Читать книгу Mein geniales Leben - Jenny Jägerfeld - Страница 13
AUS DER RATTE WURDE EIN KANINCHEN
Оглавление»Hallo, du …«
Ich sah vom Skizzenblock auf. Vor mir stand Krille Marzipan in hellgrauem Blazer und dazu passender Hose. Auch er mit einem Block und einem Bleistift in der Hand. Er kratzte sich mit der Bleistiftspitze am Kopf.
»Äh … Sigge. Heißt du eigentlich Sigvard oder Sigurd?«
»Nichts von beidem. Einfach Sigge.«
»Einfach Sigge? Komisch.«
» … nicht besonders komisch.«
»Einfach Sigge, sagst du.«
»Ja.«
»Aha.«
Hm. Diese Konversation führte nirgends hin. Ich schaute wieder auf meinen Block. Mein Entwurf sah sehr gut aus, wie ich zufrieden feststellte. Vielleicht würde das hier meine erste voll funktionierende Erfindung werden! Ich hatte ja schon vorher Sachen erfunden, aber das waren einfache Dinger gewesen. Kinkerlitzchen. Nicht wie das hier!
Meine Idee war, dass man mit der umgeschnallten Harpune Inliner fahren sollte. Die Harpune wäre mit zwei Riemen vor den Bauch geschnallt. Dann könnte man den Pfeil der Harpune zum Beispiel in einen Baumstamm schießen. Am Ende des Pfeils wäre eine Schnur befestigt. Als Schnur würde ich Einsteins Roll-Leine nehmen. Die bestand aus einer Kapsel, in der eine aufgerollte Leine war. Wenn Einstein schnell davonrannte, wurde die Leine aus der Kapsel gezogen. Es gab auch einen Knopf, mit dem wurde die Leine gestoppt, dann konnte sie weder raus- noch reingezogen werden. Aber wenn man ein zweites Mal auf den Knopf drückte, fuhr die Leine blitzschnell wieder in die Dose zurück. Weil Einstein so groß und stark war (er wog fünfundfünfzig Kilo!), hatte er eine sehr kräftige Roll-Leine, was für meine Erfindung echt gut war.
Die Kapsel würde ich an der Harpune befestigen. Und wenn der Pfeil der Harpune in den Baum geschossen wurde, würde die Leine aus der Dose hinausflutschen. Und wenn man dann auf den Knopf drückte, glitt die Leine schnell wieder hinein, und man wurde ohne die geringste Anstrengung zum Baum gezogen! Das würde mir bei Steigungen helfen und bei langen, geraden Strecken. Ich war ein Genie!
Nach reiflicher Überlegung hatte ich die Erfindung auf den Namen Arrow sparrow getauft! Arrow bedeutet Pfeil auf Englisch, und sparrow bedeutet Sperling. Der Sperlingspfeil. Wenn man ihn benutzte, sollte es ein Gefühl sein, als würde man fliegen wie ein Vogel.
»Hast du eine Ahnung, wo Charlotte ist?«, fragte Krille.
»Die ist im Schuppen.«
Ich deutete auf den Geräteschuppen, aus dem dumpfes Poltern drang. Dann wurde offenbar etwas Schweres über den Schuppenboden gezogen.
»Aha?«
»Ja.«
Im selben Moment ging die Tür des Schuppens auf und eine alte weißgestrichene Holztür wurde herausgewuchtet. Ich sah Omas Hände mit den langen rosa Fingernägeln, aber die ganze übrige Oma war hinter der Tür versteckt. Dann ließ sie die Tür plötzlich los, worauf die mit einem lauten RUMMS auf dem Boden landete und Staub und Holzsplitter hochwirbelten. Dahinter stand Oma in einem leuchtend blauen Pulli und zebragestreiften Leggings. Oma weiß echt, wie man einen perfekten Auftritt hinlegt, das muss man ihr lassen.
»Good morning, Krister! In zehn Minuten bin ich fertig! Setz dich solange hin und erzähl Sigge von deinem aufregenden Leben!«
Bitte nicht. Ich schloss die Augen und verdrehte sie. Das mache ich nie bei offenen Augen. Möchte nicht, dass jemand das sieht und dann traurig wird.
Krille trat ein paarmal hin und her und nahm dann auf dem Stuhl mir gegenüber Platz. Eine verwelkte lila Fliederblüte hing hinter ihm aus dem Busch und legte sich wie eine kleine Baskenmütze auf seinen Kopf. Er wischte ein wenig Pollenstaub vom Tisch.
»Ich habe gerade eine fabelhafte Idee für einen Film gehabt«, sagte er.
»Aha.«
»Willst du sie hören?«
Am liebsten hätte ich gesagt »lieber nicht«, aber das kam mir unhöflich vor.
»Okay.«
Er strahlte übers ganze Gesicht.
»Großartig! Also. Die Hauptperson in dieser Geschichte soll Basil Hollinghurst heißen.«
Plötzlich kam Bobo angetrottet.
»Hallohallo«, sagte sie und kletterte neben mich auf die Bank.
Krille fuhr fort:
»Basil Hollinghurst lebt in London und arbeitet für eine der wichtigsten Nachrichtensendungen im englischen Fernsehen. Er ist Nachrichtenmoderator.«
»Ratte?«, sagte Bobo neugierig.
»Nein, Boel, Nachrichtenmoderator«, sagte Krille. »Das ist eine der wichtigsten Personen in einer Nachrichtensendung. Sie schenkt der Sendung Glaubwürdigkeit und Gewicht.«
Bobo sah Krille Marzipan mit großen Augen an.
»Das ist einer, der im Fernsehen arbeitet«, erklärte ich.
»Ratte?«, sagte Bobo.
»So ungefähr«, sagte ich und schaute auf meine Zeichnung. Radierte zwei der Räder an den Inlinern aus und fing neu an.
Bobo nahm einen Stift und wollte auch auf meinem Papier zeichnen.
»Nein, Bobo, das hier ist meins. Du kriegst ein eigenes Blatt.«
Ich riss eine Seite aus dem Skizzenbuch und gab sie ihr. Bobo begann zu zeichnen: einen großen runden Kreis, der Augen bekam, dazu Hände mit abgespreizten Fingern. Krille Marzipan redete weiter.
»Basil Hollinghurst ist ein seriöser Mann. Eine Säule der Gesellschaft.«
Ich hob den Kopf. Krilles Augen leuchteten.
»Er war nie in einen Skandal verwickelt. Er trinkt keinen Alkohol, er raucht nicht.«
»Klingt nach einem fürchterlich langweiligen Kerl!«, bemerkte Oma, die mit ihrer Arbeit inzwischen wohl fertig war. Sie setzte sich neben Krille Marzipan und steckte sich eine Zigarette an.
»Ich erzähle Sigge von meiner Filmidee«, erklärte Krille.
»Nun, da möchte ich nicht stören. Erzähl ruhig weiter!«
»Soll ich noch einmal von vorne anfangen?«
»Nein, nein, das ist wirklich nicht nötig!«, wehrte Oma rasch ab.
»Bist du sicher? Okay. Also. Nachts …«
Krille erhob sich und breitete die Arme aus. Seine Stimme wurde dramatisch.
»Da führt Basil Hollinghurst ein anderes Leben! Da ist er unterwegs und trifft schöne Frauen! Geht mit ihnen aus, ins Theater, in die Oper. Er ist ungeheuer beliebt.«
Plötzlich erwachte mein Interesse.
»Aha«, sagte ich. »Warum ist er so beliebt?«
»Nun«, sagte Krille. »Er sieht gut aus, er ist reich. Und kolossal charmant.«
Neben meine Skizze notierte ich: Sieht gut aus. Reich. Charmant.
»Aber Basil Hollinghurst ist ein Lügner!«, fuhr Krille fort. »Er verspricht den Damen ein Luxusleben. In Saus und Braus! Teure Reisen, Schmuck, Autos. Er macht drei Frauen gleichzeitig den Hof. Zufällig sind alle drei Ärztinnen. Chirurgen. Aber sie wissen nichts voneinander.«
»Gujken«, sagte Bobo.
»Nein, nicht Gurken«, sagte ich. »Chirurgen. Das sind Ärzte, die operieren, wenn Leute sich verletzt haben und so.«
Krille Maräng streckte seinen langen, dünnen Zeigefinger in die Luft.
»Hört jetzt zu! Basil Hollinghurst verspricht jeder Einzelnen von den dreien, sie zu heiraten, verspricht ihnen, sie in seinem Schloss wohnen zu lassen, ein Schloss, das nur in Basils Fantasie existiert. Er verspricht ihnen alles! Aber durch einen Zufall erfahren sie, was Basil wirklich treibt, und da werden sie vollkommen rasend vor Wut! Sie beschließen, sich zu rächen.«
»Aber«, sagte ich, »ist es nicht ein bisschen seltsam, dass alle drei Chirurginnen sind? Aus purem Zufall?«
»Genau!« Oma deutete so eifrig mit der Zigarettenhand auf mich, dass Asche auf mein Papier fiel. »Guter Einwand, Sigge!«
Ich grinste und wischte die Asche weg. Das Rad an dem einen Inliner wurde trotzdem ganz gut. Ich begann es mit Gelb auszumalen.
»Ja, ja, aber jetzt ist es nun mal so!«
Krilles Stimme klang leicht angespannt. Ich ahnte, dass er keine weiteren kritischen Fragen wünschte.
»Jedenfalls«, fuhr er sehr laut fort. »Eines Abends, als Basil Hollinghurst mit einer der chirurgischen Damen bei einem romantischen Dinner sitzt, betäubt sie ihn. Sie presst ihm eine in Chloroform getränkte Serviette gegen Nase und Mund! Schwer wie ein Stein fällt er zu Boden. Zu dritt befördern die Frauen ihn ins Auto. Sie fahren direkt ins Krankenhaus, in die Chirurgie, und legen ihn auf eine Pritsche! Man sieht, wie das erste Skalpell gezückt wird, dann die rachelüstern lächelnden Gesichter.«
Krille schwang ein unsichtbares Skalpell durch die Luft.
»Als Basil aufwacht, ist sein ganzer Kopf bandagiert! Er fängt an, den Verband abzuwickeln, und muss feststellen, dass er umoperiert worden ist! In ein Kaninchen! Die Ohren! Die Zähne! Ein winziges Schnäuzchen! Das ganze Gesicht voller Fell!«
»Kaninsche!«, verkündete Bobo lachend und sah von ihrer Zeichnung auf.
Vom Mund des Kopffüßlers ging inzwischen ein Strich ab, aus dem wirbelnder Rauch aufstieg.
»Aus der Ratte ist ein Kaninchen geworden«, erklärte ich.
»Oh dear!« Oma tat einen langen Zug an ihrer Zigarette.
»Warum ausgerechnet ein Kaninchen?«, fragte ich.
Krille sah mich mit gerunzelter Stirn an.
»Also«, fuhr ich fort, »ich meine ja nur, warum nicht ein weniger niedliches Tier? Ein Otter oder ein Alligator, zum Beispiel, oder vielleicht eine Ratte? Die wollen ihn doch bestrafen. Da sollte er wohl nicht unbedingt niedlich aussehen?«
»Hm … ja, hast an und für sich recht.«
Krille zog den Block aus der Gesäßtasche und machte sich ein paar Notizen.
»Wie soll Basil jemals wieder als Moderator arbeiten können? Wer kann einen Sprecher, der wie ein Otter aussieht, ernst nehmen?«
»Ottej?«, sagte Bobo.
»Vielleicht ist die Ratte kein Kaninchen geworden, sondern ein Otter«, flüsterte ich.
»Ratte«, sagte Oma. »Ratte ist am besten. Unsympathisches Aussehen, du weißt schon. Wer mag schon eine Ratte?«
»Und was passiert dann?«, fragte ich.
Krille starrte mich an.
»Nachdem Basil operiert worden ist?«
Kurz wurde es ganz still.
»Äh … tja, darüber hab ich noch nicht so richtig nachgedacht«, sagte er dann.
»Trotzdem ein guter Anfang«, sagte ich ermunternd und begann die Harpune zu kolorieren.
»Ratte?«, fragte Bobo neugierig.
»Das ist noch nicht ganz geklärt«, sagte Oma. »Vorläufig unklar.«
Sie beugte sich über Bobos Zeichnung.
»Na so was! Hast du mich da gezeichnet, Boel? Mit Zigarette und allem Drum und Dran? Das müssen wir rahmen! Du bist ja ein künstlerisches Genie, Darling! Aber bei so einem Modell kann es natürlich nur ein Meisterwerk werden, nicht wahr!«
Sie zwinkerte Bobo mit einem Auge zu, und Bobo lächelte so begeistert, dass ihr der Schnuller aus dem Mund fiel.