Читать книгу Das Grab in der Ville-Close - Jean-Pierre Kermanchec - Страница 12

Kapitel 9

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Anaïk Bruel stellte den Dienstwagen auf dem Parkplatz gegenüber der Ville Close ab und machte sich mit Monique auf den Weg in die Altstadt. Die grauschwarze Wolkendecke war in den letzten Minuten aufgerissen und hatte der Sonne ein wenig Durchblick ermöglicht. Die Ville Close schien fast ausgestorben zu sein. Nur vereinzelt waren Fußgänger in der Rue Vauban zu sehen. Die Geschäfte der Altstadt waren teilweise geschlossen und verstärkten den tristen Eindruck, den die Gasse auf die beiden Kommissarinnen machte. Die kleine Résidence lag unmittelbar neben der Chapelle de l´Hôpital. Sie öffneten das Tor, das den Vorplatz des Hauses von der Rue Vauban trennte, und gingen die wenigen Meter bis zur Eingangstür. An der Haustür gab es keinen Klingelknopf oder Klopfer. Anaïk drückte die Klinke nach unten und war erstaunt, dass die Tür sich öffnete. Sie hatten kaum den Flur betreten als eine ältere Dame auf sie zukam und nach ihren Wünschen fragte.

„Hier im Haus soll ein Monsieur Heneg Bolloc´h wohnen? Wir sind von der police judiciaire aus Quimper. Mein Name ist Anaïk Bruel, das ist meine Kollegin, Monique Dupont.“

„Sie wollen zu Heneg? Er hat schon seit Langem keinen Besuch mehr erhalten. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm, er wird sich freuen. Seine Wohnung liegt in der ersten Etage, leider haben wir keinen Aufzug. Heneg ist nicht mehr so gut zu Fuß, müssen Sie wissen. So kann er nicht so ohne Weiteres nach unten kommen.“

Anaïk und Monique folgten der Frau langsam nach oben. Sie war bestimmt weit über 70 Jahre alt. In einem schmalen Gang blieb die Frau vor einer Tür stehen, klopfte und trat ein ohne auf eine Antwort zu warten.

„Heneg, du hast Damenbesuch, der dich sprechen möchte.“

Heneg saß in einem Schaukelstuhl und sah aus dem Fenster, das zur Vorderseite des Hauses zeigte. Er hatte also gesehen, dass sie den Garten betreten hatten. Langsam, beinahe phlegmatisch drehte er sich um und sah Anaïk an.

„Sie wollen zu mir? Ich kenne Sie nicht. Hat Mewen Sie zu mir geschickt? Er ist schon so lange nicht mehr hier gewesen. Früher ist er regelmäßig einmal in der Woche gekommen.“

„Monsieur Bolloc´h, wir sind von der police judiciaire aus Quimper. Mewen hat uns nicht zu Ihnen geschickt, aber seinetwegen sind wir hier.“

„Hat der Junge etwas angestellt?“

„Nein, Monsieur Bolloc´h, er hat nichts angestellt. Wir haben eine traurige Nachricht für Sie. Ihr Enkelkind ist vor ungefähr eineinhalb Jahren ermordet worden.“

„Mewen? Ermordet? Das kann nicht sein. Wer ermordet einen so lieben und guten Jungen? Der hat doch niemandem etwas getan.“

„Genau das müssen wir herausfinden. Dafür benötigen wir ihre Hilfe.“

„Meine Hilfe? Wie soll ich Ihnen helfen. Ich sitze in meinem Schaukelstuhl und kann noch nicht einmal ohne fremde Hilfe nach unten gehen. Sogar das Essen bringt man mir ins Zimmer.“

„Sie können unsere Fragen beantworten, das würde uns schon helfen.“

„Dann fragen Sie mich“, antwortete Monsieur Bolloc´h. Er blickte jetzt viel wacher, seine ganze Aufmerksamkeit galt den Fragen.

„Wann haben Sie Mewen zum letzten Mal gesehen?“

„Das ist schon lange her, lassen Sie mich nachdenken.“ Er schloss die Augen und schien intensiv nachzudenken. Dann öffnete er die Augen wieder und sah die Dame an, die die beiden Kommissarinnen zu ihm begleitet hatte.

„Gwenaëlle, weißt du noch, wann wir den Besuch von der Bürgermeisterin Grosselle hatten, du weißt schon, die neue Abgeordnete in Paris. Damals war sie noch hier in der Mairie.“

„Oh ja, das weiß ich ganz genau, sie hat uns den Zuschuss gewährt, für die Ausbesserung der Dachschäden. Das war im letzten Jahr, im März. An den genauen Tag kann ich mich auch noch erinnern, es war der Geburtstag meiner Nichte, der 23.“

„Genau an dem Tag war Mewen zum letzten Mal bei mir. Da bin ich mir ganz sicher.“

„Das würde bedeuten, dass er Sie vor 19 Monaten zum letzten Mal besucht hat. Das passt zu unseren Ermittlungen. Hat sich bei seinem letzten Besuch etwas Spezielles ereignet?“

„Hm, nicht das ich wüsste“, sagte Monsieur Bolloc´h etwas unsicher.“

„Sie haben ihm nicht zufällig ein Geheimnis anvertraut oder ihm etwas sehr Wichtiges gesagt?“

„Ein Geheimnis? Was soll ich dem Jungen für ein Geheimnis mitteilen?“

„Monsieur Bolloc´h, wenn Sie ein Interesse daran haben, dass der Mörder ihres Enkels ins Gefängnis kommt, sollten Sie offen mit uns sprechen. Wir haben in Mewens Portemonnaie einen Zettel gefunden.“

Anaïk öffnete ihre Handtasche und nahm die mitgenommene Plastiktüte heraus. Dann trat sie näher an Monsieur Bolloc´h heran und hielt ihm die Notiz vors Gesicht.

„Bitte sehen Sie sich diese Notiz an.“

Heneg Bolloc´h blickte auf das Blatt.

„Ohne meine Brille kann ich leider nichts sehen. Warten Sie.“

Heneg Bolloc´h griff zur Fensterbank, auf der seine Brille mit den dicken Gläsern lag und setzte sie sich auf die Nase.

„So jetzt geht es besser“, sagte er und sah auf den Notizzettel, den Anaïk ihm immer noch hinhielt. Jetzt konnte er die Notiz lesen.

Ca. 160 Meter von dem Quai der Fähre. Markierung an Mauer, Kreuz im Stein, 60 – 80 cm tief, in Ölpapier eingepackt

Anaïk beobachtete ihn. Seine Augen hafteten an dem Zettel, er konnte den Blick nicht abwenden. Dann nickte er ein wenig mit dem Kopf. Heneg Bolloc´h nahm die Brille wieder ab und sah ihr in die Augen.

„Ja, das habe ich Mewen gesagt, und er hat sich das wohl aufgeschrieben. Sie können mich festnehmen und ins Gefängnis bringen. Ohne Mewen macht das alles sowieso keinen Sinn mehr.“

„Was meinen Sie, Monsieur Bolloc´h?“

Heneg Bolloc´h lehnte sich in seinem Schaukelstuhl zurück und begann leicht zu schaukeln.

„Ich bin 80 Jahre alt, mein Leben geht langsam dem Ende entgegen. Ob ich noch einige Zeit im Gefängnis sitze oder nicht spielt für mich keine Rolle mehr. Ich sage Ihnen jetzt alles was ich weiß, aber finden Sie den Mörder meines Enkels.

Es ist 2001 gewesen, ich war damals 65 Jahre alt und wieder einmal ziemlich abgebrannt. Sie müssen wissen, dass ich Schweißer gewesen bin auf der Werft in Lorient. Als dort die Aufträge ausgeblieben sind, weil die Reeder ihre neuen Schiffe lieber in Südkorea oder auf Taiwan geordert haben, habe ich von einem Tag auf den anderen meine Arbeit verloren. Ich hatte nicht vor meinem Sohn auf der Tasche zu liegen, der selber nicht viel verdient hat. Einige Jahre habe ich noch Arbeitslosengeld erhalten, danach eine mickrige Rente. Da traf es sich ganz gut, dass ich in einer Kneipe zwei Männer kennengelernt habe, die ihren Lebensunterhalt mit kleinen Einbrüchen und Überfällen finanzierten. Die hatten von einem Bankangestellten der BNP Paribas in Quimper erfahren, dass eine größere Lieferung Bargeld in der Bank erwartet wurde. Sie können sich vielleicht noch an die Einführung des Euro erinnern? Eine erste Lieferung der neuen Banknoten sollte also in der Bank eintreffen. Alles war streng geheim, niemand durfte davon etwas wissen. Die Beiden hatten von dem Angestellten der Bank den Tipp erhalten. Der Angestellte wollte 10% der Beute haben. Den Rest durften sie unter sich aufteilen. Die beiden Männer waren auf der Suche nach einem dritten Mann, der ihnen bei der Sache helfen würde. Sie hatten einen Plan ausgearbeitet und bereits Waffen besorgt. Ich habe nicht lange überlegt und ihnen meine Hilfe zugesagt. Wir haben die Bank überfallen. Bei dem Überfall hat einer meiner Komplizen einen Wachmann erschossen, gerade als sie die Bank mit der Beute verlassen wollten. Wir haben die Beute aufgeteilt und der Angestellte hat seine 10% erhalten. Danach habe ich die zwei aus den Augen verloren. Es war abgemacht, dass wir das Geld nicht sofort ausgeben. Mein Anteil waren 1,8 Millionen Euro. Ich habe mein Geld in der Ville Close vergraben. Ich hatte die Hoffnung, eines Tages in der Altstadt von Concarneau eine Wohnung kaufen zu können, damit wäre das Geld dann immer in meiner Nähe und ich könnte mir davon holen, falls ich welches brauchte. Ich habe mir nach einer gewissen Zeit von meinen 1,8 Millionen 300.000 genommen und mir für 200.000 Euro dieses kleine Studio hier gekauft. Die restliche Summe habe ich wieder an derselben Stelle vergraben.

Mein Sohn heiratete später und zog nach Beuzec Conq. Meine Frau starb mit 48 Jahren an Krebs. Für meinen Lebensunterhalt brauchte ich nicht viel, ich kam recht gut mit dem Geld von der Stütze aus. Wenn ich mir etwas Besonderes gönnen wollte, dann hatte ich immer noch das Geld von der Beute. Mein Geld nahm nur langsam ab. Monate nach der Einführung des Euro habe ich die mir verbliebene Summe von 100.000 Euro auf verschiedene Konten verteilt. Der Rest der Beute, es waren immerhin noch 1,5 Millionen Euro, blieb vergraben. Mewen hatte es in seinem kurzen Leben nicht einfach. Ich wollte ihm mit dem Geld einen Start in eine bessere Zukunft ermöglichen. Also habe ich ihm von dem Banküberfall erzählt und ihm genau beschrieben, wo er das Geld finden kann. Ich habe ihm gesagt, dass er nicht sofort die ganze Summe ausgeben soll, das würde auffallen. Er sollte immer nur so viel davon nehmen wie er unbedingt brauchte. Den Rest sollte er in einem sicheren Versteck verwahren. Ich habe ihm auch gesagt, dass er das Geld alleine und möglichst nach Mitternacht aus dem Versteck holen soll damit ihn niemand beobachtet. Die Ville Close ist nach Mitternacht menschenleer, da kann man in aller Ruhe graben. Ich kann mir vorstellen, dass er beim Ausgraben des Geldes überfallen worden ist. So, das ist meine Geschichte. Jetzt dürfen Sie mich verhaften und ins Gefängnis bringen.“

„Monsieur Bolloc´h, das ist nicht unsere Aufgabe. Wir werden die Information an das Raubdezernat weitergeben. Sie werden dann von unseren Kollegen hören. Ob Sie ins Gefängnis müssen wird ein Gericht entscheiden. Die Tat liegt zwar schon lange zurück, aber leider ist sie noch nicht verjährt.“

„Ich bin bereit, eine Strafe für meine Tat zu erhalten.“

Henan Bolloc´h hatte aufgehört zu schaukeln.

„Haben Sie etwas mit der Tötung des Wachmanns zu tun?“, fragte Anaïk.

„Nein, das habe ich nicht. Der Tod des Wachmanns ist aufgeklärt worden. Mein damaliger Komplize hat die Tat gestanden. Mich haben die beiden, die gefasst worden sind, weil sie zu viel von dem Geld ausgegeben haben, nie verpfiffen. Ganovenehre, Sie wissen schon!“ Henan zwinkerte mit dem rechten Auge.

„Dann bedanken wir uns für das Gespräch, Monsieur Bolloc´h“, sagte Anaïk und stand auf. Auch Monique, die während der ganzen Zeit zugehört hatte, erhob sich. Die Kommissarinnen verabschiedeten sich von dem alten Mann. Henan Bolloc´h lehnte sich in seinem Schaukelstuhl zurück und nickte ihnen zu. Wären sie länger geblieben, so hätten sie zusehen können, wie der Mann innerlich zusammenbrach. Mewen war seine Hoffnung gewesen, die letzten Jahre seines Lebens nicht alleine verbringen zu müssen. Diese Hoffnung war in den letzten Minuten erloschen.

Das Grab in der Ville-Close

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