie eine Morddrohung erhalten hat. Dabei ist mir die Idee gekommen, dass Maries Tod vielleicht fingiert worden ist, um dem eventuellen Aggressor ihren Tod vorzugaukeln. Die Idee ist weit hergeholt, das ist mir schon klar, aber sie liegt immerhin im Bereich des Möglichen. Was meinst du dazu?“
„Hmmm, klingt interessant. Das würde einiges erklären. Ich werde versuchen, Jean Le Goff damit zu konfrontieren. Danke für den Hinweis.“
„Bis bald, Gilles, Adieu.“
Ewen legte auf und ging mit Carla ins Restaurant des Hotels. Die beiden genossen auch heute wieder ein gutes Abendessen. Als Dessert gab es diesmal einen farz oaled, einen Far Bretonne von Ouessant. Ein süß-salziges Dessert aus geriebenen Kartoffeln, Mehl, Speck, Eiern, Milch, Rosinen und getrockneten Pflaumen. Auch dieses Dessert wurde in einem Topf unter Grassoden drei Stunden lang gebacken. Die junge Bedienung war ganz stolz, als sie erzählte, dass das Rezept in den Familien von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Jede Familie hatte dabei ihre eigene, leicht variierte Rezeptur. Sie befand sich bereits im Besitz des Rezeptes ihrer Mutter.
Nach dem Abendessen brachen sie zu einem Spaziergang, rund um den kleinen Hafen, auf. Sie verließen ihr Hotel und gingen die Gasse schräg gegenüber hinunter. Die Straße führte an Restaurants vorbei, die nach der Saison bereits geschlossenen hatten und stieg dann leicht an. Ewen konnte an einer Hauswand den Schriftzug Discothèque lesen. Gegenüber lag das Gebäude der Gendarmerie.
„Wie praktisch, die Gendarmen sind sofort zur Stelle, wenn es etwas lauter zugehen sollte.“
Sie kamen auf einer kleinen Anhöhe an dem Hotel Duchesse Anne vorbei. Alle Zimmer hatten den Blick aufs Meer oder auf den darunter liegenden kleinen Hafen. Eine wunderbare Lage, fand Ewen. Sie schlenderten zurück und spazierten zum Hafen. Zahlreiche Segelyachten und Fischerboote lagen an der Mole, vor und hinter der Pier, die die Hafeneinfahrt zwar etwas verkleinerte aber dem dahinterliegenden Becken dadurch mehr Schutz bot. Auf der westlichen Seite des kleinen Hafens von Lampaul gab es einen, an die 70 Meter langen Slip, der vom Bootshaus direkt ins Wasser führte, so dass ein Boot auch bei Niedrigwasser ohne Probleme schnell ins Wasser gelangen konnte. In dem Bootshaus war das Seenotrettungsboot stationiert.
Die Luft war klar und der Wind wehte sachte. Sie hatten Glück mit dem Wetter. Mitte Oktober konnte es durchaus vorkommen, dass die ersten Herbststürme über die Insel hinwegzogen. Einen Indian Summer gab es hier nur selten. Die Temperatur lag jetzt, am späteren Abend, immer noch bei fünfzehn Grad. Nach einer guten Stunde waren sie wieder am Hotel angelangt.
„So ein Spaziergang tut gut, Ewen, merkst du es auch?“
„Ja, Carla, ich gehe sehr gerne spazieren. Manchmal kommt eben ein Telefonat dazu.“
„Ich hoffe, dass wir jetzt einige ruhige Tage verbringen können, du wirst sehen, dass die Woche schneller vergeht, als uns lieb ist.“
Sie betraten das Hotel und nahmen ihren Schlüssel entgegen. Monsieur Kerlann reichte Ewen auch noch einen Umschlag, der für ihn abgegeben worden war.
„Diese Nachricht wurde vorhin für Sie hinterlassen.“
„Oh, eine Nachricht, persönlich übergeben? Von wem kommt die Nachricht?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen, ich habe sie nicht entgegengenommen.“
„Merci, Monsieur Kerlann“, erwiderte Ewen und öffnete den Umschlag.
Aus einem Schulheft hatte der Schreiber ein Blatt herausgerissen und einige Zeilen darauf geschrieben.
Monsieur le Commissaire,
ich muss Sie sprechen, kann mich aber nur am späten Abend mit Ihnen treffen. Könnten Sie morgen gegen 22 Uhr nach Toulallan kommen. Vor dem Weiler gabelt sich die Straße. Ich werde Sie dort erwarten. Bitte achten Sie darauf, dass Sie nicht verfolgt werden.
Danke
Ewen las den Brief zweimal. Für ihn stand fest, dass die Nachricht nur von Marie Le Goff stammen konnte. Der Brief trug keine Unterschrift, aber wer, außer Marie und Jean Le Goff, kannte ihn hier auf der Insel? Wer sonst sollte ihm eine Nachricht zukommen lassen? Wer wusste wo er abgestiegen war? Jean Le Goff war in Brest bei der police judiciaire, damit schied er aus, es blieb nur Marie übrig. Für Ewen stand fest, sie war nicht abgestürzt, und ihr Verschwinden war von den Beiden inszeniert worden. Was könnte sie von ihm wollen?
Carla sah Ewen an, als er seinen Blick von dem Zettel hob.
„Ich habe mich wohl zu früh gefreut?“
„Nein, Carla, ich vermute, das Schreiben kommt von Marie, und ich bin der Meinung, dass sie mit mir reden möchte, um ihren Mann aus der misslichen Situation zu befreien, in der er sich zur Zeit befindet. Sicher wird sie mir erklären wollen, warum sie dieses Theater gespielt haben. Sie möchte morgen Abend mit mir, am Ortseingang vom Lieu dit Toulallan, wir sind am Nachmittag daran vorbeigekommen, sprechen.“
„Darf ich dich begleiten?“
„Sicher, aber ich weiß nicht, wie Marie reagieren wird, wenn wir zu zweit erscheinen. Aber komm mit, vielleicht ist es sogar besser wenn du dabei bist.“
„Was meinst du mit …ich weiß nicht, wie Marie reagieren wird…?“
„Ach, eigentlich nichts, ich bin mir nur unsicher gewesen, ob es richtig ist. Aber jetzt glaube ich sogar, dass es besser ist, wenn du dabei bist.“
Sie gingen auf ihr Zimmer und beendeten die Überlegungen zu Marie.