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In der Treue verwurzelt

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Gottes Ruf ist für jeden von uns anders und doch ist es immer der gleiche Ruf. Es ist ein Ruf, in der Liebe, in der Weisheit und in der inneren Freiheit zu wachsen und auf diese Weise stärkere Liebe, mehr Frieden und größere Freiheit in die Welt zu bringen. Haben wir erst einmal unsere Berufung erkannt und unseren Platz gefunden – was Zeit braucht –, dann müssen wir Wurzeln fassen und diesem Ruf treu bleiben.

Jeder Mensch hat beim Aufbau der Gemeinschaft seine besondere Rolle. Jeder muss sein Gefühl dafür, berufen zu sein, vertiefen. Es braucht Zeit, damit sich bestimmte Entscheidungen vertiefen, reifen und Frucht tragen können. Jeder Ruf ist einmalig, aber wir alle sind berufen, anderen Leben zu schenken und dieses Leben gemeinsam, als Gemeinschaft, zu schenken.

Im Markusevangelium wird uns die Geschichte von einem jungen Mann erzählt, der zu Jesus hinlief, vor ihm auf die Knie fiel und ihn fragte:

»Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?«

Jesus erzählte ihm von den Geboten Gottes, worauf der Mann erwiderte, diese habe er von Jugend an gehalten. Dann erzählt uns Markus weiter:

»Da sah ihn Jesus voll Liebe an.«

Stellt euch den Ausdruck in den Augen Jesu vor, als er diesen Mann liebevoll ansah. Hierauf sagte er:

»Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!«

(Markus 10,17–22)

Jesus sagte: »Komm und sei bei mir. Wir werden den Weg gemeinsam gehen; wir werden Freunde sein. Ich werde dich lehren, wie du mitten in einer Welt voller Gewalt und Ichsucht freundlich, gütig und liebevoll sein kannst. Ich werde dir zeigen, wie du ein Mensch des Friedens werden kannst, ein Mensch der Hoffnung. Fürchte dich nicht, ich werde dir zeigen, wie du leben kannst, damit dein ganzes Leben, dein ganzes Sein zum Zeichen der Frohen Botschaft wird.«

Markus erzählt uns, dass dieser junge Mann Angst bekam und sich von Jesus abwandte.

Wenn wir Gottes Ruf entdecken und ihn begrüßen, geschieht in uns etwas Wunderschönes: Wir erfahren Gottes Liebe zu uns und in uns eröffnet sich eine ganze neue Welt. Uns geht auch auf, dass das ein sehr anspruchsvoller Ruf ist. Wir werden dazu eingeladen, unsere frühere, vertraute Welt aufzugeben und alles loszulassen, was zu kennen und woran uns zu halten wir gewohnt waren. Dies alles bedeutet einen Verlust.

Wir empfangen etwas Neues, aber zugleich müssen wir etwas anderes loslassen. Wenn eine Frau zu dem Entschluss kommt, einen Mann zu heiraten, sagt sie zu Tausenden anderer Männer Nein! Wenn jemand zu einem langfristigen Engagement in der Arche berufen ist, bedeutet das, dass sie oder er ihre bisherige Lebensweise aufgeben muss, die Freiheit, ihren Tag so zu gestalten, wie sie will, den Umgang mit ihren Freunden usw.

Mit der Berufung sind untrennbar Trauer und Verlust verbunden. Wer den Ruf annehmen würde, aber nicht den Verlust, müsste in einem dauernden Widerspruch leben. Wenn man eine Entscheidung trifft – zum Beispiel die, in der Arche zu leben –, aber die Konsequenzen seiner Entscheidung nicht voll und ganz annimmt, führt das in starke Spannung und Erschöpfung. Man tut sich dann ständig selber leid, bedauert, dass man kein höheres Gehalt hat, keine kürzere Arbeitszeit usw.

Da gibt es den Ruf und da gibt es den Verlust. Aber wer mag schon den Verlust? Als ich vor über fünfzig Jahren aus der Marine ausschied, verkaufte ich alles, was ich besaß – was nicht viel war –, und gab es den Armen. Heute habe ich nicht viel, das ich verkaufen könnte, und ich bezweifle, dass jemand das haben möchte, was ich habe. Aber der Ruf und der Verlust gehen weiter. Heute bin ich berufen, andere Dinge loszulassen: Einstellungen, Ängste, Vorurteile, Sicherheiten, Gewissheiten, das Bedürfnis, alles im Griff zu haben … Es gibt ein tägliches »Loslassen«, denn tagtäglich ruft mich Jesus auf, liebevoller und einfühlsamer zu werden, den Menschen noch präsenter zu sein, noch mehr ein Kind Gottes zu sein, noch freier von aller Angst zu werden.

Im Lukasevangelium gibt es eine weitere Geschichte über eine Berufung. Das ist die Geschichte von Zachäus (Lukas 19,1–10). Zachäus war ein Mann, der darunter litt, körperlich so klein zu sein, dass er immer, wenn er in einer Menge stand, nichts sehen konnte, selbst wenn er sich auf seine Zehenspitzen stellte. Das war nicht sein einziges Problem. Er war auch ein reicher Steuereintreiber, und dieser Beruf machte ihn bei den anderen, den »echten« Juden, ziemlich unbeliebt. Steuereintreiber kassierten Steuern von der jüdischen Bevölkerung für die römischen Besatzer. Deshalb wurden sie als Kollaborateure, ja sogar als Verräter betrachtet, und tatsächlich zogen sie aus der Besatzung durch die Römer ihren Nutzen. Oft zogen sie mehr Geld ein, als erforderlich war, um es in die eigene Tasche zu stecken.

Und so war da also Zachäus, ein reicher Zolleintreiber und Kollaborateur mit den Römern, dem seine Mitjuden nicht über den Weg trauten, ja den sie verachteten. Er hatte gehört, dass Jesus komme, und er wollte sehen, wer dieser Jesus war. Aber Zachäus konnte wegen der Volksmenge nichts sehen.

Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen.

Jesus hat da sicher schmunzeln müssen. Man stelle sich einen so wichtigen Mann wie den Oberzöllner hoch auf dem Ast eines Baumes sitzend vor! Jesus sah zu ihm hinauf und sagte:

»Zachäus, komm schnell herunter. Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein!«

Zachäus muss verblüfft gewesen sein und seine Frau wird ihm das gar nicht geglaubt haben, als er es ihr erzählte. Vielleicht war sie sogar wütend, denn weder sie noch das Haus waren für einen solchen Besuch hergerichtet! Im Haus war es vielleicht nicht aufgeräumt, die Kinder waren womöglich schmutzig, und jedenfalls war das Essen nicht fertig! Und man kann sich auch die Überraschung und Wut der religiösen Autoritäten von Jericho vorstellen, die der Meinung gewesen waren, eigentlich hätte Jesus doch sie mit seinem Besuch beehren müssen. Die Wahl Jesu, das Haus eines Verräters aufzusuchen, verletzte und empörte sie. Die Welt war auf den Kopf gestellt.

Jesus handelt oft so. Er stellt unsere Welt der eigenen Wichtigkeiten, Ehren und herkömmlichen Tugenden auf den Kopf. Er bringt die etablierte Ordnung der Dinge durcheinander und ersetzt sie durch eine neue Ordnung. So ging Jesus ins Haus von Zachäus. Er wies ihn nicht an, alles, was er hatte, zu verkaufen und ihm nachzufolgen, sondern er sagte nur:

»Ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein!«

Zu dem reichen jungen Mann hatte Jesus gesagt:

»Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen; dann komm und folge mir nach!«

Zu Zachäus sagt er:

»Ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein!«

Beide Aufforderungen sind anspruchsvoll; keine lässt sich im Leben so leicht verwirklichen. Die Menschen ziehen es oft vor, Jesus in den Kirchen und Gottesdienststätten zu halten, wohin sie gehen und ihn von Zeit zu Zeit besuchen können, sooft ihnen danach ist oder falls sie das Bedürfnis dazu haben. Aber Jesus bei sich im Haus zu beherbergen – womit auch das Haus des Herzens gemeint ist –, das ist schwerer zu akzeptieren!

Wenn wir Jesus in unser »Haus« aufnehmen, verwandelt er uns und unsere Lebensart. Wir wissen, dass Menschen in ein und demselben Haus sein und trotzdem ihr Leben nicht miteinander teilen können. Es gibt eine Art von modus vivendi, die ihnen in Wirklichkeit hilft, einander nicht zu begegnen, sondern einander aus dem Weg zu gehen.

Frauen können ganz in ihren eigenen Beschäftigungen im Haus oder mit Freundinnen aufgehen; Männer können sich hinter ihrer Zeitung, dem Fernseher oder ihren Problemen bei der Arbeit verstecken. Jesus weist die gute Hausfrau an, nicht nur pausenlos alles in Ordnung zu bringen, sondern sich auch hinzusetzen und ihren Kindern zuzuhören und Zeit mit ihnen zu verbringen. Jesus sagt dem Mann, dem typischen Workaholic, dass seine oberste Priorität nicht der Fernseher ist, sondern seine Frau und seine Kinder.

Zuweilen wissen Männer gar nicht richtig, was es heißt, Vater zu sein. Sie meinen, es genüge, wenn sie für das materielle Wohl ihrer Kinder sorgen und ihnen sagen, was sie aus ihrem Leben machen sollen. Ein Vater ist mehr als das: Vater zu sein bedeutet, seine Kinder zu lieben, auf sie zu hören, sie zu achten und ihr Reiferwerden zu fördern, sie zu beschützen, ihnen zu vertrauen und ihre Intuitionen ernst zu nehmen, ihnen zu helfen, sich selbst zu entfalten. Vatersein ist genau wie Muttersein eine ganz wunderschöne Berufung, aber auch eine anspruchsvolle. Es ist ein Ruf von Gott, der kommen und »in unserem Haus Gast sein« möchte.

Nehmen wir uns stille Zeit, um auf Gottes Ruf zu horchen und zu hören, wie Gott uns bei unserem Namen ruft. Lasst uns unsere erste Liebe wiederentdecken, unseren ersten Ruf neu beleben, unser erstes »Ja« zu Jesus, oder vielleicht zum ersten Mal Jesu Ruf hören, wir sollten ihm folgen, ihn lieben, ihn »in unser Haus« einladen, in unser Herz.

Weites Herz

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