Читать книгу Die Stalkerin - Jens Brambusch - Страница 4
Marmaris, 24. Mai, 6.15 Uhr (vier Wochen später)
ОглавлениеFriedlich sieht sie aus, die ‚New Life‘. Wie sie da so dümpelt in der gerade aufgehenden Sonne. Ein Bild wie aus dem Urlaubskatalog. Weiße Yacht auf glitzerndem Wasser unter blauem Himmel. Klischee pur. Die Ankerkette fällt senkrecht in die See, hängt wie ein Lot am Bug. Der schwarz-rot-goldene Adenauer baumelt schlaff am Heck. Die Bucht von Marmaris ist an diesem frühen Morgen wie glattgebügelt. Nur hier und da streichelt eine sanfte Bö das Meer, wirft Rauten auf das kristallklare Wasser. Bob, ein kleiner gedrungener Brite mit schiefen Zähnen und Nickelbrille, ist auch schon wach. Das sieht Peter Parker aus dem vierten Stock des klobigen Gebäudes durch das Fenster mit dem Sicherheitsglas, als er den Blick über die Bucht schweifen lässt.
Wenn Parker aber direkt in die Scheibe schaut, dann sieht er sein Spiegelbild, das ihm immer noch fremd erscheint. Besonders an diesem außergewöhnlichen Morgen. Er sieht einen Mann, der schon viel zu lange nicht mehr beim Friseur war. Aus dem Dreitagebart, den Parker trägt, seit sich ein zarter Flaum auf seinem Gesicht gebildet hat, ist ein Dreimonatsbart mit weißen Stellen geworden, wild und struppig wie ein Busch am Wegesrand. Seine blonden Haare erinnern an das Fell eines räudigen Straßenköters. Wo früher überteuertes Haarwachs einen akkuraten Seitenscheitel fixierte, pappt jetzt Salzwasser und Schweiß die Strähnen zusammen. Das wulstige Nackenhaar sieht aus wie ein aufgeplatztes Kopfkissen. Parkers Gesicht ist schmaler geworden, kein Wunder, hat er doch sechs Kilo verloren, seit er Hamburg den Rücken kehrte. Noch gestern Abend, in einer Bar, hatte er sich im Spiegel hinter dem Tresen begutachtet, und das was er sah, gefiel ihm. Durch die Bräune in seinem Gesicht wirkten seine Augen noch markanter, strahlten hellblau wie kleine Atolle im Pazifik. Er fühlte sich verwegen, ein bisschen wie Raimund Harmstorf in ‚Der Seewolf‘, nur nicht mit einem ganz so breiten Kreuz. Aber hätte er eine rohe Kartoffel gehabt, er wäre sicher gewesen, sie mit einer Hand zerquetschen zu können.
Jetzt, keine zehn Stunden später, erschreckt er sich vor dem Antlitz in der Fensterscheibe. Seine Augen haben ihre Strahlkraft verloren, das Feuer, das in ihnen loderte, ist in dunklen Höhlen erstickt. Die Selbstsicherheit, die er gestern noch ausstrahlte, ist Unsicherheit gewichen. Am Abend zuvor hatte er sich wie ein Ausrufezeichen gefühlt. Aufrecht und stark. Aber jetzt steht er da, mit gekrümmtem Rücken und hängenden Schultern, zweifelnd wie ein Fragezeichen. Was hat das alles nur zu bedeuten?
Durch das Fenster beobachtet er, wie Bob in seinem blauen Polohemd mit dem eingestickten Bootsnamen ‚Victoria’ ungelenk in sein Beiboot klettert. Senile Bettflucht, vermutet Parker. Aber dann fällt ihm ein, dass heute Sarahs Geburtstag ist. Ihr sechsundsechzigster. Das hatte er sich merken können, Udo Jürgens sei Dank. Er hatte sogar versucht, bereits beschwipst, ihr das Lied vorzusingen, dabei war Singen noch nie seine Stärke gewesen. Und mehr als den Refrain brachte er auch nicht zusammen: „Mit 66 Jahren da fängt das Leben an, mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran.“ Parker hoffte, dass Sarah und Bob an diesem Tag mehr Spaß haben würden, als er.
Die beiden Rentner hatten ihn zu sich an Bord eingeladen, um sich dafür zu entschuldigen, dass sie bei ihrem missglückten Ankermanöver die Kette der ‚New Life‘ aus dem Grund gerissen hatten. Das war vor vier Tagen. Wahrscheinlich will Bob zu dieser kleinen Simit-Bäckerei am Ende des Basars, an der sich schon früh morgens eine Menschenschlange in einer Wolke von geröstetem Sesam bildet, und Sarah zu ihrem Ehrentag mit einem leckeren Frühstück überraschen, denkt Parker. Warum sollte er auch sonst im Beiboot rudern, anstatt den knarzenden Außenborder anzuwerfen? Mindestens drei Mal hatte Sarah ihn an diesem Abend vor vier Tagen gefragt, ob er die Simit-Bäckerei kenne. Sie wirkte auf Parker ein bisschen senil. Vielleicht lag es aber auch an den großzügig eingeschenkten Gin & Tonic, die Sarah genauso zu lieben schien wie die britischen Royals, denn alle Gläser und Tassen an Bord trugen das Konterfei der Queen - oder wahlweise das von Prinz William mit seiner Kate. Jedenfalls schien die Simit-Bäckerei Sarahs ultimativer Tipp für Marmaris zu sein. Dreimal hatte Parker verneint, die Bäckerei zu kennen, dreimal aber gesagt, dass er unbedingt dorthin gehen müsse. Nicht einmal war er seitdem dort gewesen.
Auf den anderen Booten, fünfundzwanzig oder dreißig dürften es sein, die vor dem kleinen Stadtstrand die Nacht vor Anker verbracht haben, ist noch niemand an Deck zu sehen. Kein Wunder, dass alle noch schlafen, denkt Parker. Die stumpfen Bässe der Clubs in der Bar-Street haben bis früh in den Morgen gewummert und die friedliche Bucht in eine ohrenbetäubende Freiluftdisco verwandelt.
Ob wohl jemand der anderen Segler das Drama in der Nacht an Bord der ‚New Life‘ mitbekommen hat, schießt es Parker plötzlich durch den Kopf. Er fragt sich, ob das gut oder schlecht wäre? Einerseits wüsste dann zumindest jemand, dass die türkische Polizei ihn einkassiert hat und könnte irgendwen anrufen. Aber wen? Ihm fällt nur die Deutsche Botschaft als Antwort ein. Andererseits geht er von einem Irrtum aus, der sich rasch aufklären wird, sobald endlich jemand durch diese verdammte Tür tritt, die mit einem schweren Scheppern hinter ihm ins Schloss gefallen war. Auf das Getuschel der anderen Segler und die Gerüchteküche konnte er gut verzichten. Obwohl? Kurz huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Eine Nacht in einer türkischen Zelle ist sicher eine nette Anekdote beim nächsten Bier in einer Bar.
Wie spät es wohl ist? Parker schaut instinktiv auf sein Handgelenk. Dort, wo er sonst seine Breitling Superocean trägt, ist nur ein weißer Streifen auf gebräunter Haut. Wahrscheinlich liegt sie noch neben seinem Bett in der Achterkabine. Alles ging so schnell, als die Polizei kurz nach Mitternacht an Bord stürmte. Gerade hatte er sich unter das dünne Laken gelegt, in Vorfreude auf ein paar Minuten Entspannung. Sein Laptop hatte er mit dem WLAN des kleinen Cafés am Ufer verbunden, nach dem er am Nachmittag so lange gesucht hatte, weil das Signal bis auf sein Boot reichte - und sich das Passwort mit einem kleinen Snack erkauft. Kaum hatte er den Computer hochgefahren und das Filmchen gestartet, hörte er auch schon die Schraube eines Motorbootes, das schnell näherkam. Erst regte er sich über den Idioten auf, der durch das Feld der Ankerlieger brauste, dann erschrak er, als etwas an seine Bordwand rumste. Kurz darauf hörte er Schritte an Deck, gefolgt von einem energischen Klopfen am Niedergang und dann seinen Namen, den jemand rief. Erschrocken schlug er das Laptop zu, da hatte sich die ‚Hauptdarstellerin‘ gerade rücklings auf den Küchentisch gelegt. Er schlüpfte in seine schwarzen Boxershorts, die vor dem Bett lagen, und als er aus der Achterkabine trat, sich an der Pantry entlang schlängelte, da standen schon zwei Polizisten im Salon. „Mr. Parker?“, fragte einer der Beamten mit ernster Miene: „Peter Parker?“ Der andere Polizist stand etwas hinter seinem Kollegen, die Hand am Halfter, Parker mit den Augen fest fixiert. Parker nickte nur. Und dann ging alles sehr schnell.
Parker durfte sich noch anziehen, in Shorts, T-Shirt und Sandalen schlüpfen, und seinen Ausweis, die Bordpapiere, das Smartphone und sein Laptop einpacken. Er protestierte, weil er es als anmaßend empfand, dass die Küstenwache wie bei einer Razzia sein Boot mitten in der Nacht stürmte, nur um seine Papiere zu kontrollieren. Erst als die Beamten ihm Handschellen anlegten und in das schwarze Schlauchboot mit den vielen PS verfrachteten, wurde ihm schlagartig klar, dass es sich nicht um eine Routinekontrolle handeln konnte.
Als das Schlauchboot nach einer kurzen Fahrt das Ufer erreichte, unweit des fünfstöckigen Polizeigebäudes an dem kleinen Kanal, der das Wasser aus den Bergen durch die Stadt in das Meer leitet, da nahmen sie ihm erst all seine Habseligkeiten ab und steckten ihn dann in eine kleine Zelle mit nichts als einer harten Pritsche und einem dreckigen Waschbecken aus Blech. Ein Irrtum, beruhigte sich Parker. Es muss sich um einen Irrtum handeln. Etwas anderes kam ihm nicht in den Sinn. Ja, er hatte sich eines Abends in einer Bar missmutig über die Politik des Landes ausgelassen. Aber er war nicht ausfallend geworden. Zumindest konnte er sich daran nicht erinnern. Er hatte natürlich mal wieder ziemlich gebechert. Oder war man ihm etwa auf die Schliche gekommen, dass er zwischen Griechenland und der Türkei mit seinem Schiff mehrmals hin- und hergependelt war, ohne offiziell ein- und auszuklarieren. Aber das machten doch viele Segler, auch wenn es eine EU-Außengrenze war? Der behördliche Aufwand schien Parker schlicht zu groß, die Kosten zu hoch und die Distanz zwischen dem türkischen Festland und den griechischen Inseln zu gering, um nicht der Versuchung des kleinen Grenzverkehrs zu erliegen. Auch wenn es illegal war. Pendeln zwischen Ouzo und Raki, zwischen Gyros und Döner, zwischen Euro und Lira. Das machte doch den Reiz des Reviers aus!
Parkers Hirn ratterte, jedes mögliche Szenario ging er im Geiste durch. Warum hatte die Polizei ihn nur verhaftet? Hielten die ihn etwa für einen Schmuggler? Kurz überlegte er, wer in letzter Zeit bei ihm an Bord war und theoretisch die Gelegenheit hatte, irgendwo ein Päckchen mit Drogen zu verstecken. Praktisch fiel ihm niemand ein, dem er das zutraute. Oder hatte er etwa irgendeinen Blödsinn angestellt, an den er sich nicht mehr erinnern konnte? Schließlich hatte er immer noch hin und wieder diese Aussetzer. Manchmal wachte er am Morgen auf und konnte den Vorabend nicht mehr rekonstruieren. Das machte ihm Angst. Zunächst dachte er an Alzheimer. Ein Horrorszenario für ihn, nicht mehr Herr der eigenen Sinne zu sein. Er dachte an seinen Großvater, der die letzten Jahre seines Daseins in einem Heim dahinsiechte und Blödsinn brabbelte. Aber dann hatte Parker die gefährliche Wechselwirkung seiner Medikamente mit Hochprozentigem als Ursache für seine Aussetzer ausfindig gemacht. Das Ergebnis dieser unheilvollen Allianz sind ein Filmriss, gepaart mit einem Kater, der größer ist als eine Savannah-Katze.
Wie an diesem einen Morgen in Bodrum, vergangenes Jahr im Herbst, als er aufwachte und den dröhnenden Kopf nur nicht spürte, weil seine Rippen so viel mehr schmerzten. Er kroch gebückt in das Badezimmer der ‚New Life‘ und als er vor dem Klo stand und pinkelte, sah er in dem Spiegel, den die vielen Jahre haben ermatten lassen, in ein blaugrün geschwollenes Gesicht, violett das rechte Auge, die Lippe aufgeplatzt und schorfig. Er sah aus wie vom Mast gefallen. Er blickte auf ein menschliches Wrack, so unendlich viel älter als seine 45 Jahre es vermuten ließen. Aus den Lachfältchen um seine Augen waren tiefe Furchen geworden. Er erkannte sich kaum wieder und hatte noch weniger Ahnung, was geschehen war. War er etwa im Suff gestürzt? Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er einen Grund hatte, zu feiern. Und daran, wie er loszog in die Bars. Der Rest war Nebel.
Als er verdattert ins Bett zurückschlich, krumm vor Schmerz, da sah er unter dem weißen Laken ein nacktes Bein hervorlugen. Ein langes, schlankes Bein, das an einem strammen Po endete. Das Bein gehörte Tanja, einer jungen Ukrainerin, nicht viel älter als 20, mit langen blonden Haaren, hohen Wangenknochen und falschen Brüsten. Parker hätte unter Eid ausgesagt, sie noch nie im Leben gesehen zu haben. Dabei hatten die beiden einen langen Abend und eine wilde Nacht miteinander verbracht. Als Dankeschön für sein Heldentum, weil Parker beherzt eingegriffen hatte, als Tanjas Freund sie in einem Club unterhalb der Festung aus heiterem Himmel geohrfeigt hatte. Angeblich flirtete sie fremd, als die flache Hand in Tanjas Gesicht klatschte. Parker stand zufällig daneben, schützend drängte er sich zwischen das streitende Paar, redete erst auf den Mann ein, schrie ihn dann an. Doch Maxim, Tanjas Freund, ein anabolikagestärkter Stiernacken, hatte keine Lust zu reden. Ansatzlos fand die Faust des kahlgeschorenen Kanisterkopfs ihren Weg in Parkers Gesicht, der benommen zusammensackte. Im Fallen traf ihn ein Haken an der Lippe und warf ihn auf den Rücken. Als Parker schon am Boden lag und Blut prustete, trat Maxim ihm noch einmal in die Rippen, als wäre Parker nicht schon da schachmatt gewesen. Noch bevor die Security Parker zur Hilfe eilen konnte, war Maxim durch die Menschenmenge getürmt und in den lauten Gassen der Altstadt verschwunden, durch die der Duft von gedrehtem Lammfleisch waberte und knapp bekleidete Mädels vor Bars und Clubs freie Wodka-Shots verteilten, um die letzten Touristen der Saison in die Läden zu kobern. Elektrobeats und Türkenpop eiferten aus mannshohen Boxen um die Wette, Stroboskope feuerten Blitze durch die Nacht. Parker sah noch andere Sterne.
Tanja war ganz entzückt von der Courage des Deutschen. Sie bedankte sich bei ihm erst mit einer Flasche Wodka, die sie mit der Kreditkarte ihres Freundes zahlte, später mit ihrem jungen Körper. Auch den hatte Maxim zum Teil finanziert. Das alles berichtete Tanja dem lädierten Parker am nächsten Morgen, nachdem sie sich erst vorgestellt hatte und bevor sie ihm zum Abschied noch einen blies. Dann ging sie zurück ins Hotel, zurück zu Maxim, ihrem Freund, weil der am nächsten Morgen immer alles bereue, wie sie sagte. Er sei nämlich kein schlechter Mensch. Er sei nur eifersüchtig. Ein Zeichen seiner großen Liebe, wie Tanja es interpretierte. Als Parker drei Stunden später wieder aufwachte, allein in seiner Koje, da glaubte er an einen schlechten Traum, wären da nicht die Schmerzen und Blessuren und Tanjas Tanga neben dem Bett.
Als die Polizei Parker in der Nacht abholte, ihm in das Schlauchboot half, weil seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren, blieben seine Fragen unbeantwortet. Keiner der vier Polizisten sprach Englisch. Oder Deutsch. Und Parkers jämmerliches Türkisch beschränkte sich auf Floskeln und ein paar Bestellungen im Restaurant. Als man ihn unter lautem Protest in die Zelle steckte, glaubte er aber herausgehört zu haben, dass er sich bis zum Morgen gedulden solle. „Yarın, yarın!“, hatte der Beamte gesagt. Den Ausdruck kannte Parker von den Handwerkern, die er beauftragte, immer wenn er Probleme an Bord hatte. Auch wenn nicht ein einziges Mal ein Handwerker tatsächlich am nächsten Tag erschienen war. In dieser Nacht hoffte Parker inständig, dass die Polizei da zuverlässiger ist.
Und tatsächlich, am nächsten Morgen, nach einer schlaflosen Nacht in der Zelle, sitzt er in diesem kargen Raum mit dem grau gesprenkeltem PVC-Belag, wie man ihn aus Krankenhäusern kennt, und sucht die Wände nach einer Uhr ab. Aber da ist nichts. Nichts außer der blanken Tischplatte auf dem Stahlgestell in der Mitte des Verhörraums, eingeschraubt in den Boden, an dem er auf einem der drei Stühle sitzt und bestimmt schon eine halbe Stunde wartet, seit sie ihn aus der Zelle geholt haben. Die Wände sind weiß verputzt. Außer dem Foto des aktuellen türkischen Präsidenten hängen keine Bilder oder sonstiger Wandschmuck an den Mauern, nicht einmal ein Abbild von Atatürk, dem ‚Vater der Türken‘ und Gründer der säkularen Republik. Und auch der obligatorische Spiegel, den Parker aus unzähligen Fernsehkrimis kennt, fehlt, hinter dem normalerweise ein Polizist den Verhafteten beäugt und alles akribisch protokolliert: ein nervöses Zucken der Beine, ein verräterisches Kratzen am Hinterkopf, ein Trommeln mit den Fingern auf dem Tisch oder ein gelangweiltes Nasebohren. Stattdessen hängt an der Zimmerdecke eine kleine Kamera. Sie ist auf ihn gerichtet. Im Fernsehen würde die Kamera bedrohlich rot blinken, sie hängt aber einfach nur da. Trotzdem hat er das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Totenstille in dem Raum erinnert ihn an einen Friedhof. Das einzige Geräusch, das Parker wahrnimmt, ist die Klimaanlage, die mit einem stoischen Stöhnen gegen die morgendliche Hitze ankämpft, die selbst die Nacht nicht hat besiegen können. Auch vom Flur, den eine massive Tür vom Vernehmungsraum trennt, ist nichts zu hören. Wahrscheinlich ist sie schalldicht, denkt Parker und fragt sich, ob die Vernehmungen, die hier stattfinden, vor dem Lärm von draußen geschützt werden sollen oder andersherum. Ein kalter Schauer jagt ihm den Rücken hinab, als er sich vorstellt, was schon alles in diesem Raum passiert sein könnte. Spuren wären leicht zu beseitigen. Aber vielmehr noch denkt er an das, was womöglich in den kommenden Stunden hier passieren wird.
Fast jeder Zweite aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis hatte ihn davor gewarnt, in die Türkei zu gehen. Viele waren überzeugt, als Deutscher würde man gleich am Flughafen verhaftet. Das Gegenteil war der Fall. Parker hatte noch nirgendwo so viele nette, hilfsbereite Menschen getroffen. Er nippt an dem süßen Tee, der vor ihm auf dem Tisch steht. Ein Polizist hatte ihn gebracht. Selbst im Knast endet die türkische Gastfreundschaft anscheinend nicht, denkt Parker. Hoffentlich bleibt das so.
Der Blick auf die Bucht von Marmaris beruhigt ihn. Auch wenn er sich kaum traut, vom Tisch aufzustehen, im Raum auf und ab zu gehen oder sich ans Fenster zu stellen, um zu beobachten, wie die Uferpromenade langsam zum Leben erwacht. Seine Beine zittern. Aber selbst im Sitzen kann er die ‚New Life‘ sehen. „Was ein tolles, neues Leben“, sagt er leise vor sich hin und schüttelt kaum merklich dabei den Kopf. Er hätte die Yacht besser ‚Welcome to hell‘ taufen sollen. Dabei ist der Name nicht einmal seine Idee gewesen. Als er die Ketsch, eine 43-Fuß-Yacht aus der Feder des australischen Bootsdesigners Bruce Roberts, vor acht Monaten kaufte, da hieß sie schon so. Er hatte sich sofort in den Zweimaster verliebt. Trotz der Altersflecke. Mit ihren 35 Jahren überzeugte die Mittelcockpit-Yacht durch Charme und Individualität. Ein schweres und sicheres Boot, gebaut, um die Welt zu umrunden. Sie war das genaue Gegenteil dieser Joghurtbecher aus moderner Serienproduktion mit ihrer jugendlichen Leichtigkeit und dem gehobenen Lifestyle. Schlanke Linien mochte Parker bei Frauen, aber in seinen Augen musste ein Boot Substanz haben, solide und robust sein. Es musste ihn in stürmischen Zeiten beschützen können. Nicht umgekehrt.
Erst fand er den alten Namen kitschig, wollte ihn ändern, doch als er versuchte, die Buchstaben vom Bug zu lösen, da sah er, dass sie sich in den vergangenen Jahren bereits in den Rumpf eingebrannt hatten. Also beließ er es bei ‚New Life‘. Er hatte eh keine bessere Idee. Wie traurig für jemanden, der Creative Director in der Werbeagentur war, die er zusammen mit Steffen, einem Freund aus Schultagen, gegründet hatte, da waren sie noch Studenten. Mit ihren Kampagnen hatten sie später alle erdenklichen Preise abgeräumt, mit der die Branche sich selbst feiert. Und dann war er nicht einmal in der Lage, einen pfiffigen Namen für seine Yacht zu finden. Für Parker ein Zeichen mehr, dass er völlig ausgebrannt war.
Aber dann freundete er sich mit dem Namen an. Es hätte auch schlimmer kommen können: Poseidon, Albatros oder Panta Rhei oder wie auch immer diese ganzen einfallslosen Typen ihre Yachten nennen. ‚New Life‘ passte wenigstens zu seiner Lebenssituation. Eigentlich war er nur zu faul, das ‚e‘ an der Steuerbordseite wieder zu ersetzen, das er mühselig mit seinen Fingernägeln abgeknibbelt hatte. Doch dann bemerkte er die Ironie des Schicksals. Seine große Liebe hieß ‚Liv‘. Zwar mit ‚v‘ geschrieben, gesprochen klang das aber gleich: ‚Liv‘ oder ‚Lif‘ - was machte das für einen Unterschied? Sie waren sogar gleich alt. Also entfernte er auch an Backbord das ‚e‘ aus dem ‚Life‘. So hatte er nicht nur ein neues Leben, sondern auch gleich eine neue Geliebte. Offiziell blieb das Schiff aber nach wie vor unter dem alten Namen registriert. Auch das war eine Parallele zu seinem alten Leben, denn seine wie auch immer geartete Beziehung zu Liv war ein jahrelanges Versteckspiel voller Verleumdungen und Notlügen gewesen.
Es muss etwa 6.45 Uhr sein. Gegen 6 Uhr geht Ende Mai an der Südküste der Türkei die Sonne auf. Mittlerweile hatte sich der kugelrunde Heizstrahler über die Berge im Osten von Marmaris gekämpft. „Warum nur hat man mich so früh aus der Zelle geholt, wenn doch niemand mit mir sprechen will?“, fragt Parker sich. Nicht, dass er etwa geschlafen hätte, höchstens war er mal kurz eingedöst. Sein Herz raste unentwegt, der Kopf hämmerte wie die Beats in der Bar-Street. Ihm war schlecht und einmal übergab er sich in das dreckige Waschbecken. Er hatte wieder dieses flaue Gefühl im Magen gehabt, das sich durch seine Eingeweide bis in den Kopf zu fressen schien. Sein Bauch blähte sich, bis er zu platzen drohte, es fühlte sich an, als hätte er einen Medizinball verschluckt. Apropos Medizin. Wieso hatte er nur seine Pillen an Bord vergessen?
Als sich plötzlich die Tür des Verhörraums öffnet, springt Parker auf, aber der Polizist deutet ihm wortlos und mit mürrischem Blick an, wieder Platz zu nehmen und still zu sein. Eine Frau mit Kopftuch geht vorbei an dem Beamten, auf einem Tablett balanciert sie mehrere Gläser mit Tee. Eins davon stellt sie vor Parker auf den Tisch. Dazu gibt es einen trockenen Sesamkringel. Sie legt ihn vorsichtig auf eine weiße Papierserviette. Parker bedankt sich auf Türkisch, die Frau lächelt, nickt höflich und verlässt wieder den Raum. Hinter ihr fällt die Tür ins schwere Schloss. Er ist wieder allein. Allein mit sich und seinen Gedanken.
Panik steigt in ihm auf. Keine rationale, die zu erklären wäre. Keine konkrete. Keine Angst vor dem bevorstehenden Verhör, nicht einmal vor jahrelangem Knast. Es ist einfach dieses beschissene Gefühl von Angst. Und Hilflosigkeit. Parker atmet hektisch, er beginnt zu schwitzen, trotz der Klimaanlage, deren rotes LED-Licht anzeigt, dass die Temperatur im Raum gerade mal vierundzwanzig Grad Celsius beträgt. Für Parker fühlt es sich an wie vierundvierzig. Tropfen bilden sich auf seiner Stirn, die Ärmel des weißen T-Shirts unterhalb der Achseln könnte er auswringen. Er spürt, wie sich unterhalb seiner Brust ein feuchter Film bildet, der immer größer wird, bis dicke Tropfen seinen Körper entlang rinnen. Das schlabbrige Shirt saugt sie auf, dunkle Flecken bilden dort sich wie kleine Seen.
Es ist kein normaler Schweiß. Angstschweiß glänzt in Parkers Gesicht. Er stinkt, beißt in der Nase. Anders als Schweiß beim Sport. Oder in der Sonne. Parkers Schweiß riecht krank. Nach Verderben. So wie damals, als er an Angstzuständen litt. Sein Kopf glüht, aber die Hände sind eiskalt. Er hat das Gefühl umzukippen, kann sich kaum noch auf dem Stuhl halten. Er stemmt seine Beine wie Brückenpfeiler auf den Boden, um Halt zu finden, den Rücken presst er an die Stuhllehne. Aber die Oberschenkel verkrampfen. Parker fühlt seinen Puls, doch am Handgelenk findet er ihn nicht. Weder links, noch rechts.
Hat sein Herz etwa schon aufgehört zu schlagen? Hektisch greift er an seinen Hals, tastet, fühlt, würgt sich fast, bis er ihn endlich findet. Der Puls rast, aber er ist ganz flach, kaum spürbar. In seiner linken Schulter zieht es plötzlich. Der Schmerz strahlt aus in seinen Arm. Ein Herzinfarkt? Oder bildet er sich den Schmerz nur ein? Dann zwackt die Wade, als hätte ihn ein Insekt gestochen. Das Bein schmerzt und er will kratzen. Aber was, wenn es eine Thrombose ist, wie vor drei Jahren? So hat es sich doch angefühlt? Und saß der Pfropfen nicht an der gleichen Stelle? Könnte er durch das Kratzen den Verschluss lösen, der dann weiterwandert, die Arterie hinauf, die Lunge kollabieren lässt oder seinem Hirn einen Schlag versetzt? Die Zunge! Taub und trocken fühlt sie sich an. Irgendwie angeschwollen. Er versucht sie zu rollen. Erst seitlich wie zu einem Rohr, dann von vorne nach hinten wie ein Rad. In der Apothekenumschau hatte Parker einmal gelesen, bei einem Schlaganfall ginge das nicht mehr. Aber es klappt, Parker kann seine Zunge rollen. Er versucht, sich zu beruhigen: „Alles in Ordnung“, redet er auf sich ein. „Alles okay.“ Er versucht, bewusst zu atmen. Tief und ruhig. Bis in den Bauch. Er weiß, dass es nur eine Panikattacke ist. Aber sein Kopf schreit Alarm, sendet Botenstoffe bis in den entferntesten Teil des Körpers aus. Parker ist voller Adrenalin, er kann nicht mehr stillsitzen. Er windet sich, die Beine zappeln. Erst hört er die Sohlen seiner Flip-Flops auf dem Linoleum quietschen, dann seinen Therapeuten auf ihn einreden. „Panik ist eine ganz normale Reaktion“, hatte der ihm bei der ersten Sitzung erklärt und von Säbelzahntigern und Neandertalern schwadroniert. Angst und Panik hätten bei den Urzeit-Menschen Kräfte freigesetzt, um vor den Feinden aus dem Tierreich abzuhauen. Oder um gegen sie zu kämpfen. Die Neandertaler, die keine Panik empfunden hätten, hätte die Evolution aussortiert, der Tiger gefressen. Panik sei also etwas Gutes, sagte der Therapeut. So ein Schwachsinn, hatte Parker damals gedacht und denkt es jetzt wieder.
Parker war damals ein psychisches Wrack. Was heißt damals, es ist gerade mal anderthalb Jahre her, dass er sich in Behandlung begab. Zuvor hatte er über zwei Jahre die Symptome ignoriert. Schwäche zeigen, Emotionen zulassen, das wollte er nicht. Das konnte er nicht. Nicht vor anderen und schon gar nicht vor sich selbst.
Die erste Panikattacke überfiel ihn auf der Autobahn. Irgendwo auf der A 24 zwischen Hamburg und Berlin, nicht weit hinter einer Baustelle bei Parchim. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Er dachte, er muss sterben. Sein ganzer Körper schien von der einen Sekunde zur nächsten aus dem Takt geraten. Er musste anhalten, sofort. Eine Viertelstunde parkte er auf dem Standstreifen mit leuchtenden Warnblinkern, trank einen Liter Wasser zur Beruhigung, dann erst fühlte er sich in der Lage weiterzufahren. Das war die erste Panikattacke. Die zweite ließ nicht lange auf sich warten. Sie überfiel ihn zwei Tage später auf dem Rückweg. Von da an wurden Panikattacken zu einem Bestandteil seines Lebens. Aber mit niemandem redete er darüber. Auch nicht, als die Intervalle kürzer und die Angstzustände immer krasser wurden.
Wenn er am nächsten Tag zu einem wichtigen Termin fahren musste, dann konnte er die Nacht zuvor nicht schlafen. Egal, wie müde er war, er fand einfach keine Ruhe. Mit dröhnendem Schädel setzte er sich dann am Morgen hinter das Lenkrad, immer in der Angst, die Panik könnte ihn wieder überkommen. Und weil er sie erwartete, an nichts anderes denken konnte, lauerte sie schon hinter der nächsten Ecke. Nicht selten schmerzte sein Kiefer, wenn er das Ziel endlich erreichte. Bei den Fahrten war er zu angespannt, um zu bemerken, dass er krampfhaft die Zähne aufeinanderpresste. Um sich zu entspannen, massierte er seine Schläfen, ließ Daumen und Zeigefinger am Haaransatz kreisen, so kräftig, dass er sich die Haare abrieb. Das bemerkte er zum ersten Mal, als er nach einer Attacke einen rettenden Rastplatz erreicht hatte. Zunächst wunderte er sich, dass sein schwarzer Rollkragenpullover voller blonder Haare war. Dann erblickte er im Rückspiegel die kahle Stelle an seinem Kopf. An die linke Stirnseite hatte er sich eine Geheimratsecke massiert. Damit es bei dem Meeting, zu dem er fuhr, nicht auffiel, rubbelte er auch die rechte Seite kahl.
Musik entspannte ihn. Aber manchmal musste er auch das Radio ausschalten oder es ganz leise drehen, weil die Stimmen sich anfühlten, als würden sie von innen gegen seine Schädeldecke pochen. Jede Silbe ein Hieb. Er versuchte sich abzulenken, damit seine Gedanken nicht immer nur um die nächste Attacke kreisten. Er beobachtete die Landschaft, suchte Rehe auf Feldern, beobachtete Bussarde und Milane, die über dem Asphalt kreisten auf der Suche nach Aas, hielt Ausschau in anderen Autos nach hübschen Frauen. Oder er las Nummernschilder und versuchte aus den Buchstaben Sätze zu formen. Oft drehten sie sich um Liv.
Er ermahnte sich, Autofahrten doch zu genießen, aber nur selten gelang es ihm. Schon eine gerade Straße, die die Felder rechts und links in zwei Hälften schnitt, machte ihm Angst. Er konnte sich nicht vorstellen, die vor ihm liegenden Kilometer zu bewältigen. Also klemmte er sich mit seinem Wagen hinter einen Lkw oder einen Bus, damit er die bedrohliche Weite vor ihm nicht sehen musste. Aber auch Landstraßen durch Wälder konnten ihn überfordern. Die Bäume standen manchmal bedrohlich nah an der Straße, so empfand er das. Er hatte Angst, seinen Wagen nicht auf der Straße halten zu können. Also schlich er mit 60 Stundenkilometern seinem Ziel entgegen, besonders dann, wenn die Sonne tief stand und die Bäume Schatten auf die Fahrbahn warfen. Dann kam es ihm vor, als führe er über einen ewig langen Barcode. Schatten, Licht, Schatten, Licht, Schatten, Licht. Es machte ihn wahnsinnig.
Nicht nur einmal dachte er daran, das Steuer herumzureißen und in einen Baum zu rasen. Einfach nur, damit er die Fahrt nicht fortsetzen musste. Parker wollte nicht sterben, er sehnte sich einfach nur nach einer Pause. Nach einer Pause von all den Strapazen. Nach einer Pause von seinem Leben. Ein paar Wochen in Gips in einem Krankenhausbett, das konnte er sich gut vorstellen. Natürlich müsste es nach einem Unfall aussehen, um nicht zugeben zu müssen, dass er verrückt war. War er das wirklich? Verrückt?
Er sehnte sich nach Autofahrten, wie er sie von früher kannte, als er es genoss, die Straßen entlang zu brettern. Kein Weg war ihm zu weit gewesen. Hinter dem Steuer hatte er die besten Ideen für seine Kampagnen gehabt. In den Anfangsjahren der Agentur lag immer eine Kladde auf dem Beifahrersitz seines schwarzen Saab 900, in die er seine Einfälle kritzelte. Mit seinen Oberschenkeln steuerte er den Wagen, während er sich Notizen machte. Später sprach er seine Einfälle in ein Diktiergerät mit kleiner Kassette, da fuhr er einen Audi Quattro. Zuletzt, in seinem Volvo XC90, ließ er ‚Siri‘ seine Einfälle protokollieren. Früher war sein Kopf auf Autobahnen so freigeblasen wie der Auspuff. Jetzt war er voll, ausgestopft von mit Säure benetzter Watte, die sein Hirn zu verätzen schien. So fühlte es sich für ihn an.
Alles war Parker zu viel geworden. Der Job, die Verantwortung, seine Affäre. Wahrscheinlich setzte ihm auch die Trennung von seiner Freundin zu, mit der er fünf Jahre Haus und Bett geteilt hatte. Dabei hatte er den Bruch durch seine Kälte bewusst provoziert. Er redete sich ein, es sei für Selena, seine Lebenspartnerin, einfacher, wenn sie den Schlussstrich ziehen würde. Dabei war er einfach nur zu feige, es selbst zu tun. Er konnte seiner Freundin keine Liebe mehr geben, weil er sie längst anderweitig verschenkt hatte. An Liv. Aber die nahm das Geschenk nicht an. Und so blieb es bei einer Affäre, die jahrelang köchelte, aber jedes Mal kurz vor dem Siedepunkt wieder abkühlte. „Wir werden wahrscheinlich nie ganz voneinander loskommen“, hatte Liv einmal gesagt. Es waren Sätze wie dieser, die Parker über Jahre hinweg ermutigten, an ein Happy End zu glauben. Sie konnten nicht ohne einander, aber noch weniger miteinander.
Beide steckten in einer anderen Beziehung fest. Sie zofften und versöhnten sich. Sie gestanden sich ihre Liebe. Und am nächsten Morgen schoben sie es wieder auf den Alkohol. Es gab Phasen, in denen Parker dachte, er hätte das alles hinter sich gelassen, Liv endlich überwunden. Dann begann es von Neuem. Es war wie eine Achterbahnfahrt in Endlosschleife. Hätten Freunde ihm so eine Geschichte erzählt, er hätte sie dafür ausgelacht. So dämlich kann doch wirklich niemand sein!
Empathielos sei er, das warf Selena, ihm vor. Romantik und Einfühlungsvermögen seien für Parker Fremdwörter. In ihren Augen war er ein Egomane, der nicht zuhören konnte, dafür umso mehr von sich und seiner Arbeit erzählte. Bei Liv war das anders. Da waren die Rollen vertauscht. Parker konnte sich an jedes noch so kleine Detail erinnern. An jedes Date, jedes noch so belanglose Wort von ihr. Er wusste, was sie vor acht Jahren bei einem x-beliebigen Treffen getragen, was sie zu essen bestellt und was sie getrunken hatte. Sogar an die Reihenfolge der Drinks konnte er sich erinnern. Jede Sekunde hatte er abgespeichert. Aber die Vornamen der Eltern von Selena konnte er sich nicht merken. Als eine Kollegin einmal beiläufig fragte, welche Augenfarbe seine Freundin hat, stockte er. Er musste raten. Liv hat braune Augen, das wusste er sofort. Nach der Trennung von Selena hoffte Parker die köchelnde Affäre endlich zum Kochen zu bringen. Alles konnte er sich vorstellen. Heirat und sogar Kinder. Aber die Trennung von Selena veränderte die Balance in der Beziehung zu Liv.
Er war jetzt Single, sie nach wie vor liiert. Er hatte Zeit, sie Verbindlichkeiten. Er hatte nichts zu verlieren, sie hatte einen Lebenspartner, der ihr Sicherheit gab. Parker musste zusehen wie sich ihre auch immer geartete Beziehung veränderte, musste erkennen, dass sie kippte. Und je mehr er sich bemühte, sie wieder ins Lot zu bringen, und je mehr er sich ins Zeug warf, um so mehr distanzierte sich Liv. Die Nähe, die er suchte, erdrückte sie. „Warum?“, wollte er wissen. Sie scheute das Gespräch. Ihre patzige Antwort: „Darum!“ Das war alles, was er zu hören bekam. Wochenlang hatten sie manchmal keinen Kontakt. Meist war sie es dann, die sich wieder meldete. Mit irgendeiner Belanglosigkeit. Und schon stand er wieder in Flammen, lichterloh. Bis er sich erneut verbrannte.
Um sich abzulenken, stürzte sich Parker noch mehr in Arbeit, holte einen nach dem anderen Auftrag für die Agentur an Land. Steffen, sein Partner, warnte ihn: „Das schaffen wir nicht“. Parker verabscheute das weinerliche Geschwätz seines Freundes. Aufträge abzulehnen kam für ihn nicht in Frage. Jammern, das war etwas für Weicheier. Er hatte das ständige ‚Mimimi‘ satt. Um Steffen zu signalisieren, dass er die endlosen Debatten leid war, stellte er sich vor ihm hin, mit hängenden Schultern und Mundwinkeln, und faltete seine Finger zu einer Raute. „Was soll das denn jetzt wieder?“, raunzte Steffen ihn beim ersten Mal an.
„Wir schaffen das!“, nuschelte Parker. Und zitierte gleich noch einen weiteren Kanzler hinterher, diesmal in einem Tonfall wie Donnerhall: „Basta!“
Fortan wurde die Merkel-Raute zu Parkers Running-Gag, auch wenn Steffen darüber gar nicht lachen konnte. Immer wenn er in Parkers schickes Eckbüro mit Elbblick stürmte, um irgendwelche Bedenken zu äußern, formte Parker erst seine Finger zu der Raute, dann wedelte er mit seiner flachen Hand Steffen aus dem Raum, so als ob er eine Wespe von einem Stück Apfelkuchen vertreiben wollte. Ende der Diskussion. Parker arbeitete die Nächte durch. Er wollte Steffen, und mehr noch sich selbst, beweisen, dass er den Mund nicht zu voll genommen hatte. An manchen Tagen schlief er auf dem grauen Ecksofa in seinem Büro. Wenn er an anderen Abenden nach sechzehn Stunden oder mehr von der Agentur nach Hause kam, gönnte er sich einen guten Tropfen Scotch. Das rauchige Destillat brannte in seinem Rachen. Die Wärme, die er spürte, gaukelte ihm Geborgenheit vor. Anfangs reichte ihm ein Glas für dieses wohlige Gefühl, schnell wurden daraus aber zwei, später auch mal eine halbe Flasche. Gegen die Müdigkeit am Morgen halfen ihm Unmengen an Kaffee, gegen den Kater und die Kopfschmerzen Tabletten. Als das alles nicht mehr half, griff er in seine Schreibtischschublade, kramte das schwarze Kodak-Filmdöschen mit dem grauen Deckel hervor, in dem er einen vergilbten Zettel aufbewahrte, der in den vielen Jahre die Tinte fast absorbiert hatte. Aber die Zahlen waren immer noch zu lesen. Jetzt hoffte Parker nur, dass sein alter Dealer in den vergangenen siebzehn Jahren weder die Telefonnummer noch sein Business geändert hatte. Oder im Knast saß.
Damals, in den Anfangsjahren der Agentur, sausten er und Steffen die Schneepisten jeden Abend hinunter. Sie hatten ihre Erfolgsspur gefunden - und zogen sie durch die Nase. Als Parkers Partner aber sein erstes Kind bekam, änderte sich das schlagartig. Bei Steffen drehte sich plötzlich alles um Windelwechseln, Brei und Kita. Anfangs haderte Parker mit dem plötzlichen Sinneswandel seines Freundes, beschimpfte und bepöbelte ihn ob seiner neuen Prioritäten. Als Steffen ihn bat, Taufpate für seinen Sohn zu sein, sträubte sich Parker zunächst. Aber dann nahm er die Rolle an und wuchs in sie hinein. Er mochte den kleinen Fratz und verbrachte viel Zeit mit ihm. Er konnte Steffen jetzt verstehen. Und so trat auch Parker auf die Bremse, wurde ruhiger und änderte sein Leben. Es war die Zeit, als er die Telefonnummer ihres Dealers aus seinem Telefon löschte, sie für alle Fälle aber in dem kleinen Filmdöschen aufbewahrte. Es sollte Jahre dauern bis er seinen Schreibtisch danach durchsuchte.
Stattdessen kaufte er sich ein Häuschen nördlich von Hamburg, mit allem, was er bislang verabscheut hatte. Ein reetgedecktes Bauernhaus in einer spießigen Einöde mit Zierrasen, Obstbäumen und Kois im Gartenteich. Wenig später lernte er an einem bierseligen Donnerstagabend im BP 1 in der Schanze seine neue Freundin kennen. Selena war auf Wohnungssuche. In Kürze würde sie von Leipzig nach Hamburg ziehen, um ihren neuen Job in der Online-Redaktion der ‚Hamburger Nachrichten‘ anzutreten. Sören, Parkers bester Freund, hatte sie mitgeschleppt. Bei der Tageszeitung schrieb Sören im Politikressort und kümmerte sich leidenschaftlich um junge Kolleginnen. Nicht nur privat, sondern auch höchst offiziell. Jeder neue Mitarbeiter bekam eine Art Tutor an die Seite gestellt, der bei der Eingewöhnung helfen sollte. Meist kümmerte sich Sören. Er nahm die Aufgabe besonders wichtig und so schleppte er Selena nach der Vertragsunterzeichnung mit in die Kneipe, wo sie auf Parker traf.
Wenige Wochen später schon, kurz vor Selenas offiziellem Arbeitsbeginn, parkte der kleine Umzugswagen vor Parkers Haus. Es war seine Idee gewesen, dass Selena bei ihm einzieht. Es erschien im praktisch. Zwischen ihm und Liv war gerade Funkstille. Vielleicht konnte er so der verhängnisvollen Affäre entkommen, in dem er einfach Nägel mit Köpfen machte - und sich in eine neue Beziehung stürzte.
In dieser Zeit entdeckte er auch das Segeln wieder für sich, eine Leidenschaft, der er seit Kindesbeinen an frönte, die aber viele Jahre viel zu kurz gekommen war. Er kaufte sich ein Boot, eine Arkona, schwedischer Werftbau, 32 Fuß lang. Perfekt für die Ostsee. Er legte das Schiff an die Schlei, in einen kleinen Hafen zwischen den beiden Brücken, die Angeln im Norden und Schwansen im Süden miteinander verbinden. Von seinem Haus bei Hamburg bis zum Steg brauchte er nur eine Stunde mit dem Auto. Perfekt. Auch Selena begeisterte sich für das Segeln. Das begeisterte wiederum Parker. Liv war schon bei einem Ausflug auf der Alster schlecht geworden.
Statt Koks gab es jetzt in der Agentur Bio-Frühstück, statt Nachtschichten eine bezahlte Mitgliedschaft im Fitness-Club. Die Auftragsbücher der Agentur waren voll, jedes Jahr stellten sie neue Mitarbeiter ein. Zwei Mal mussten sie umziehen, um genügend Platz für siebenundzwanzig Mitarbeiter zu gewinnen. Sie wurden mit Preisen überschüttet: Deutscher Agenturpreis, Directors Club Germany, Deutscher Designer Club, Red Dot Award, iF Design Award, Mercury Excellence Award, Corporate Design Preis und noch viele andere mehr. Im Kreativindex des ‚Manager Magazins‘ landete die kleine Agentur erstmals in den Top Ten. Aber nie war sie so erfolgreich, wie kurz vor Parkers Zusammenbruch, nach seiner Trennung von Selena und der Funkstille zu Liv, als er keinen Sinn darin sah, abends nach Hause zu fahren. Parker arbeitete wieder die Nächte durch, wie damals nach der Agenturgründung, und wieder wurde er angetrieben vom weißen Pulver. Es dauerte nicht lange bis sein Motor, zu Höchstleistung getrieben, Verschleiß zeigte. Das merkte Parker schon früh, ignorierte es aber. Anfangs glaubte er noch, dass er einfach das Koks nicht mehr vertragen würde, also verzichtete er schon bald wieder darauf. Aber der Verzicht zeigte keine Wirkung.
Meetings musste er schlagartig verlassen, bei Gesprächen war er fahrig, konnte ihnen nicht mehr folgen. Immer mehr zog er sich zurück. In sein Büro, ins Homeoffice oder auf die Toilette, wenn er aus heiterem Himmel einen Weinkrampf bekam. Die roten Augen erklärte er mit Heuschnupfen. „Wir schaffen das!“, hatte er doch immer gepredigt. Er wollte und konnte sich einfach nicht eingestehen, dass er sich getäuscht hatte. Auch wenn er das längst wusste. Aber Nein-Sagen und Schwäche zeigen, das hatte er nie gelernt. Im Sozialen versagte er zunehmend, ging immer weniger aus dem Haus. Nur beim Job, da funktionierte er noch einigermaßen - auch wenn die Angstzustände immer bedrohlicher wurden. Seine Akkus waren leer. Ein bisschen konnte er sie wieder aufladen, wenn er am Wochenende an die Schlei fuhr. Beim Segeln war er noch in der Lage abzuschalten, ein wenig Kraft zu schöpfen, so etwas wie Freude zu empfinden. Doch dann nervte plötzlich diese Julia Schneider, die Frau eines Freundes aus dem Segelclub, die sich, aus welchem Grund auch immer, in ihn verliebt hatte. Dabei kannte Parker sie kaum. Ein oder zwei Mal hatten sie in großer Gruppe zusammen Abend gegessen. Sie saß Parker gegenüber, neben ihrem Mann Bert, mehr war da nicht.
Bert war nicht wirklich ein richtiger Freund von Parker, aber sie verstanden sich gut, tranken das eine oder andere Bier zusammen, segelten auch mal gemeinsam, wenn beide alleine an einem Wochenende am Hafen waren. Berts Frau war nur selten mit an der Schlei. Ihr Mann erwähnte sie auch kaum. Nur einmal erzählte er, dass es ihr gesundheitlich nicht so gut ginge. Was genau sie hatte, das erzählte Bert nicht. Nur, dass seine Frau sehr darunter leide, nicht mehr so aktiv sein zu können wie früher, als sie noch eine leidenschaftliche Sportlerin gewesen war.
Parker hatte Julia Schneider kaum wahrgenommen. Mal ein flüchtiges ‚Hallo‘ auf dem Steg. Mehr nicht. Sie war auch überhaupt nicht sein Typ. Parkers Freundinnen waren immer etliche Jahre jünger als er. Und Julia Schneider war älter als Parker.
Als dann die ersten Mails von ihr kamen, war Parker irritiert. Er antwortete nett, aber distanziert. Dann wurden die Mails konkreter. Die Situation überforderte ihn. Parker hatte schon genügend eigene Probleme. Da konnte er sich nicht auch noch um die Spinnereien und die Eheprobleme anderer kümmern. Weil er keinen Bock hatte, auf Julia Schneider zu treffen, schon gar nicht auf ihren Mann, vermied er es fortan, zum Hafen zu fahren. Was hätte er auch zu Bert sagen sollen: „Du, Deine Alte belästigt mich. Kannst Du ihr bitte mal sagen, ich möchte keine Bikinibilder mehr von ihr bekommen und auch keine Schilderungen wie sie sich vorstellt, mit mir Sex zu haben. Stimmt es eigentlich, dass Du keinen mehr hochbekommst? Und dass Du Alkoholiker bist?“ All das hatte sie ihm geschildert. Parker sah es nicht als seine Aufgabe an, sich in fremde Ehen einzumischen. Irgendwann schrieb er ihr, dass er keine Ahnung habe, was sie sich einbilde. Aber er hätte definitiv kein Interesse an einer Beziehung mit ihr. Dann ignorierte er ihre Mails. Er konnte ja nicht ahnen, was er damit auslöste. Kurz darauf brach er zusammen.
Es war erst etwas über anderthalb Jahre her, dass die Angstzustände die Kontrolle über sein Leben übernommen hatten. Überall waren Barrieren. Und sie wurden von Tag zu Tag höher. In zwanzig Jahren hatte er nicht einen einzigen Tag bei der Arbeit gefehlt. Und wenn ihn doch mal eine Grippe oder ein Hexenschuss niedergestreckt hatte, dann arbeitete er vom Bett aus. Doch diesmal hatte er sich krankschreiben lassen. Zwischenzeitlich war er nicht einmal mehr in der Lage gewesen, zum Briefkasten zu gehen. An guten Tagen kam er bis zum Gartentor, an schlechten nicht einmal aus dem Bett. Selbst telefonieren war ihm an manchen Tagen zu anstrengend. Den Einkauf brachte der Lieferdienst des Supermarkts. Freunde durften ihn nur abends besuchen, dann fiel es nicht auf, dass er Gesellschaft nur im Suff ertragen konnte. Alkohol entspannte ihn. Er wusste um die Gefahr, wollte kein Säufer werden, also lud er irgendwann auch keine Freunde mehr ein, erfand immer neue Ausreden. Er musste nicht einmal kreativ sein. Wenn sich Besuch angekündigt hatte, strengte ihn allein der Gedanke daran so an, dass er nachmittags schon über der Kloschlüssel hing und sich die Seele aus dem Leib kotzte. Nicht selten glaubte er, sterben zu müssen. So wie damals, als alles anfing und er im Auto saß. Mittlerweile war alles noch viel schlimmer geworden. Aus Angst vor dem Tod dachte er sogar einmal an Selbstmord. Nur um nicht mehr diese Angst vor dem Sterben haben zu müssen. In dieser Zeit wurde ihm klar, dass es an der Zeit war, Schwäche zuzulassen und professionelle Hilfe anzunehmen. Er ging zur Therapie.
Ein Vierteljahr hatte es gedauert, bis er das erste Mal wieder in der Lage war, in die Agentur zu fahren. Aber nur, um zu sagen, dass er nicht mehr wiederkommen wird. Allein die 30 Kilometer von seinem Haus bis in die Hamburger Innenstadt waren für ihn eine Belastung. Physisch wie psychisch. Er schaffte es nur, weil er wusste, es würde das letzte Mal sein. Die Agentur war einmal sein Ein und Alles gewesen. Er liebte seinen Job, doch der Job hatte ihn aufgefressen. Wollte er weiterleben, musste er sich trennen. Das war ihm klar. Und so verkaufte er seine Hälfte der Agentur an Steffen, seinen Partner, das Haus bei Hamburg vermietete er. Als er sich wieder fit genug fühlte, um zu reisen, kaufte er ein Ticket in die Türkei. In Marmaris fand er schnell ein Schiff, auf dem er sich vorstellen konnte zu leben: die ‚New Life‘.
Mit jedem Tag an Bord war es ihm besser ergangen. Immer seltener wurden die Panikattacken. Die Stimmungsaufheller, die ihm in seiner dunkelsten Phase halfen, nahm er nur noch sporadisch. Vor allem wegen der unangenehmen Wechselwirkungen mit Alkohol. Die See wurde zu seinem Seelenklempner. Und mehr noch die WhatsApp, die er eines Tages aus heiterem Himmel bekam. Gewohnt knapp und banal: „Wie ist das Wetter in der Türkei?“ Er fühlte sich auf wundersame Weise geheilt.
Doch jetzt, in diesem kargen Verhörraum, ist alles wieder da. So schlimm wie schon lange nicht mehr. Parker ist zurück im Panikmodus. Er starrt zu der verschlossenen Tür, zur Kamera, aus dem Fenster zu seiner Yacht. Das Symbol seines neuen Lebens - so nah, und doch unendlich weit weg hinter einer Scheibe aus Sicherheitsglas. Er ist kurz vor einem Weinkrampf. Parker hatte sich mühsam das Leben zurückerobert. Wieder gelernt zu genießen und zu lachen. Ehrlich zu lachen, herzhaft, so laut, dass der Bauch schmerzt. Wie hatte er das vermisst. Abends konnte er wieder ins Bett gehen - und einfach schlafen. Weil er sich auf den nächsten Tag freute, weil das Leben wieder Sinn hatte. Und Sinn hatte es, weil es Spaß machte.
Parker versucht sich zu entspannen, so fern das überhaupt geht in einem Verhörraum. Mit Daumen und Zeigefinger massiert er wieder seine Schläfe. So wie damals, auf der Autobahn. Die Dauer der Panikattacke, die von seinem Kopf aus den ganzen Körper befallen hat, kommt ihm vor wie eine Ewigkeit, wahrscheinlich hält sie aber nicht länger als eine Minute an, wenn überhaupt. Parker beruhigt sich langsam. Er spürt wie die Angst aus seinem Körper weicht, wie sich seine Muskeln entspannen, der Puls sich normalisiert, langsamer wird, dafür kräftiger, sein Atem gleichmäßiger geht. Zurück bleibt ein bleiernes Gefühl im Kopf. Dumpf und dröge. Kein Schmerz, eher ein Druck, so als wenn jemand in seinem Schädel einen Luftballon aufblasen würde. Parker nimmt das Glas mit dem Tee und trinkt es in einem Schluck aus. Was würde er jetzt für ein Kaugummi geben.