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Marmaris, 24. Mai, 9.15 Uhr (Polizeidirektion)

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Murat Karadeniz ist ein hochgewachsener Mann Ende 40, vielleicht Anfang 50. Man sieht ihm an, dass er regelmäßig Sport treibt, sein dunkler Anzug sitzt perfekt auf dem durchtrainierten Körper. Die beiden obersten Knöpfe an seinem weißen Hemd mit dem gestärkten Kragen trägt er offen, die darunter liegenden spannen etwas über der breiten Brust und verleihen ihm ein imposantes Auftreten. Wachs lässt die adretten, schwarzen Haare gesund glänzen. Sie verströmen den Duft von Kokosnuss. Karadeniz’ braun gebranntes Gesicht ist glattrasiert, die strahlend weißen Zähne wirken zu perfekt, als dass sie echt sein könnten. Ein bisschen erinnert Kommissar Karadeniz an Erol Sander in der TV-Serie „Mordkommission Istanbul“.

Als Karadeniz kurz nach 9 Uhr den Verhörraum betritt, sitzt Parker wie versteinert an dem Tisch, vornübergebeugt, die Hände auf der Platte abgelegt, wie zum Gebet gefaltet. Gefühlt seit Ewigkeiten verharrt er in dieser Position und tatsächlich sind es über zwei Stunden. Parker konzentriert sich auf seine Atmung. Er hofft so eine weitere Panikattacke wegzuatmen.

„Hallo, wie geht es Ihnen, Herr Parker?“, schleudert ihm Karadeniz in fast akzentfreiem Deutsch entgegen, kaum hat er den Raum betreten. „Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung.“

Parker blickt auf. Er hatte mit einem unfreundlichen Beamten in Uniform gerechnet, der kaum Englisch spricht, so wie am Abend zuvor. Er hatte befürchtet, seine Antworten würden kein Gehör finden und mehr noch, dass seine eigenen Fragen unbeantwortet blieben. Aber dieser Mann in dem feinen Zwirn, der sich als Kommissar Karadeniz vorstellt, spricht fließend seine Sprache - mit rheinischem Zungenschlag. Der Kommissar wirkt freundlich und aufgeschlossen. Parker ist erleichtert. „Um ehrlich zu sein, nicht sehr gut. Können Sie mir sagen….“.

Karadeniz klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Yavaş Yavaş“, unterbricht er Parker und lacht. „Langsam, langsam!“, übersetzt er sogleich. „Ihr Deutschen habt immer ein Tempo drauf, da komme ich nicht mehr mit. Deshalb bin ich auch vor zehn Jahren weg aus Duisburg. Kennen Sie noch Schimi? Den aus dem Tatort? Schimanski war großartig! Wirklich eine coole Sau, oder? Wegen dem bin ich damals Polizist geworden.“ Karadeniz schaut Parker mit strahlenden Augen an.

Parker weiß nicht, wie er reagieren soll. „Ja“, stammelt er. „Ja, natürlich kenne ich Schimanski.“ Mehr fällt ihm nicht ein. Also ergreift Karadeniz wieder das Wort.

„Aber mal ehrlich, Polizist in Deutschland? Das ist nichts für mich. Vorschriften, Vorschriften, Vorschriften. Und für die einen war ich immer nur der Kanaken-Kommissar, für die anderen der Quoten-Türke. Wollen Sie auch einen Cappuccino?“

Der Polizist zaubert aus einer hellbraunen Papiertüte einen Coffee-to-go-Becher, reicht ihn Parker. „Hunger?“, fragt er dann und kramt auch noch zwei Cheeseburger hervor, legt einen davon auf den Tisch, den anderen befreit er sogleich aus dem Papier und beißt herzhaft hinein. „Bedienen Sie sich! Ich liebe diesen Fastfood-Kram. Das ist noch der Deutsche in mir. Mit Döner können Sie mich jagen. Und von türkischem Kaffee kriege ich Sodbrennen. Können Sie sich das vorstellen?“, schmatzt Karadeniz. „Ein Türke, der türkischen Kaffee nicht verträgt!“ Der Kommissar lacht über seine eigene Bemerkung.

Parker schüttelt ob des erstaunlichen Gesprächsauftakts verwundert den Kopf, nippt an seinem Cappuccino, den er dankend angenommen hat, und schielt auf den Burger. Er hat keine Ahnung, was hier gerade vor sich geht. Die ganze Szenerie scheint ihm absurd. Absolut skurril. Genauso wie die Tatsache, dass er überhaupt in diesem Verhörraum festgehalten wird.

„Greifen Sie zu, greifen Sie zu“, fordert Karadeniz ihn auf, „habe ich extra für Sie mitgebracht. Als Entschuldigung. Der Flieger aus Istanbul hatte Verspätung.“

„Aus Istanbul?“, fragt Parker ungläubig. „Sie kommen aber nicht extra meinetwegen aus Istanbul?“

Karadeniz beißt beherzt in seinen lauwarmen Burger, der mittlerweile genauso faltig aussieht wie das Gesicht von einem Mops. Etwas Ketchup kleckert dabei auf den Tisch. Der Kommissar wischt den Flecken mit dem Mittelfinger weg und schleckt ihn ab. „Doch, doch“, nuschelt er. „Aber keine Sorge, die Burger habe ich erst hier gekauft.“ Er lacht kurz auf. „In Istanbul arbeite ich bei der ‚Yabancılar Hudut İltica Dairesi Başkanlığı‘.“

„Wie bitte? Bei der was?“ Parker hat nicht ein Wort verstanden.

Karadeniz schluckt den Bissen hastig herunter, verzieht dabei sein Gesicht, als würde das Schlucken schmerzen. „Das ist das Dezernat, dass sich mit Ausländern befasst. Und da bin ich der Verbindungsmann zu den Kollegen in Ankara von der ‚Dışilişkiler Dairesi Başkanlığı‘“. Karadeniz lächelt, es macht ihm anscheinend Spaß, Parker mit unverständlichen Begriffen zu quälen. Oder er ist einfach nur stolz auf seinen Job. „Sie verstehen nur Bahnhof, richtig? Sagt man doch so, oder?“, fragt er fast fürsorglich nach.

Parker nickt.

„Die ‚Dışilişkiler Dairesi Başkanlığı‘ ist die Polizeibehörde für internationale Zusammenarbeit. Sie sehen, Sie sind in den besten Händen.“

Ungläubig schaut Parker zu Karadeniz, der seinen Cheeseburger förmlich inhaliert hat und jetzt im Raum auf und ab geht, während er einen Anruf entgegennimmt. Parker versteht kein Wort. Aber er glaubt, es geht um ihn. Er meint, das Wort ‚alman‘ herausgehört zu haben, also ‚Deutscher‘. Immer wieder lacht Karadeniz auf, schüttelt kaum merklich seinen Kopf. Als letztes sagt Karadeniz ‚böyle bir aptal‘. Parker weiß nicht, dass es ‚so ein Idiot‘ heißt. Dann legt der Kommissar auf. Vor dem verschlossenen Fenster bleibt Karadeniz stehen, schaut hinaus, atmet tief ein und lange aus, als könnte er durch die Scheibe die Meerbrise inhalieren. „Toller Ausblick“, sagt er dann. „Ich liebe das Meer.“ Dann dreht er sich zu Parker um. „Wissen Sie, wie das Mittelmeer auf Türkisch heißt?“

Parker zuckt mit den Schultern.

„Akdeniz“, klärt der Kommissar ihn auf. „Übersetzt heißt das: das weiße Meer. Schön nicht, obwohl das blaue Meer passender wäre, oder? Und wissen Sie, was Karadeniz heißt?“

Parker schüttelt wieder den Kopf.

„Das Schwarze Meer“, flüstert der Kommissar nun mit düsterer Stimme. „Unberechenbar, kalt und ungestüm.“ Er starrt Parker direkt in die Augen. „Genauso wie ich“, schiebt er nach. Dann lacht Karadeniz auf. „Das war doch nur ein Scherz. Das Schwarze Meer ist wunderschön. Waren Sie mal da?“

Parker schaut den Kommissar verwundert an: „Äh, nein, aber können Sie mir jetzt bitte sagen, weshalb ich…“.

Karadeniz reagiert nicht auf Parker, redet einfach weiter. „Was für ein traumhafter Tag, oder? Wobei Sie ihn mir ein bisschen versaut haben. Ich hasse es, früh aufzustehen. Und heute Abend habe ich Karten für Beşiktaş gegen Kasımpaşa. Letzter Spieltag. Mögen Sie Fußball? Sie sind doch aus Hamburg? Der HSV in der zweiten Liga, wer hätte damit jemals gerechnet? Aber lassen Sie mich raten, Sie sind eher Pauli-Fan. Richtig?“

Der Kommissar schaut Parker erwartungsvoll an. Aber der zuckt nur mit den Schultern. „Eigentlich interessiere ich mich nicht sonderlich für Fußball.“

Karadeniz reißt die Augen weit auf. „Was? Ein Deutscher, der sich nicht für Fußball interessiert, ich kann es nicht fassen. Wissen Sie wenigstens, warum das Spiel heute Abend in Istanbul so bedeutend ist?“

Parker weiß sich wieder nicht anders zu behelfen, als den Kopf zu schütteln und mit den Schultern zu zucken, versucht es dann aber doch mit einer Erklärung. „Weil es um die Meisterschaft geht?“, fragt er.

Karadeniz rollt mit den Augen. „Nein, die dürfte leider entschieden sein. Galatasaray müsste verlieren und Başakşehir mit neun Toren Vorsprung gewinnen. Das ist mehr als unwahrscheinlich. Zum Glück, ich hasse Başakşehir nämlich. Aber für uns lief es diese Saison auch nicht gut. Dritter Platz in der Liga. Das ist zu wenig.“

„Uns“, mutmaßt Parker, „ist wahrscheinlich Beşiktaş?“ Karadeniz tut empört. „Aber klar doch! Oder glauben Sie etwa ich bin Kasımpaşa-Fan? Das ist so, als ob sie einen Pauli-Fan fragten, ob er HSV-Anhänger ist. Beşiktaş ist ein eher linker Club. Und Kasımpaşa, puh…“ Karadeniz zögert, sucht nach der passenden Vokabel.

„Ich weiß nicht mal, wo das liegt“, nutzt Parker die kurze Sendepause des Kommissars. Karadeniz macht eine ausholende Geste, als wolle er zu einem Exkurs über den türkischen Fußball ansetzen. „Kasımpaşa ist auch ein Istanbuler Verein. Und wissen Sie, wie deren Stadion heißt?“

„Natürlich nicht“, sagt Parker hörbar genervt. „Ich habe ja noch nie von dem Verein gehört.“

„Deren Stadion“, doziert Karadeniz spöttisch, „ist benannt nach einem großen Staatsmann.“ Er blickt zu dem einzigen Bild im Raum. „Es heißt Recep Tayyip Erdoğan-Stadion.“ Er schaut wieder zu Parker. „Noch Fragen?“

Parker tut wissend: „Ach, der Erdoğan-Club. Von dem habe ich schon gehört.“

Karadeniz atmet übertrieben schwer aus. „Nein, das wiederum ist Başakşehir, der Tabellenzweite. Ach egal. Es macht übrigens keinen Spaß mit ihnen über Fußball zu sprechen“, sagt Karadeniz. „Aber ich rede schon wieder viel zu viel. Sagt meine Frau auch immer. Bringen wir es lieber schnell hinter uns, dann kann ich noch den Flieger am Nachmittag nehmen. Einverstanden?“

Parker nickt wohlwollend. „Sehr gerne.“

Karadeniz setzt sich ihm gegenüber, macht eine auffordernde Geste mit seiner Hand. „Bitte, Herr Parker, dann legen Sie mal los. Was haben Sie ausgefressen?“

Parker blickt dem Kommissar fragend in die Augen. „Was ich ausgefressen habe? Ich habe keine Ahnung. Was wirft man mir denn vor?“

Karadeniz tut überrascht, bleibt aber freundlich. „Was man Ihnen vorwirft? Nur Sie wissen doch, was genau passiert ist. Lassen Sie mal hören. Ihre Version, bitte!“ Er macht wieder diese einladende Geste, wie ein Talkshowmoderator, der seine Gäste auffordert, sich vorzustellen.

Parker ist verwirrt, weiß nicht, was er sagen soll. „Ich habe nichts gemacht. Ich habe wirklich keine Ahnung, warum ich hier bin.“

Karadeniz lehnt sich in seinem Stuhl zurück, zieht die Augen zu Schlitzen zusammen, zückt einen kleinen Block mit Stift aus der Innentasche seines Sakkos, drückt die Mine aus dem Kugelschreiber. Er macht sich Notizen. Auf die erste Seite des Blocks schreibt er: Peter Parker, daneben das Datum: 24. Mai 2019. Dann schaut er auf seine Uhr. ‚9.35 Uhr‘ schreibt er auf. In der nächsten Zeile zieht er einen langen Strich, dreht dann den Block um 180 Grad zu Parker. „Ist das alles so richtig?“ Karadeniz pocht mit dem Stift auf den Strich. „Sie wollen also nichts sagen? Nichts, was Sie entlasten könnte? Keine Angaben? Nur zur Info: In der Türkei ist es wie in Deutschland. Ein frühes Geständnis kann sich positiv auf das Strafmaß auswirken.“

Parker ist langsam verärgert. „Worum geht es denn überhaupt?“, poltert er. „Was soll ich denn gestehen?“

Karadeniz seufzt tief und schaut wieder auf die Uhr. Dann zählt er laut an den Fingern die Stunden ab: „Halb elf, halb zwölf, halb eins.“ Bis halb vier zählt er. „Sechs Stunden“, sagt er dann. „Wir haben maximal sechs Stunden, dann muss ich spätestens zurück nach Dalaman zum Flieger. Sonst kann ich das Spiel vergessen.“ Er lächelt. Aber das Lächeln wirkt wie eine Drohung.

„Jetzt mal im Ernst“, fährt der Kommissar nach einer kurzen Pause fort. „Kurz die Spielregeln: Ich frage, Sie antworten. Sonst sitzen wir am Montag noch hier. Und ich warne Sie, zerstören Sie mir nicht mein Wochenende. Das ist mir und meiner Familie heilig. Ich wiederhole also noch mal meine Frage: Sie bleiben dabei, dass Sie nichts verbrochen haben? Ich frage Sie das nur noch einmal, um Ihnen die Chance zu geben, Ihre Antwort zu überdenken.“

Karadeniz schaut Parker jetzt wieder tief in die Augen, als könne er darin erkennen, ob sein Gegenüber ihn anlügt.

Parker schüttelt den Kopf. „Nein, nichts!“

„Prima!“, sagt Karadeniz und setzt ein Ausrufezeichen wie zur Bestätigung unter den Strich auf seinem Zettel. „Ich glaube Ihnen, Herr Parker. Sie machen auf mich einen netten Eindruck. Ich mag Sie. Und ich hoffe, Sie enttäuschen mich nicht. Ich bin Ihnen neutral gegenüber eingestellt. Das merken Sie hoffentlich. Aber ich hasse Lügner. Die ganze Welt ist voller Lügen. Politiker lügen. Mörder lügen, Verbrecher lügen, Ehebrecher lügen.“ Er blickt kurz von seinem Block auf. Parker verzieht keine Miene. Aber er hat das Gefühl, irgendwas sagen zu müssen. Also sagt er: „Ich bin nicht verheiratet.“

Karadeniz lacht. „Stimmt ja, Sie sind nicht verheiratet.“

Langsam verliert Parker die Beherrschung ob des obskuren Spiels, dass der Kommissar mit ihm treibt. „Was soll das Ganze überhaupt?“, empört er sich.

Karadeniz starrt ihn reglos an, dann fährt er fort, ohne auf Parkers Frage einzugehen. „Ein Mann kann Fehler machen, aber er steht dazu, er trägt die Konsequenzen. Er versteckt sich nicht hinter Lügen. Sie sind doch ein Mann, oder? Oder sind Sie ein feiger Heuchler?“

Parker schüttelt wieder nur den Kopf. „Wäre es nicht einfacher, Sie sagen mir endlich mal, was man mir vorwirft? Brauche ich einen Anwalt?“

Karadeniz zieht die Augenbrauen hoch. „Warum sollten Sie denn einen Anwalt brauchen? Sie haben doch nichts Illegales gemacht, wie Sie eben sagten.“ Der Kommissar stockt kurz, dann fährt er fort: „Nicht einmal, sagen wir, einen illegalen Grenzübertritt? Sie sind nie mit Ihrem Schiff, ohne auszuklarieren nach Griechenland gefahren?“

Parker stöhnt erleichtert auf, klopft unbewusst auf den Tisch. „Ach so, darum geht es also? Um die Fahrten nach Symi und Kos?“

Karadeniz schaut ihn verärgert an und klatscht mit voller Wucht die flache Hand auf den Tisch. Dann brüllt er: „Nein, darum geht es natürlich nicht. Es geht darum, dass Sie mich anlügen. Darum, dass Sie glauben, den Kanaken-Kommissar verarschen zu können! Wie soll ich Ihnen vertrauen? Sagen Sie mir das, Parker.“

Das erste Mal nennt er ihn nicht mehr „Herr Parker“.

Kurz darauf raunzt Karadeniz ihn an: „Stehen Sie auf!“ Er zeigt aus dem Fenster. „Was sehen Sie? Da, auf Ihrem Schiff!“

Parker erhebt sich langsam, geht zum Fenster. Er sieht seine ‚New Life‘ wie sie immer noch friedlich auf den sanften Wellen tanzt. Der Wind scheint etwas zugelegt zu haben. Da sollte er jetzt eigentlich sein, im Cockpit, mit einem Kaffee in der Hand, und sich auf einen neuen Tag freuen. Wie er sieht, baumelt das Polizeiboot, das ihn vergangene Nacht abholte, wieder am Heck. An Deck tummeln sich mehrere Beamte in weißen Anzügen.

„Polizisten“, sagt Parker.

„Polizisten?“, wiederholt Karadeniz fragend. „Das sind Spezialisten. Forensiker. Jede noch so kleine Spur finden die, und glauben Sie mir, die sind gut. Unsere Computerexperten sind bereits dabei Ihr Laptop und Smartphone auszuwerten. Sieht nicht gut aus für Sie. Glauben Sie, wir betreiben hier den ganzen Aufwand, weil Sie - wie viele andere Segler auch - zwischen Griechenland und der Türkei pendeln, als wäre es ein Gang zum Supermarkt? Glauben Sie, wir wissen nicht, dass Typen wie Sie unsere Hoheitsrechte mit Füßen treten? Das war nur ein Test, ob ich Ihnen vertrauen kann. Aber ein kleiner Tipp, sollten Sie jemals wieder hier rauskommen, wovon ich derzeit nicht ausgehe, löschen Sie doch einfach die Daten an Ihrem Kartenplotter, wenn Sie internationale Grenzen ignorieren. Aber glauben Sie wirklich, für so einen Schwachsinn kommt extra ein Sonderermittler aus Istanbul? Auch wenn ich Sie allein für Ihre gedankenlosen Grenzübertritte ein paar Jahre in den Knast schicken könnte. Was finden wir noch auf Ihrem Schiff? Die Tatwaffe vielleicht? Also, ein letztes Mal, was haben Sie getan? Und warum?“

Parker starrt Karadeniz fassungslos an. „Was für eine Tatwaffe? Ich will jetzt meinen Anwalt sprechen“, ist alles was ihm einfällt.

„Gut“, sagt Karadeniz, „rufen Sie ihn an.“ Er reicht Parker sein Telefon.

Parker greift es, zögert dann. „Ich kenne keinen Anwalt in der Türkei“, sagt er nach kurzem Überlegen.

Karadeniz atmet tief in den Bauch. „Soll das jetzt etwa mein Problem sein?“

„Dann rufe ich die Botschaft an“, sagt Parker, „die werden mir ja einen Anwalt empfehlen können“.

Karadeniz winkt ab. „Können Sie sich schenken. Ein Verbindungsbeamter vom BKA ist bereits auf dem Weg hierher. Er müsste eigentlich bald da sein.

Parker hakt nach: „Vom BKA? Dem Bundeskriminalamt? Ist das nicht…“

Karadeniz beendet den Satz: „Routine!“ Und ergänzt: „Immer, wenn ein deutscher Staatsbürger ermordet wird, schaltet sich das BKA ein.“

„Ermordet?“, wiederholt Parker schockiert. „Wer? Kenne ich das Opfer? Und was habe ich damit zu tun?“

Karadeniz fährt einfach fort. „Aber die sollen bloß nicht glauben, wir geben den Fall ab. Opfer und Täter sind Deutsche - na und? Trotzdem bleibt der Fall hier. Und ich sage Ihnen, lieber Parker, auf Mord steht auch hier lebenslänglich. Und lebenslänglich heißt hier lebenslänglich. Keine Vollpension mit Schwimmbad, Fitnessstudio und Fernseher in der Zelle. Und nach acht Jahren gibt es auch bei guter Führung keine Haftverschonung. Wenn ich Sie wäre, würde ich langsam mal auspacken.“ Karadeniz redet sich in Rage. „Mann, Sie regen mich auf!“, brüllt er Parker an und geht dann zur Tür.

Mit bereits einer Hand an der Klinke dreht er sich noch einmal um. „Wollen Sie auch ein Wasser? Von dem vielen Reden habe ich einen ganz trockenen Hals bekommen.“

Parker antwortet nicht, er sitzt nur stumm und in sich zusammengefallen da. Karadeniz grunzt verzweifelt auf, dann verlässt er den Raum.

Kurze Zeit später kommt er zurück, stellt zwei kleine Wasserflaschen auf den Tisch. Die Getränke müssen kalt sein. Die Plastikflaschen beschlagen und bilden kleine Tropfen, die kreisrunde Tümpel auf dem Tisch bilden.

„Gläser habe ich keine gefunden. Ich hoffe, dass geht in Ordnung?“ Karadeniz schaut Parker versöhnlich an. „Wir hatten einen, sagen wir mal vorsichtig ausgedrückt, etwas holprigen Start. Aber Mensch Parker, Sie dürfen mich doch nicht anlügen. Das kränkt mich. Ich bin Ihr Verbündeter, wir sprechen die gleiche Sprache. Ich bin kein Staatsanwalt, der anklagen will. Ich bin Polizist. Unsere Aufgabe ist es, aufzuklären. Sie wollen sich doch nicht darauf verlassen, dass irgend so ein Winkeladvokat Sie hier rausholt? Sie wissen ja nicht mal, ob der Sie versteht oder ob der Dolmetscher Sie richtig übersetzt. Was glauben Sie eigentlich, wer hier als Pflichtverteidiger Aufträge bekommt? Die, die der Staatsanwaltschaft einheizen? Oder die, die wenig Gegenwehr leisten und dafür dann den nächsten Fall bekommen? Ich will jetzt nicht so weit gehen und sagen, die, die Teil des Systems sind, aber glauben Sie denn, ein wirklich guter Anwalt, der den Behörden das Leben schwer macht, bekommt noch einmal den Anruf, dass ein Inhaftierter seine Hilfe braucht?“

Der Kommissar schaut Parker mit besorgter Miene an. Sekunden verstreichen. Dann fährt Karadeniz fort, sein Ton wird rauer: „Wissen Sie eigentlich, was da draußen Ihretwegen los ist? Nicht hier in Marmaris. Sondern in Ankara. Und auch in Berlin. Ihr Fall wird auf den höchsten diplomatischen Ebenen diskutiert. Wieder ein Deutscher im Knast! Ein anderer deutscher Staatsbürger tot. In der Türkei. Dem Unrechtsstaat. Solche Nachrichten kann wirklich niemand gebrauchen. Ihr wollt doch wieder ruhigen Gewissens Eure Panzer in die Türkei verkaufen und gedankenlos am Strand in der Sonne brutzeln. Die Türkei und Deutschland nähern sich gerade wieder etwas an. Trotz aller diplomatischen Spannungen: Flüchtlinge, Syrien, inhaftierte Journalisten und Landsleute von Ihnen. Wissen Sie eigentlich, wie viele Deutsche in der Türkei im Gefängnis sitzen?“ Karadeniz schaut Parker an. „Na los, schätzen Sie mal!“

„Keine Ahnung, zehn vielleicht? Oder zwanzig?“, rät Parker.

„Weit mehr“, sagt der Kommissar. „62 sind es derzeit. Dazu kommen noch 38 Deutsche, die wegen einer Ausreisesperre festgehalten werden. Eine schöne runde Zahl - einhundert insgesamt! Unglaublich, oder? Und kaum einer in Deutschland hat davon eine Ahnung. Seit Deniz Yücel, dieser Journalist, wieder zurück in Deutschland ist, gibt es kein Gesicht mehr, das die Medien - und schon gar nicht die Massen - mit Verhaftungen in der Türkei assoziieren. Und warum ist das so? Weil es so gewollt ist. Von der Politik. Bei uns, aber genauso auch Ihnen. Und Sie, lieber Herr Parker, sind jetzt eine neue Belastungsprobe für die bilateralen Beziehungen unserer beider Länder. Wissen Sie, was denen da oben am liebsten wäre? Die wollen Sie hinter Gittern sehen. Nicht nur die Türken, auch die Deutschen. Am liebsten noch heute Nachmittag. Schnell und geräuschlos. Sie wären lediglich Nummer 101. Ein Mord unter Touristen, eine Beziehungstat, eine hervorragende Zusammenarbeit zwischen den Behörden beider Länder, eine schnelle Aufklärung. Fertig, aus, abhaken. Zurück an den Strand. Würde sich ein Tourist deshalb unwohl fühlen? Morgen sind das vielleicht fünf Zeilen in der Bild-Zeitung. Mehr nicht. Verstehen Sie, was hier gerade abläuft?“

Parker ist blass im Gesicht, sein Magen rebelliert. Erst schüttelt er den Kopf, dann nickt er. Er fährt sich mit seiner Hand nervös durch die Haare. Und alles, was ihm einfällt zu sagen, ist: „Scheiße!“

Dann setzt Karadeniz wieder an. In seinen Augen blitzt etwas Triumphales auf. Er ahnt, oder zumindest hofft er, Parker gebrochen zu haben. „Was die da oben gar nicht gebrauchen können, sind jetzt Berichte in der Presse wie ‚Deutscher Urlauber in der Türkei unschuldig in Haft?‘. Das ist Gift für unseren Tourismus, der gerade erst wieder anläuft. Sie wissen selbst, wie beschissen die wirtschaftliche Lage ist, wie sehr unsere Regierung unter Druck steht, oder? Jeder verdammte Euro ist wichtig für die Stabilität in der Türkei. Und der Deutsche an sich nässt sich ja gern ein, sobald von einem verhafteten Landsmann die Rede ist, richtig? Dann doch lieber nach Spanien. Er storniert die Reise, unsere Hotels bleiben leer, die Restaurants auch. Tausende verlieren ihren Job, die Tourismusbranche leidet, der Lira-Kurs schmiert weiter ab und zieht andere Branchen mit in den Abgrund.“ Karadeniz hat sich in Fahrt geredet. „Wissen Sie, wie wichtig Urlauber für unser Land sind? Vergangenes Jahr hat der Tourismus über 82 Milliarden Euro erwirtschaftet, das sind zwölf Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes. Nach drei Jahren Talfahrt geht es wieder aufwärts. Zuletzt um 8,6 Prozent.“ Karadeniz versucht sich selbst zu bremsen. Er holt tief Luft. Dann setzt er zum finalen Schlag an: „Darum geht es in diesem Fall. Um Politik. Nicht um Herrn Parker aus Hamburg.“

Parker starrt den Kommissar fassungslos an und will gerade etwas sagen, als Karadeniz noch einen draufsetzt: „Selbst, wenn Sie unschuldig sind, niemand, wirklich niemand, hat daran ein Interesse. Wenn Sie schnell weggesperrt werden, gewinnen alle. Außer Sie natürlich. Niemand braucht mehr Angst vor einem frei herumlaufenden Mörder zu haben. Und niemand wird Mitleid mit Ihnen empfinden, wenn Sie der Tat schuldig gesprochen werden. Ein Mörder gehört nun mal hinter Gitter. Das schreckt keine Touristen ab. Aber ein vielleicht Unschuldiger hinter Gittern, das kann schnell als Schikane ausgelegt werden. Und schon ist die Türkei wieder ein ‚Unrechtsstaat‘, der ein Exempel an einem harmlosen Touristen statuiert. Und glauben Sie mir, deshalb wird jedes Details über den Mord bekannt gegeben werden, um Sie als Monster darzustellen, das kein Mitleid verdient. Als ein Monster, für das nicht einmal die Unschuldsvermutung gelten darf. Die Presse wird sich darauf stürzen. Nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland. Die Medien werden Sie in der Luft zerreißen. Mir kann das alles im Prinzip egal sein. Ich mache nur meinen Job.“

Parker blickt vom Tisch auf, seine Pupillen sich geschärft. Er schaut Karadeniz in die Augen. „Aber?“, will er von dem Kommissar wissen. „Da ist doch ein ‚aber‘ in Ihrem Satz? Eine Brücke. Oder habe ich Sie falsch verstanden?“

Karadeniz überlegt, wie er sich am besten ausdrücken soll: „Ich bin ein Idiot. Und wissen Sie warum?“ Er wartet keine Antwort ab, fährt einfach fort: „Weil ich ein Idealist bin. Ich persönlich scheiße auf Diplomatie. Mein Anspruch ist ein ganz anderer: Ich will den Fall aufklären. Deshalb bin ich Polizist geworden.“ Der Kommissar greift zu einer Flasche mit Wasser, trinkt sie zur Hälfte in einem Zug leer. Parker sitzt nur reglos da, tiefe Falten legen sich auf seine Stirn. Eben noch dachte er an ein Missverständnis, daran, dass er heute Nachmittag schon wieder auf seinem Boot sitzen könnte und über all das hier lachen würde. Aber jetzt realisiert er, dass er am Arsch ist. Außer er geht auf das Spiel des Kommissars ein.

Karadeniz schaut ihn an: „Also, was ist? Wollen wir warten bis der BKA-Beamte auftaucht und uns anschweigen? Oder wollen wir etwas Plaudern? Off the records. Das verspreche ich. Wir könnten uns etwas kennenlernen. Wollen Sie etwas von mir wissen? Fragen Sie mich!“

Karadeniz schaut Parker erwartungsvoll an. Aber der reagiert nicht. Parker hofft auf einen Traum, aus dem er gleich erwachen wird, schweißgebadet, aber frei. Darauf, dass er wieder mal nur eine von seinen Pillen nicht vertragen hat. Aber da ist sie wieder, diese Stimme mit dem rheinischen Zungenschlag, die immer weiter auf ihn einredet. „Nicht? Gut! Dann habe ich eine Frage. Ganz unter uns: Wie ist Ihr Verhältnis zu Julia Schneider?“

Die letzten Sätze brauchen ein paar Sekunden bis sie durch die Schichten aus Watte in Parkers Kopf vordringen können. „Was? Wer?“, stottert er. Er hatte gehofft, diesen Namen nie wieder zu hören.

„Kommen Sie“, sagt Karadeniz. „Wir hatten doch eine Abmachung: Keine Lügen mehr. Oder wollen Sie etwa behaupten, Sie kennen keine Julia Schneider?“

„Scheiße ja,“ stammelt Parker. „Also nein, ich kenne sie. Natürlich. Aber nur flüchtig. Sie ist die Frau von einem Freund aus dem Segelverein. Also keinem richtigen Freund, er ist eher ein Vereinskamerad. Und sie ist…“, Parker sucht nach den passenden Worten, kann sie aber nicht sofort finden.

„Und sie ist…was?“, drängt Karadeniz ihn.

„Sie ist eine Stalkerin“, bricht es aus Parker raus. „Sie ist wirr im Kopf. Komplett durchgeknallt.“

Karadeniz haut wieder mit der flachen Hand auf den Tisch. Parker zuckt zusammen. Aber diesmal lacht Karadeniz. „Ich mag Ihren Wortwitz, Parker. ‚Durchgeknallt‘. Schmutzige Doppeldeutigkeit.“ Dann wird er wieder ernster, fast freundschaftlich flüstert er: „Also unter uns: Wie ‚stehen‘ Sie zu ihr?“ Er zwinkert mehrmals mit seinem linken Auge.

„Ist…ist Sie tot?“, fragt Parker fassungslos. „Reden wir die ganze Zeit von Julia Schneider?“

Karadeniz seufzt nur und schaut besorgt auf seine Armbanduhr. „Nur noch fünf Stunden!“, mahnt er während er auf das Zifferblatt tippt. „Dann mache ich hier die Biege. Also erzählen Sie mir von ihr. Wie haben Sie sich kennengelernt?“

Tausende Gedanken mäandern durch Parkers Kopf. Er kann sie nicht kanalisieren, er ist wie gelähmt. Er erwartet eine Panikattacke, aber sie kommt nicht. Das erste Mal ist er wirklich in Gefahr und erstarrt zur Salzsäule. Der Säbelzahntiger hätte leichtes Spiel mit ihm.

Die Stalkerin

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