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Einführung Jesus weinte

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Als Jesus sich Jerusalem näherte, weinte er. Die geheimnisvollen Tränen Jesu. Er konnte voraussehen, was geschehen würde. Er wusste, Jerusalem würde zerstört werden, die »Heilige Stadt« würde zur »Stadt des Leidens«, zur »Stadt des Kriegs und Konflikts« werden.

Jesus weinte:

»Wenn du doch die Friedensbotschaft verstanden hättest …«

(vgl. Lukas 19,42)

Aber diese Friedensbotschaft verstehen wir nicht. Oft kennen wir den Kern der Botschaft des Evangeliums gar nicht richtig.

Jesus weint über unsere heutige Welt. Er weint über unsere Länder, in denen so große Ungleichheit herrscht, Spaltung und gegenseitiges sich Ausschließen. Wenn wir uns die Botschaft des Evangeliums genauer ansehen und dazu auch das Geschenk der »Arche«, erschließt sich uns das Geheimnis des Weinens Jesu. In unseren Arche-Gemeinschaften heißen wir Menschen willkommen, die abgelehnt und ausgestoßen wurden. Sie haben viele Tränen geweint. Die Arche wurde auf ihren Tränen errichtet.

Luisito ist ein Mensch mit schweren Behinderungen. Vor seiner Aufnahme in die Arche in Santo Domingo lebte er auf der Straße und nächtigte in einer kleinen Hütte in der Nähe der katholischen Kirche. Als seine Mutter starb, blieb er allein zurück. Hier und da gaben ihm die Nachbarn etwas zum Essen, aber niemand kümmerte sich wirklich um ihn: Er war schmutzig und stank; sein Körper war verkrümmt; er konnte nicht gehen und nicht sprechen. Die Leute ertrugen kaum seinen Anblick; er verstörte sie. Aber heute ist er eines der Gründungsmitglieder der Arche in Santo Domingo und es ist eine Freude, ihm in der dortigen Gemeinschaft zu begegnen.

Claudia kam vom Asyl in San Felipe (in Honduras) zur Arche in Suyapa. Weil sie blind und autistisch ist, hatte man sie als Kind ausgesetzt. Während ihres ersten Jahres in der Arche-Gemeinschaft »Casa Nazaret« war sie ziemlich verstört und voller Ängste; sie schrie viel. Jetzt ist sie friedlicher. Sie deckt den Tisch, arbeitet in der Werkstätte … Als ich diese Gemeinschaft vor einiger Zeit besuchte, sah ich sie im Hof herumgehen, und sie lächelte und sang vor sich hin. Ich sprach sie an, ob ich ihr eine Frage stellen dürfe:

»Si [Ja], Juan«, erwiderte sie.

»Claudia, warum bist du so glücklich?«

»Dios [Gott]«, gab sie zur Antwort.

Dieses junge Mädchen, das ausgesetzt worden war, weil es niemand gewollt hatte, war zur Freundin Gottes geworden.

Wir sind privilegiert, wo immer wir sein mögen, ganz gleich, welchen Platz wir in der Gesellschaft haben, und zwar deshalb, weil wir in unseren Familien, in unserer Umgebung und in unseren Gemeinschaften mit all den Luisitos und Claudias um uns herum zusammen sein dürfen. Indem wir ihnen nahe sind, sind wir Jesus nahe. Das ist das Geheimnis, das ist die im Evangelium Jesu verborgene Wahrheit: Luisito macht Jesus gegenwärtig!

Es wirkt töricht, das zu sagen. Ein Großteil dessen, was ich sage, mag ziemlich töricht wirken, denn das Evangelium ist tatsächlich eine törichte Botschaft. Diese ist so einfach, so erstaunlich, dass man nur schwer glauben kann, dass es wahr ist, genau wie es für Maria schwer gewesen sein muss, zu glauben, dass das Kleine, das sie in ihrem Schoß trug und später in ihren Armen, Gott war! Dieses kleine Kind war auf sie angewiesen, damit sie es nährte, für es sorgte, ja mehr noch: das sie brauchte, um es zu lieben. Ein Kind braucht Liebe. Das »Fleisch gewordene Wort«, Jesus, war darauf angewiesen, geliebt zu werden.

Es ist für uns schwierig, an einen Gott zu glauben, der derart demütig und verletzlich ist. Ist denn Gott nicht in erster Linie und vor allem der Allmächtige, der Schöpfer von Himmel und Erde, der Schöpfer der gesamten Welt der Pflanzen, Fische und Tiere, der Schöpfer von Mann und Frau? Gott ist so groß! Wenn wir zu den Sternen aufsehen und an die Entfernung zwischen den Sternen und unserem Planeten denken; wenn wir uns die Sonnen hinter den Sonnen vorstellen, die Milchstraßen hinter den Milchstraßen, dann kommt uns die Größe Gottes zu Bewusstsein. Und doch wurde genau dieser Gott Fleisch, wurde ein kleines Kind.

Im Johannesevangelium sagt Philippus zu Jesus:

»Herr, zeig uns den Vater; das genügt uns.«

Jesus gibt zur Antwort:

»Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen …«

(Johannes 14,9)

Wer Jesus sieht, sieht Gott. Wer Jesus anfasst, fasst Gott an. Als Maria das Jesuskind in ihren Armen trug, trug sie Gott in ihren Armen. Das ist die Torheit der Inkarnation, die Jesus sogar noch weiter treibt, wenn er sagt:

»Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.«

(Matthäus 25,40)

Wer einen Gefangenen besucht, einen Nackten bekleidet, einen Fremden aufnimmt, der besucht Gott, bekleidet Gott und nimmt Gott auf. Das ist ein großes Geheimnis!

Wenn wir dieses Geheimnis des Evangeliums erfassen wollen, müssen wir offen und aufmerksam sein. Wir müssen mit unserem ganzen Wesen hinhorchen. Was wir dann zu hören bekommen, übersteigt tatsächlich unser Fassungsvermögen, falls uns nicht der Heilige Geist hilft; der Einzige, der uns wirklich etwas lehren kann, der einzige, der jedes meiner Worte erhellen kann. Es ist der Heilige Geist, mit dessen Hilfe unsere Herzen geöffnet, berührt und genährt werden können.

So wichtig es sein mag, auf meine Worte zu hören, ist es doch noch viel wichtiger, genau auf das Wort Gottes zu achten, wie es sich in jedem und jeder von uns offenbart. Lasst uns sorgfältig auf die Botschaft des Evangeliums horchen, auf die Torheit der Botschaft Gottes und auf den Geist Jesu, der in jedem von uns wohnt.

Gott sprach durch die Worte des Propheten Hosea:

»Siehe, darum will ich sie verlocken. Ich will sie in die Wüste hinausführen und zärtlich zu ihrem Herzen sprechen.«

(Hosea 2,16)

Wir sind vielleicht nicht in der Wüste, aber wir sind alle aus unserem Alltagsleben und unseren üblichen Tätigkeiten hierher gekommen. Für manche von uns mag sich diese Besinnungszeit wie eine Art Wüstenaufenthalt anfühlen. Das ist ein Zeichen, dass Jesus uns ruft, uns führt, uns zieht, damit er zärtlich zu uns sprechen kann, von Herz zu Herz. Jesus spricht nicht nur zum Kopf, zum Verstand eines jeden von uns, sondern er spricht auch zu unserem Herzen, zu unserem tiefsten Selbst. So lasst uns voller Vertrauen unsere Herzen öffnen und alles empfangen, was er uns schenken möchte.

Der Prophet sprach weiter:

»Dann gebe ich ihr dort ihre Weinberge wieder …«,

was heißt: Ich will ihr zeigen, wie fruchtbar ihr Leben ist,

»und das Achor-Tal mache ich für sie zum Tor der Hoffnung.«

Ja, wir alle sind berufen, dass unser Leben viel Frucht bringt, denn Jesus möchte, dass wir anderen Leben schenken. Wir finden das schwierig: anderen Leben zu schenken, andere Menschen in ihrer Schwäche zu halten und zu tragen. Oft haben wir vor der Wirklichkeit Angst, denn die Wirklichkeit kann schmerzvoll und eine Quelle der Enttäuschung sein. Wir neigen dazu, in eine Welt voller Illusionen zu fliehen und unsere Zuflucht in Träumen zu suchen. Wir vergraben uns in Ideen und Theorien oder füllen unsere Tage mit Zerstreuungen aus.

Eine Umfrage in den USA ergab, dass die Menschen dort wöchentlich achtundzwanzig bis zweiunddreißig Stunden lang fernsehen! Der Fernsehschirm hat sich an die Stelle der Wirklichkeit gesetzt.

Wir laufen aus unserem »Achor-Tal« davon, dem Ort unserer größten und innersten Not. Aber Gott ruft uns auf, genau dorthin zu gehen, damit aus diesem Tal ein Tor der Hoffnung wird.

Das Achor-Tal lag in der Nähe von Jericho. Es war ein gefährliches Gelände voller Schlangen, Skorpione und aller möglichen wilden Tieren; die Leute hatten vor diesem Tal Angst und versuchten es zu meiden. Aber Gott erklärt, dass dieses Unglückstal zum Tor der Hoffnung werde. Was für ein Geheimnis: ein Geheimnis voller Hoffnung!

In jedem und jeder von uns gibt es ein »Achor-Tal«, denn wir alle kennen Ereignisse oder Verletzungen, an die wir uns nicht erinnern möchten, die wir nicht genauer ins Auge fassen und denen wir nicht mehr näher kommen wollen. Es gibt Menschen und Erfahrungen, die wir zu vermeiden versuchen, weil sie uns zu sehr wehtun und wir uns vor Schmerzen fürchten. Manche Menschen verwirren uns; sie sind »seltsam«, sind »anders«; wir können nicht ertragen, was sie leiden oder welches Leiden sie in uns auslösen. Aber Gott sagt zu uns: Wenn ihr an diese Orte des Leidens geht und euch aufgeschlossen diesen Menschen zuwendet, werden sie für euch zum »Tor der Hoffnung«. Wenn wir uns eng auf die Menschen einlassen, die unsere Gesellschaft nicht haben will, ausschließt und zerdrückt; auf die in Asyle weggesperrten Menschen; dann entdecken wir, dass sie zum »Tor der Hoffnung« werden können. Genauso ist es, wenn wir alles das, was wir in uns ablehnen, an uns herankommen lassen: unsere Blockaden, unsere Bitterkeit, unsere Ängste, all das, wofür wir uns vielleicht schämen. Wenn wir es wagen, mitten in unser inneres »Achor-Tal« vorzudringen, wird es tatsächlich für uns zum Tor der Hoffnung.

Aber das bringen wir nicht allein fertig. Wir müssen dabei Hand in Hand mit Jesus gehen, damit er uns führt und uns das Herz des Evangeliums offenbart.

Weites Herz

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