Читать книгу Der Tote von Trévarez - Jean-Pierre Kermanchec - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеVon l´Arcouest aus war er auf die Île de Bréhat gekommen und wollte im Hotel Belle-Vue drei ruhige Tage verbringen. Die nur etwas mehr als zwei Kilometer, die die Insel vom Festland trennte, reichten aus, um die Insel vor dem Autolärm zu schützen. Eine Insel mit völliger Ruhe hatte er gesucht.
Autoverkehr gab es auf der Insel nicht. Sobald er das Boot verlassen hatte, standen nur noch Fahrräder als Fortbewegungsmittel zur Verfügung, wenn er von den Traktoren absah, die die Besucher mit ihrem Gepäck von der Fähre abholten und zu ihren Unterkünften brachten, falls sie nicht zu Fuß gehen wollten. Genau das hatte er sich aber vorgenommen. Er plante, die Insel zu Fuß zu erkunden, sich unter einen schattigen Baum zu setzen oder gemütlich ein Aperitif auf der Terrasse des Hotels einzunehmen.
Sein Hotel lag direkt am Hafen, so dass er die wenigen Schritte mit seinem Trolley ohne Probleme zurücklegen konnte.
Die Fähre war beinahe ausgebucht gewesen, als sie von l´Arcouest abgelegt hatten. Die zehnminütige Überfahrt begann. So hatte er sich einen ruhigen Aufenthalt jedoch nicht vorgestellt. Es war doch noch Vorsaison und die Touristenströme kamen üblicherweise in den Monaten Juni bis September. Auf der Insel angekommen, sah er schon Heerscharen von Besuchern, die sich den Weg zum Hauptort der Insel bahnten. Fast wäre er sofort wieder zurückgefahren. Dann entschied er aber zu bleiben.
Sein Hotel verfügte über 19 Zimmer. Sein Zimmer hatte den Blick auf den Hafen, auf die 100 kleinen Felseninseln und auf das gegenüberliegende Festland. Er war beeindruckt.
In seinem Zimmer lag eine Broschüre aus. Ihr entnahm er die Größenangaben der Insel und die Informationen zu den Sehenswürdigkeiten.
Die Île de Bréhat bestand aus zwei Inseln, die durch eine Brücke verbunden waren, die noch Vauban errichtet hatte. Vom Hafen bis zur Nordspitze waren es 3,5 Kilometer. Auf der ungefähr 3 km2 großen Insel gab es doch tatsächlich 30 km Wanderwege. Die 300 Einwohner waren über die ganze Insel verteilt, wobei der größte Teil im sogenannten le Bourg wohnte. Sogar ein Altersheim gab es auf der kleinen Insel.
Er bezog sein Zimmer und machte sich gleich danach auf den Weg zu einem ersten Erkundungsgang über die Insel. An der Nordspitze stand der Leuchtturm, der Phare du Paon, ihn wollte er als erstes besuchen. Der Weg führte ihn durch enge Gassen, vorbei an Häusern, deren Mauern bis unters Dach mit herrlichen blühenden Pflanzen bewachsen waren. Es schien zu stimmen, dass die Blütenpracht auf der Insel der des Mittelmeerraumes entsprach. Das Wetter meinte es gut mit ihm. Die Temperaturen lagen bereits bei 20 Grad und die Sonne schien aus einem blauen, wolkenlosen Himmel. Er passierte die kleine Post und kam an die Vaubanbrücke.
Beinahe wäre sie ihm nicht einmal aufgefallen. Es sah so aus, als ob er eine schmale Landverbindung beschritt. Rechts und links sah er den üblichen Sand, Schlick und die Algen, die bei Niedrigwasser zum Vorschein kamen. Dann bemerkte er die großen Steinquader, mit denen der Übergang gebaut worden war. Er stand auf der Vaubanbrücke. Gab es in Frankreich einen Ort, an dem der große Baumeister keine Spuren hinterlassen hatte?
Er brauchte bis zur nördlichen Spitze der Insel beinahe eine Stunde. Er schlenderte gemütlich und verweilte hin und wieder an manchen Stellen, so verstrich die Zeit schnell.
Als er dann am Phare du Paon angekommen war, setzte er sich am Fuße eines mächtigen Felsens auf den Boden und betrachtete das Meer, die Möwen und die vorbeifahrenden Boote. Er war ganz in Gedanken versunken, als eine feine Stimme ihn aus seiner Träumerei riss.
„Hätten Sie Feuer für mich?“
Ein hübsches Mädchen, vielleicht 20 Jahre alt, stand vor ihm. Ihr leichtes und fast zu dünnes Sommerkleid wurde von der sanften Brise etwas bewegt und flatterte um ihre schön geformten Beine. Ihr blondes Haar und ihr dezentes Make up fielen ihm auf, als er an ihr hochsah. Zwischen den Fingern der rechten Hand hielt sie eine Zigarette und lächelte ihn an.
„Ich bedauere, aber leider habe ich keine Möglichkeit Ihnen ihre Zigarette anzuzünden. Ich bin Nichtraucher.“
„Auch nicht schlimm, dann lasse ich das Rauchen eben sein“, sagte sie und steckte die Zigarette wieder in die Packung, die sie noch in der linken Hand hielt.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen oder würde ich Sie stören?“
„Aber bitte“, sagte er und machte eine einladende Handbewegung.
Es schmeichelte ihm, dass ein junges und so schönes Mädchen sich zu ihm setzen wollte.
„Sind Sie schon lange auf der Insel?“ Das Mädchen sah ihn fragend an.
„Nein, gerade einmal einige Stunden.“
„Mit einer der Fähren am Vormittag also angekommen“, stellte sie fest und legte sich neben ihm ins Gras. Dabei rutsche ihr Kleid hoch und er konnte nicht nur ihre schönen Beine, sondern auch ein gutes Stück ihrer Oberschenkel sehen.
„Ich lebe schon seit meiner Geburt auf dieser Insel. Die Touristen schwärmen von der Insel, von ihrer Blütenpracht, und ihrer Schönheit. Ich finde sie schlicht nur langweilig. Wenn ich einmal zum Tanzen gehen möchte oder in ein Kino, muss ich immer mit der Fähre zum Festland fahren und dort übernachten. In der Saison fährt das letzte Schiff bereits um 20 Uhr zurück zur Insel. Im Winter ist es noch schlechter. Dann muss man schon kurz nach 18 Uhr wieder zurückfahren. Das ist doch unmöglich für einen jungen Menschen. Aber die Insel verlassen kann ich auch nicht. Ich habe mein Haus hier und meine Arbeit.“
„Was arbeiten Sie denn, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin Pflegerin im Altersheim. Nach meiner Ausbildung habe ich versucht, eine Stelle in Paimpol zu finden, aber da sind keine freien Stellen gewesen. So bin ich auf die Insel gekommen, als man mir den Platz beim Arbeitsamt angeboten hat. Meine Eltern sind beide beim Fischen ums Leben gekommen. Sie haben es nicht mehr zurück in den Hafen geschafft, während eines Unwetters. Ihr Boot ist gekentert und sie sind ertrunken. Ich habe das Haus von ihnen geerbt und ich lebe jetzt hier. Was machen Sie?“
„Zurzeit nur Urlaub, ansonsten bin ich Unternehmer.“
„Das ist gut, ich würde auch gerne viel unternehmen.“
Das Mädchen lachte laut über ihren kleinen Scherz. Der Wind frischte etwas auf und blies nun beständig das Kleid nach oben, so dass noch mehr von ihren schlanken Beinen und ihren Oberschenkeln vor seinen Augen sichtbar wurde.
Er konnte später nicht sagen, warum er sich damals nicht im Zaum halten konnte und immer lüsterner wurde. Je länger sich das Gespräch mit dem Mädchen hinzog, umso begehrlicher wurde er. Er sah sich regelmäßig um und versuchte festzustellen, ob sich außer ihnen beiden noch andere Menschen in der Nähe aufhielten. Es war niemand zu sehen, so oft er seinen Blick auch schweifen ließ.
Dann, nach etwa einer Stunde, drehte sich das junge Mädchen zu ihm um und sagte, dass sie sich jetzt wohl auf den Rückweg machen würde. Ihre Schicht begann um 18 Uhr und sie wollte noch eine Kleinigkeit essen, bevor sie zur Arbeit gehen würde.
Wenn sie jetzt wegging, würde er sie nie wiedersehen. Sein Verstand sagte ihm, dass das auch gut so sei, während seine Lust sich darüber hinwegsetzte. Völlig unerwartet umfasste er mit seinen Armen die Taille des jungen Mädchens und zog es an sich.
„Lassen Sie das sein!“, schrie das Mädchen und wehrte sich gegen den Griff.
Aber er war stärker und zog sie noch fester an sich. Sein Mund suchte ihre Lippen. Sie schüttelte den Kopf und rief immer wieder nein, nein! Sie versuchte sich aus der Umklammerung zu lösen und drehte sich zur Seite. Der sanfte Abhang auf dem sie saßen half ihr, sie rollten etwas den Abhang hinunter.
Er griff ihr zwischen die Beine und versuchte ihren Slip herunterzustreifen. Er hatte seine Umklammerung lockern müssen und hielt sie nur noch mit einer Hand fest. Mit ihrer letzten Kraft stieß sie sich von ihm weg und versuchte aufzustehen. Es gelang ihr, sich seinem Griff zu entziehen und auf die Beine zu kommen. Schon sah sie, wie seine Hände wieder nach ihr griffen. Sie machte einen Schritt nach hinten und verlor das Gleichgewicht.
Keiner von den Beiden hatte gemerkt, dass sie der Felsenkante gefährlich nahe gekommen waren. Das Mädchen taumelte und versuchte sich nach vorne zu werfen, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Es war zu spät, der Boden unter ihren Füßen war plötzlich verschwunden. Sie konnte nur noch schreien, als sie im freien Fall die 30 Meter hinunterstürzte. Der Aufschlag auf die spitzen Felsen konnte nur tödlich sein.
Völlig entgeistert sah der Mann hinunter auf den Leichnam des Mädchens, dass vor einem Augenblick noch in seinem Arm gewesen war. Er sah sich erneut um. Hatte jemand den Schrei gehört? Sollte er einen Notarzt oder die Ambulanz rufen? Es war zu spät, helfen konnte man dem Mädchen nicht mehr. Es war tot. Was würde mit ihm passieren? Die Gendarmerie würde bestimmt Fragen stellen, wie es dazu gekommen war, in welchem Verhältnis sie zueinander gestanden hatten und so weiter. Konnte er sich herausreden oder würde er sich nur in Schwierigkeiten bringen? Er entschied, in sein Hotel zurückzugehen und alles Weitere dem Zufall zu überlassen. Bestimmt entdeckte ein Wanderer die Leiche, und die Feuerwehr oder wer auch sonst, würde sie bergen.
Er schien ganz alleine an der nördlichen Spitze der Insel gewesen zu sein. Schnellen Schrittes machte er sich auf den Weg zurück. Als er hinter der Vauban-Brücke an eine Weggabelung kam, sah er den Pfeil, der den Weg zur Kapelle St. Michel zeigte. Er ging zur Kapelle. Sollte man ihn fragen, wo er den Nachmittag verbracht hatte, so würde er sagen, dass er an der Kapelle war.
Die Kapelle thronte auf einem Bergkegel. Zahlreiche Stufen führten hinauf, es wimmelte nur so von Besuchern. Als er oben angekommen war, verstand er, warum die Besucher hierher kamen. Der Blick, der sich ihm von hier oben bot, reichte bis ans Festland, über die vielen kleinen Inseln um Bréhat herum und über das ganze Eiland. Die unterhalb der Kapelle gelegene Gezeitenmühle war ebenfalls gut zu sehen. Er setzte sich auf eine der beiden Bänke, die in westlicher Richtung aufgestellt waren, und genoss die Sonnenstrahlen. Das tote Mädchen schien ihn nicht mehr zu beschäftigen.
Einige Stunden später machte er sich auf den Weg ins Hotel, setzte sich auf die Terrasse und bestellt einen Rotwein zum Aperitif.
Es war schon gegen 20 Uhr, als er hörte, wie ein weiterer Gast aufgeregt ins Hotel kam. Er berichtete dem Portier, dass er die Leiche eines jungen Mädchens an der Nordspitze der Insel entdeckt hatte, und dass er schon die Gendarmerie informiert hatte. Schnell machte die Neuigkeit die Runde auf der kleinen Insel.
Tagelang sprachen die Bewohner über den Fund. Die Gendarmerie ging von einem Unfall aus. Das Mädchen war wohl etwas zu nahe an die Felsenkante getreten und dabei abgestürzt. Jedenfalls wurden die Untersuchungen nach drei Tagen eingestellt.
Er verließ die Insel am dritten Tag, so wie er es geplant hatte. Die Nordspitze der Insel suchte er nicht noch einmal auf. Für ihn war das Geschehene Geschichte. Er konnte nicht wissen, dass er an jenem Tag nicht ganz alleine war.