Читать книгу Versprich mir, mich nie zu heiraten - Jeanette Sanders - Страница 5
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ОглавлениеDie Party steuerte auf ihren Höhepunkt zu. Noch fünf Minuten bis Mitternacht! Dorothea Wassermann, Doro gerufen, warf einen Blick auf die Uhr. In fünf Minuten brach der 13. September herein. Doros 35. Geburtstag. Und gleichzeitig ihr erster Tag in einem Jahr ohne Sex!
Doro sprang auf: «Liebe Freunde! Bevore ihr die korken knallen laßt, habe ich ein kleines Attentat auf euch vor. Ich ernenne euch hiermit zu Zeugen eines Gelübdes, das ich gleich ablegen werde ...» – Gelächter. Jemand rief:«Ruhe!»
Drei Minuten später war alles gesagt. Doro setzte sich wieder. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen um sie herum, bevor der Lärmpegel wieder anschwoll. Gleich würde das Telefon klingeln und Frau Geiermann von unten empört mit der Polizei drohen. Die alte Dame war Witwe und alleinstehend und mochte es gar nicht, wenn Doro es ab und an in ihrer Wohnung krachen ließ.
Das Telefon schwieg eisern, dafür schrie Eberhard erfolgreich gegen den Lärm an.
«Doro!» brüllte er, bereits leicht schwankend, «Doro, ich bewundere dich! Du bist die erste und einzige Frau, die ich kenne, die aus freien Stücken die Askese wählt. Und dabei gleich noch ihren gegenwärtigen Liebhaber abserviert! Ich gratuliere dir zu deinem Einfallsreichtum und zum Geburtstag, mein Ex-Schatz!» – damit kippte er Doro in die Arme. Nicht etwa gramgebeugt, nur reichlich abgefüllt. Eberhard vertrug Alkohol nicht so gut, was er manchmal vergaß. Doro schubste ihn zurück in seinen Lieblingssessel, der eigentlich ihrer war. Eberhard hatte dies in den vergangenen immerhin 16 Monaten zu ignorieren gewußt. Nun, auch das würde ab sofort vorbei sein.
Ein Korken knallte. «Happy Birthday, liebe Doro ...», ertönte es vielstimmig. Jemand drückte ihr ein volles Sektglas in die Hand. Eine weibliche Stimme rief: «Unsere Doro ist jetzt ein reifes Mädchen! Wir sind stolz auf dich...» – Maria natürlich! Wer sonst.
Doro nahm einen kräftigen Schluck und leerte ihr Glas in einem einzigen Zug. Sie wußte, das würde ihr einen ziemlichen Schwips bescheren, da sie den ganzen Abend über schon einiges getrunken hatte. Es war ihr egal. Morgen konnte sie ausschlafen. Sie hatte extra Urlaub genommen, um ihren ersten Tag im freiwilligen Zölibat gebührend zu begehen.
Ivan tauchte an Doros Seite auf und schenkte ihr nach. Dann beugte er sich zu ihr und wisperte: «Du solltest dich vielleicht mal besser um Eberhard kümmern. Er ist im Badezimmer und scheint seine Zahnbürste einzupakken!»
«Klingt vielversprechend! Der gute Eberhard kapiert wirklich schnell. Findest du nicht auch, Ivan? Im übrigen könntest du deinen Schnauzer mal wieder stutzen, mein Lieber. Du siehst aus wie ein trauriger Seehund.»
Eduard Ivan Hummel lachte nur gutmütig. Doro setzte ihm spontan einen Kuß auf die Nasenspitze – «Ich mag dich, weißt du das?» Rasch versuchte sie im Kopf nachzurechnen, im wievielten Semester ihr platonischer Freund Ivan mittlerweile sein mochte. Im 25. ungefähr, entschied sie. Fünfundzwanzig Semester Philosophie, und immer noch ein netter Kerl! Das war immerhin auch eine Leistung. Ansonsten war Ivan – der seinen zweiten Vornamen als Rufnamen bevorzugte (es klang exotischer, behauptete er, und wer wolle schon Eduard heißen, und dann auch noch in Verbindung mit Hummel!) – Lebenskünstler und Fahrradkurier. Und Frauenfreund! Allerdings trotzdem (oder deswegen?) Junggeselle. Mit Ivan konnte man über alles reden.
Nebenher schrieb er hin und wieder auch kleine Fachartikel für ein Blatt, das sich Der Philosoph im Wandel der Zeiten nannte. Und satirische Gedichte für das Stadtmagazin.
«Ivan», sagte Doro, «tu mir den Gefallen und hilf Eberhard seine Klamotten nach unten in sein Auto bringen, ja? Dieses Kapitel meines Lebens ist abgeschlossen!»
«Okay! Aber komm mir dann ja nicht an und jammere mir die Ohren voll, wie elend du dich fühlst, klar?»
«Klar!» Doro begann in Richtung ihres Schlafzimmers zu schweben. Zumindest kam es ihr so vor, als ob sie schwebte.
Im Flur drehte sie sich noch einmal zu ihren Gästen um.
«Gute Nacht, ihr Lieben! Feiert ruhig weiter. Der letzte macht bitte die Kerzen und den CD-Player aus und zieht die Wohnungstür sachte hinter sich ins Schloß.»
Sie hörte, wie Maria, ihre Freundin (und gleichzeitig einzige erklärte Intimfeindin von Ivan), zu jemandem sagte: «Sie ist sicher nur müde und gestreßt! Das wird schon wieder.»
Doro kicherte in ihr Kissen, weil sie sich Eberhards traurige Dackelaugen vorstellte, mit denen er Maria in diesem Moment sicher fixierte.
Ivans Stimme sagte: «Vergiß bloß den Werkzeugkasten nicht...»
Mist, dachte Doro, jetzt repariert Eberhard mein Fahrrad natürlich nicht mehr, und den Ölwechsel am Auto muß ich in der Werkstatt machen lassen – dann war sie eingeschlafen ...
Doro wachte am nächsten Morgen gewissermaßen in Etappen auf. Sie lag noch im Halbschlummer, aber ihr Kopf hatte bereits registriert, daß sie heute nicht gleich aufzuspringen und ins Bad zu hetzen brauchte. Also döste sie zufrieden noch ein bißchen vor sich hin. Allmählich kam auch die Erinnerung an die vergangene Nacht zurück. Und mit ihr dieses süße Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit. Doro hatte Urlaub und war wieder Single.
Dann begann das Telefon zu schrillen. Es war Eberhard.
«Morgen, du verrücktes Weibsbild!» – seine Stimme klang, als hätte er kurz zuvor mit Weichspüler gegurgelt.
«Eberhard! Ich habe Urlaub und schlafe noch ...»
«Hättest du mich nicht rausgeschmissen, würde ich dir jetzt das Frühstück ans Bett bringen!»
«Hahaha, das wäre aber das erste Mal gewesen.»
Schlagartig wurde Eberhards Ton einen Tick aggressiver.
«Was du dir da gestern abend geleistet hast, war ein starkes Stück, meine Liebe! Ich sollte eigentlich nie mehr im Leben ein Wort mit dir reden.»
«Gut!»
«Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen! Eigentlich rufe ich dich ja nur an, um dir einen Gefallen zu tun.»
«Ich kann es kaum erwarten!» sagte Doro und schlüpfte mit dem Telefonapparat in der Hand zurück in ihr warmes Bett.
Einen Moment lang blieb es ganz still am anderen Ende der Leitung. Offenbar dachte der Herr Studienrat für Deutsch und Geschichte gerade angestrengt nach. Wie der ungezogenen Göre wohl am besten beizukommen wäre. Doro mußte sich auf die Unterlippe beißen, um nicht laut herauszuprusten.
Eberhard legte los: «Du bist jetzt immerhin fünfunddreißig, Doro, und willst ein Jahr lang keinen Sex, keinen Mann, nichts?»
«Das weißt du doch inzwischen!»
«Na schön», sagte er, «in dem Fall habe ich einen heißen Tip für dich. Künstliche Befruchtung! Am besten mit dem Samen eines Nobelpreisträgers. Dann kannst du ganz alleine für dich das Superbaby der Nation in die Welt setzen. Am besten achtest du auch darauf, daß es männlichen Geschlechts ist. Damit du wenigstens ein männliches Wesen um dich hast, das du herumkommandieren kannst. Sonst bist du irgendwann garantiert reif für die Klapsmühle!»
Doro konnte nicht anders, sie mußte kichern. Es dämmerte ihr, daß sie Eberhards männliches Ego heute nacht mehr getroffen haben mußte, als sie eigentlich vorgehabt hatte. Er war jetzt so in Fahrt, daß er sich auch durch ihren Heiterkeitsausbruch nicht stoppen ließ: Humor hatte er ohnehin nie sonderlich viel besessen.
«... oder wie wäre es mit dem 5000 Jahre alten Samen von dieser Gletscherleiche, diesem, diesem ...» – Eberhard suchte nach dem Namen, der ihm offenbar entfallen war.
«Ötzi?» schlug Doro vor.
«Richtig! Ich habe erst am Wochenende in der Zeitung gelesen, daß sich angeblich ein paar geschockte Weibsbilder förmlich darum reißen. Ich kann es ja immer noch nicht fassen, wie dumm manche Frauen sind! Aber anscheinend gibt es nichts, was es nicht gibt. Im übrigen kann ich dich vor etwaigen Plänen in der Richtung nur warnen! Die Wissenschaftler haben mitgeteilt, daß selbst das leistungsfähigste Sperma 5000 Jahre im Eis nicht übersteht.»
«Danke für den Tip!» lachte Doro, «ich werde daran denken. Aber jetzt muß ich auflegen, ich habe jede Menge vor heute.»
«Was wirst du schon vorhaben ...», erklang es giftig.
«Einen Vibrator kaufen zum Beispiel!» sagte Doro kühl. Mitten in sein überraschtes Schweigen hinein legte sie den Hörer auf. Sie kuschelte sich noch einmal in die Kissen. Eigentlich gar keine schlechte Idee, dämmerte es ihr, sie hatte sich schließlich bloß vorgenommen, auf Sex mit Männern für eine Weile zu verzichten!
Zehn Minuten später klingelte der Kasten bereits wieder.
Es war Maria. «Morgen, Doro. Wie geht’s?»
«Bestens. Hast du Ivan heute nacht nach Hause gefahren? »
«Dieser Kelch ging zum Glück an mir vorüber. Der Typ hatte mich schon den ganzen Abend über wieder mal höllisch genervt. Nein, dein Eberhard hat ihn heimgefahren. »
«Mein Ex-Eberhard! Aber der war doch sternhagelvoll ...»
Maria lachte heiser. «Du meinst es doch nicht etwa ernst mit dem, was du da heute nacht von dir gegeben hast?»
«Todernst sogar! »
«Aber was soll das Ganze? Ich verstehe das nicht. Ich dachte immer, du und Eberhard, ihr gebt ein gutes Team ab.»
«Ein gutes Team ist mir aber zuwenig. Ich will mehr in einer Beziehung, nämlich glücklich sein. Außerdem suche ich noch nach dem roten Leitfaden in meinem Leben. Himmel, Maria, ich bin jetzt Mitte dreißig, habe einige mehr oder weniger lange Beziehungen hinter mir, ein abgebrochenes Studium, eine Sekretärinnenausbildung und diverse Bürojobs. Meine gegenwärtige Tätigkeit als EDV-Dozentin klingt zwar recht vielversprechend, langweilt mich aber zu Tode. Oder glaubst du etwa, es macht Spaß, irgendwelchen zickigen Büromäusen das Einmaleins der Textverarbeitung nahezubringen? Also bin ich nach langem Nachdenken zu dem Schluß gekommen, daß das Leben zu kurz und zu kostbar ist, um es einfach so herunterzuleben, verstehst du? Ich habe noch einiges mit mir vor, und dabei kann ich im Moment keinen Mann gebrauchen. Sobald Sex oder gar Liebe ins Spiel kommt, läßt man sich als Frau zu schnell von seinen Zielen ablenken. Und hinterher hat man den Salat! »
«Da ist allerdings was Wahres dran», sagte Maria langsam, «darüber müssen wir noch mal in Ruhe reden. Auf jeden Fall lade ich dich hiermit heute mittag zum Essen ein. Ins Aurora, um eins! Ist das okay für dich?»
«Klar. Hast du etwa wieder einen Luxusschlitten verkauft? »
«Mhm», bestätigte Maria, «der Scheich vom letzten Jahr hat seinen Bruder geschickt. Der wollte auch unbedingt so eine Limousine. Und mich als Dreingabe, sozusagen, der Mistkerl!»
«Und? Wie war’s?» Doros Neugierde war prompt geweckt.
«Wo denkst du hin! Mir reicht die Provision. Also, dann bis später, Doro. Ich muß los.»
Nachdem Maria aus der Leitung war, legte Doro den Hörer vorsichtshalber neben den Apparat. Sich noch vor dem Frühstück von Eberhard beschimpfen und von Maria zum Mittagessen einladen zu lassen genügte ihr vorerst. Dann hüpfte sie voller Elan wie schon lange nicht mehr unter die Dusche.
Bevor sie aus dem Haus ging, entwarf Doro noch rasch eine Strategie zum Vibratorkauf. Die Idee hatte beim Frühstück so richtig Gestalt angenommen! Während sie mit Genuß in ihren Honigtoast biß, hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde ... Körperliche Befriedigung ohne die geringste Reue! Kein Gedanke daran, wie man wohl aussah, mit zerwuschelten Haaren, zerflossenem Make-up, möglicherweise roten, hektischen Flecken im Gesicht ... Und hinterher kein lästiges «Ja, es war schön für mich, Liebling! Und für dich?»
Vielleicht noch am ehesten zu vergleichen mit einem Quickie, überlegte Doro weiter. Irgendwo bei Nacht und Nebel und mit einem wildfremden Mann. Obwohl so etwas erfahrungsgemäß auch nur in Filmen und Romanen passierte. Außerdem war es in ihrem speziellen Fall sowieso Essig damit. Doro hatte schließlich vergangene Nacht – laut und vor Zeugen – jeglichem Sex mit jedem Mann für ein Jahr entsagt!
Und dann waren die meisten Männer auch entweder zu spießig (oder wohlerzogen?) oder schlicht unbrauchbar für so einen Spontanfick à la Erica Jong.
Also doch ein Vibrator!
Jetzt war nur noch das Problem der Beschaffung zu lösen.
Doro überlegte ein Weilchen angestrengt ...
In einen Sexshop gehen? – «Einen Vibrator, bitte!»
«Gerne! Ich zeige Ihnen nur rasch unsere verschiedenen Modelle. Also, da wäre hier der Genoppte. Oder das Modell in Überlänge. Oder bevorzugen Sie die ganz normale Standardausführung?»
«Ich weiß es nicht, ich habe keine Erfahrung auf dem Gebiet! Wissen Sie, ich habe bis jetzt immer Naturprodukte vorgezogen...» – Doro würde garantiert loskichern! Nein, so ging es nicht, wenigstens nicht in ihrem Fall.
Ob es vielleicht im Kaufhaus ...? In neutraler Verpakkung? Aber dann schaltete sich Doros kritischer Verstand ein: «Im Kaufhaus? Unmöglich! Denk doch mal nach! Die Jugendlichen ... da könnten doch alle ran. Da hätten sich sicher schon irgendwelche Verbände aufgeregt, wenn es das gäbe. Außerdem, wozu bräuchte es dann die vielen Sexshops?»
Doro ging ins Schlafzimmer hinüber, um sich umzuziehen. Dabei fiel ihr Blick auf einen dicken bunten Katalog, der seit Jahr und Tag auf dem Fensterbrett lag.
Eberhards Versandhauskatalog!
Er hatte den Tick, fast alles, was er so brauchte, nicht in der Stadt zu kaufen, sondern zu bestellen. Sogar Klamotten und Schuhe, obwohl die dann oft nicht paßten oder eine glatte Vogelscheuche aus ihm machten. Und das, obwohl das Zeugs doch auf dem Foto so toll ausgesehen hatte. Besonders gerne bestellte Eberhard aber Geräte! Von der elektrischen Zahnbürste bis zum Vorschlaghammer. Zwar funktionierten die Dinger oft genug beim ersten Versuch nicht, aber Eberhard gab trotzdem nicht auf. Er schickte das betreffende Gerät heroisch zurück. Vorher machte er eine halbe Doktorarbeit daraus, die Mängel schriftlich zu fixieren. Dieses Schreiben sandte er stets mit getrennter Post als Einschreiben an das Versandhaus ... Dann begann das große Warten. Bis eines Tages ein neues (hoffentlich) funktionierendes. Gerät eintraf. So ein Kauf konnte sich auf diese Weise ganz schön hinziehen.
Doro bevorzugte normalerweise die nur auf den ersten Blick unbequemere und zeitaufwendigere Methode des Direktkaufs.
Normalerweise! In diesem delikaten Fall allerdings...
Tatsächlich! Auf Seite 1125 des Katalogs waren gleich zwei Modelle abgebildet: eines in «Überlänge» und ein «G-Spot-Stimulator», was nichts anderes hieß, als daß das Ding vorne leicht gebogen war. Etwa so wie ein überdimensionaler Widerhaken! Sachen gab es ... Natürlich wußte Doro als aufgeklärte Frau von diesem Lustknopf im weiblichen Unterleib. Allerdings war sie nie in den Genuß gekommen, seine tatsächliche Existenz am eigenen Leibe zu erfahren.
Spontan beschloß Doro, den G-Spot-Stimulator schriftlich zu ordern. Es lebe der Versandhaushandel!
Aber erst mal mußte sie los, stellte sie mit einem raschen Blick auf die Radioweckeruhr fest.
Auf ihren hochhackigen Pumps klapperte Doro die Treppe hinunter. Sie war schon fast an der Wohnung von Frau Geiermann vorbei, als deren Tür aufging. Die weißhaarige alte Dame hielt einen Topf mit Alpenveilchen in der Hand.
«Sie haben doch heute Geburtstag, Fräulein Wassermann? » – Frau Geiermann hielt seit drei Jahren – solange wohnte Doro hier – hartnäckig an der Anrede «Fräulein» fest. Doro hatte sie einmal gefragt, ob sie einen unverheirateten Nachbarn mit «Herrlein» anreden würde, aber nur einen erstaunten Blick geerntet. Die Zeiten waren früher eben andere gewesen, das sah selbst Doro «Fräulein Wassermann» daraufhin ein.
«Ja, irgendwie schon!» versuchte sie zu scherzen.
«Na, dann herzlichen Glückwunsch!» sagte die alte Dame ernst, «und hier ...» – Doro bekam den Topf mit den Alpenveilchen in die Hände gedrückt, «nur eine Kleinigkeit! Habe ich selber gezogen auf meinem Fensterbrett. Wissen Sie, da scheint doch nachmittags immer so schön die Sonne hin ...»
«Das wäre aber nicht nötig gewesen!» brachte Doro hervor. Sofort fiel ihr ein, daß auch ihre Mutter immer diese Floskel benutzt hatte. Auch das noch! Doro hatte doch nie im Leben so werden wollen wie ihre Mutter ...
«Nehmen Sie nur, es kommt von Herzen», sagte Frau Geiermann und lächelte lieb. «Gestern haben Sie wohl ein bißchen vorgefeiert? Ich habe es schon gehört, aber einmal im Jahr und weil doch Geburtstag ist, da geht das schon. Ich habe mir einfach ein bißchen Watte in die Ohren gesteckt.»
Natürlich! Eine Portion schlechtes Gewissen sollte da wohl mitverschenkt werden. Verpackt in Alpenveilchen und garniert mit herzlichen Glückwünschen. Doro ärgerte sich, daß sie mal wieder keine schlagfertige Antwort parat hatte. Und das mit 35! Mädchen, Mädchen, du hast noch viel zu lernen!
«Vielen Dank auch noch!» sagte Doro höflich.
Dann mußte sie tatsächlich noch einmal nach oben, um die Veilchen in ihre Küche zu stellen. Obwohl sie die etwas schwindsüchtigen Blümchen ja am liebsten unten in die Mülltonne gestopft hätte. Aber Frau Geiermann blieb penetrant lange unter ihrer offenen Wohnungstüre stehen.
Als Doro endlich die U-Bahn erreichte, wurde es höchste Zeit. Vermutlich wartete Maria bereits im Aurora auf sie.
Das Lokal konnte man zur Mittagszeit getrost als Nobel-Fastfood-Schuppen bezeichnen. Wer hierher zum Lunch kam, wollte nur «etwas Kleines, dafür Feines», wie Doro oft spöttelte. Ausgesprochene Kalorienbomben waren im Aurora verpönt. Dafür war die Hamburgerkette zuständig, die ihre Köstlichkeiten nur zwei Häuserecken weiter feilbot. Allerdings hätte der Durchschnittsgast des Aurora dort niemals seine Schritte hingelenkt.
Maria saß am gewohnten Tisch. Hinten neben der Bar, aber so nah am Fenster, daß sie auch die Passanten draußen beobachten konnte. Und gleichzeitig die Jungs am Tresen im Auge behielt. Außerdem war es von hier aus ein Katzensprung zum Damenklo. Und das wiederum brauchte Maria immer kurz vor dem Aufbruch. Nicht etwa aus dem naheliegendsten Grund, sondern weil sie ihre Fassade renovieren wollte. Make-up, Lippenstift und Rouge lagen griffbereit im Handtäschchen. Als Autoverkäuferin eines großen Nobelschlittenhauses wußte sie, was sie ihren gutbetuchten Kunden schuldig war.
Doro ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Maria fallen.
«Rate mal, wer heute morgen der erste Anrufer war, noch vor dir ...»
Maria seufzte gekonnt. «Ist denkbar einfach. Ivan vermutlich. Der Kerl ist von einer unglaublichen Penetranz, der merkt nie, wenn sein Typ nicht erwünscht ist!» – angewidert rümpfte sie ihr gepudertes Näschen. Allein der Gedanke an Ivan ließ Marias Laune offenbar auf den Nullpunkt sinken.
«Falsch! Es war der liebe Eberhard.»
«Ach! Na, das war ja eigentlich logisch.»
Doro wußte, daß Maria sich jetzt ärgerte, weil sie nicht von selbst darauf gekommen war. Logik gehörte nach Marias Meinung nämlich zu ihren hervorstechendsten Charaktermerkmalen. Andere Frauen hielt sie dagegen häufig für «unlogisch», oder sogar noch schlimmer, für «emotional»!
«Habt ihr euch etwa doch wieder versöhnt? Und mir hältst du noch einen Vortrag, daß es mir die Sprache verschlägt ...»
«Wo denkst du hin! Weißt du, was der Mann mir heute morgen am Telefon allen Ernstes angeraten hat? Ich solle mich künstlich befruchten lassen!» – die Sache mit dem Ötzi-Sperma behielt Doro lieber für sich. Man wußte nie, auch bei der besten Freundin nicht, ob sie immer den Mund hielt. Und irgendwann machte dann womöglich das Gerücht die Runde, Doro bilde sich ein Kind von einer 5000 Jahre alten Mumie ein.
Die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer solchen Story läßt bisweilen die Lichtgeschwindigkeit vor Neid glatt erblassen!
Eigentlich hatte Doro eine spontane Antwort von seiten Marias erwartet. Aber die starrte nur in die Speisekarte.
«Was hältst du von gebratenen Gambas auf Rucolasalat? »
«Oh, ich schätze, das ist okay!» sagte Doro lässig.
«Wenn du lieber was anderes möchtest ...?»
«Nein, nein, wirklich nicht!»
Maria winkte die Bedienung heran und gab die Bestellung auf. Doro wußte, daß sie das gerne tat. Ebenso wie sie hinterher selbstverständlich die Rechnung beglich.
Maria war eine gutverdienende Powerfrau, die mindestens drei Kreditkarten spazierentrug. Soviel Erfolg wollte natürlich von Zeit zu Zeit auch vorgeführt werden. Von ihren wechselnden Liebhabern erwartete Maria andererseits schon, daß die selbst genügend Kleingeld besaßen, um sich eine anspruchs- und niveauvolle Frau wie sie leisten zu können. Eventuell auch als Ehegattin! Ein solcher Mann hätte aber niemals zugelassen, von Maria eingeladen zu werden. Also zeigte sich Maria ihrerseits gerne ihren weniger erfolgreichen Freundinnen gegenüber als großzügig.
Der einzige Mann, der nach Doros Wissen einmal die Chuzpe besessen hatte, sich von Maria die Rechnung bezahlen zu lassen, war der gute Ivan gewesen. Dabei hatte er weder mit der Wimper gezuckt, noch sich hinterher überschwenglich bedankt. Seither war Maria geradezu fanatisch davon überzeugt, daß Ivan ein anarchistischer Schmarotzer sei.
Doro dagegen hatte sich in der Folge damit abgefunden, daß ihre beste Freundin anscheinend nicht nur überemanzipiert, sondern auch leicht neurotisch war. Und ihr bester Freund im Gegenzug dazu ein chaotischer, intellektueller Querkopf. Die beiden würde sie wohl nie in einen Topf bekommen, sagte sich Doro. Aber es gab schließlich Schlimmeres im Leben.
Die Bedienung war noch in Hörweite, als Maria loslegte.
«Also, das mit der künstlichen Befruchtung ist gar keine so schlechte Idee, Doro!»
«Was ...?»
«Na, überleg doch mal! Du bist jetzt immerhin fünfunddreißig, willst angeblich ein Jahr pausieren, dann bist du sechsunddreißig. Ob anschließend gleich der richtige Mann auf der Matte steht, ist eher fraglich. Und schwupps, wirst du auch schon vierzig, das geht rasant. Ab diesem Zeitpunkt wird es dann allmählich wirklich eng, meine Liebe! Wir Frauen sind da in der deutlich schlechteren Ausgangsposition.»
Doro beguckte sich interessiert die Dessertkarte und gab keine Antwort. Was Maria nicht weiter zu stören schien.
«Ich meine es ernst, Doro!» sagte sie langsam und überdeutlich, «noch magst du ja sehr attraktiv sein und alles, aber auch deine Sanduhr läuft ab!»
Das mit der Sanduhr gefiel Doro. «Prima», lachte sie. «Eine Sanduhr braucht man nur umzudrehen, und das Spiel beginnt von vorne. Im übrigen – wie alt bist du selbst, Maria? Siebenunddreißig, nicht wahr. Hast du etwa Torschlußpanik?»
«Schrei nicht so! Die Leute gucken ja schon», wies Maria die sichtlich erheiterte Doro in die Schranken. «Ich habe bloß nachgedacht. Wie du auch, wenn ich dich an deinen Vortrag von heute morgen erinnern darf. Dabei bin ich eben zu einem geringfügig anderen Schluß gekommen. Aber natürlich weiß ich auch, daß auf Männer im Zweifelsfall kein Verlaß ist ...» – sie brach ab. Pause. Doro wartete einfach.
Und dann ließ Maria die Bombe hochgehen ...
«Wir beide hatten mal vor Jahren eine Zeitlang denselben Lover. Hast du das eigentlich wirklich nicht gewußt, Doro?»
Zum Glück erschien in diesem Moment die Bedienung mit den beiden Portionen Gambas. Das gab Doro etwas Zeit, um wieder in die Gänge zu kommen. Sie schob sich eine der gebratenen Minigarnelen in den Mund und begann konzentriert zu kauen.
«Na?» fragte Maria. Ihr Tonfall klang irgendwie lauernd.
«Was na?» brachte Doro heraus, «ich weiß von nichts.»
«Tatsächlich! Na ja, Johannes wollte ja auch partout nicht, daß du es erfährst, damals. Ich habe mir erst viel später eingestanden, wie feige und erbärmlich der Typ war!»
Doro verspürte eine gewisse Erleichterung. Weil es sich um Johannes drehte und nicht um Mark oder gar Sebastian! Dabei hätte sie letzteren noch am ehesten im Verdacht gehabt. Der war immer gerne zweigleisig gefahren. Johannes war im Grunde genommen ein ausgesprochenes Weichei gewesen und kein besonders toller Liebhaber obendrein. Maria hatte da keinen guten Fang gemacht, soviel stand fest.
Doro überlegte kurz und kam zu dem Schluß – in diesem speziellen Fall konnte sie ruhig Großzügigkeit zeigen.
«Johannes war ein Waschlappen», sagte sie heiter, «ich war froh, als ich ihn los war. Und du solltest das auch sein!»
«Das bin ich! Ich dachte nur eben, heute und jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um es dir ganz spontan zu beichten. Daß er und ich, während gleichzeitig du und er ... Soviel zum Thema, wie wenig frau sich auf die Männer verlassen kann heutzutage!» – Pause. Dann: «Ich könnte mir vorstellen, daß du eine gute alleinerziehende Mutter wärst, Doro.»
«Ich denke gar nicht daran. Ich genieße jetzt erst mal mein männerloses Jahr. Punkt. Übrigens, apropos Männer! Ivan ist kein solcher Schweinehund wie Johannes. Auf den ist Verlaß, hundertprozentig. Wenn der eine Frau liebt, dann ehrlich und ausschließlich. Du solltest vielleicht bei Gelegenheit mal ein bißchen freundlicher zu ihm sein. Ich glaube nämlich, daß er dich im Grunde sehr gern hat, Maria!»
«Die Rechnung, bitte!» Maria winkte der Bedienung.
Erst als sie beide schon draußen auf der Straße standen, bekam Doro eine Antwort.
«Ich mag ja deiner Meinung nach gerade in einer Midlife-crisis stecken. Und wie du genau weißt, habe ich im Moment auch keinen Liebhaber. Aber Ivan ... Nein, das schwöre ich dir bei meinem Leben, der kommt nicht in Frage! Niemals! Allerdings, wenn ich nicht mein eigenes Geld hart verdienen müßte, ein Kind hätte ich tatsächlich ganz gerne. Nur leider kommt auch hierfür dieser Kerl nicht in Frage. Der ist mir schlichtweg zu blöd. Wer weiß, was dabei rauskäme – » Maria setzte ihre Sonnenbrille auf –, «aber das mit der künstlichen Befruchtung wäre schon eher was für mich.»
Damit machte Maria kehrt, winkte Doro zum Abschied kurz zu und entschwand. In Richtung Autosalon.
Doro aber stand da und dachte daran, daß sie an diesem frühen Nachmittag des 13. September neben ihren zähen Gambas nun noch so einiges zu verdauen hatte!
Ziellos schlenderte sie anschließend durch die Stadt. Guckte in Schaufenster, kaufte sich ein Paar Schuhe und ein Buch. Männer lassen lieben – Doro wußte selbst nicht, warum gerade dieser Titel sie plötzlich so magisch anzog.
Als sie aus dem Buchladen trat, stolperte Doro beinahe über Sebastians lange Beine.
Sie starrten sich sekundenlang verblüfft an. Dann riefen sie fast gleichzeitig: «Mensch, was machst du denn hier? Das ist vielleicht eine Überraschung!»
«Langsam, immer schön der Reihe nach», sagte Doro schließlich, «ich dachte, du lebst in Kalifornien, Sebastian? »
«Ich bin schon seit zwei Jahren wieder hier.»
«Oh, das wußte ich nicht.»
Natürlich nicht! Blöde Antwort, dachte Doro gleichzeitig. Warum hätte er sich bei mir melden sollen? Schließlich hatte er mich damals verlassen. Wegen dieser Frau, wobei er unnötigerweise auch noch draufsetzen mußte, daß ihm meine Anhänglichkeit lästig geworden war. Dabei war ich erst knapp zwanzig und wahnsinnig verliebt. Was konnte er da anderes erwarten? Außerdem war er der erste Mann in meinem Leben ...
Sie hatte sich in all den Jahren oft ausgemalt gehabt, was passieren würde, sollte sie ihm noch einmal über den Weg laufen. Verführen hatte sie ihn wollen! Und anschließend wegschicken – oder vielleicht auch nicht, je nachdem.
Und jetzt? Siedendheiß fiel es ihr ein – ihr Gelübde!
Selbst wenn sie wollte, sie durfte nicht! Gelübde waren einzuhalten, unbedingt. Sonst konnte man es ja gleich sein lassen. Sie würde nicht schwach werden. Dieses Mal nicht.
«Verdammt», sagte sie, «warum sind wir uns nicht letzte Woche oder wenigstens vorgestern über den Weg gelaufen? »
Sebastian lachte. Doro stellte fest, daß er fast noch besser aussah als früher. Die angegrauten Schläfen standen ihm.
«Heute ist ein Tag, so gut wie jeder andere auch», sagte er, «oder hast du etwa keine Zeit für eine Tasse Kaffee? »