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Hamburg (zwei Jahre zuvor)

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„Was machst Du denn noch hier?“, fragt Steffen. Parker blickt von seinem Computer auf. Sein Partner steht in der Tür seines Eckbüros. Unten im Fleet schiebt sich gerade die ‚Hedi‘, eine zum Club umgebaute Hafenbarkasse, mit lauten Bässen durch die Speicherstadt. Es ist kurz nach 21 Uhr. „Sieh zu, dass Du in den Urlaub kommst“, ermahnt ihn Steffen freundschaftlich.

Parker stöhnt. „Ich weiß nicht. Wenn ich mir das hier alles anschaue“, sein Blick wandert über den vollen Schreibtisch, „dann habe ich echt ein schlechtes Gewissen, segeln zu gehen.“

Steffen kräuselt die Stirn. „Spinnst Du? Ist doch alles geregelt. Alles wird wunderbar laufen. Auch wenn Du es nicht hören willst: Aber der Laden läuft auch ohne Dich.“

Parker versucht zu lächeln. „Jaja, aber…“.

„Kein aber. Schau Dich mal an, Du siehst echt fertig aus. Die zwei Wochen auf dem Schiff werden Dir guttun.“

Parker grunzt widerwillig. Wahrscheinlich hat Steffen Recht. Und wenn er einmal an der See ist, dann wird es ihm auch schlagartig besser gehen. Mit Sören, Tim und Jenny hat er drei gute Freunde dabei, erfahrene Segler. Seit fünf Jahren nehmen sie zusammen an der Vereinsregatta rund Fünen teil. In zehn Etappen geht es einmal um die drittgrößte Insel Dänemarks. Start ist wie immer am zweiten Sonntagmorgen im Mai in Maasholm, dort wo die Schlei, ein langgezogener Fjord der knapp 50 Kilometer tief ins Land bis Schleswig ragt, in die Ostsee mündet. Das Ziel ist wieder Maasholm, wo zwei Wochen später die Siegerehrung stattfindet. Und natürlich die große Party. Parker hatte die Regatta vor einigen Jahren mitinitiiert, um das eingeschlafene Vereinsleben wieder aufzupeppen, besonders für die jüngeren Mitglieder, die ihr Boot nicht nur als schwimmenden Schrebergarten nutzen. Dieses Jahr haben 26 Yachten gemeldet, knapp 100 Teilnehmer. Es war Parkers Idee gewesen, drei Tage Reserve in die Regatta einzubauen, um den Charakter einer Spaßregatta nicht zu gefährden und somit auch unerfahreneren Crews die Teilnahme schmackhaft zu machen. Bei schwerem Wetter muss das Feld nicht auslaufen, bei herrlichem Sonnenschein oder Flaute ist Zeit für einen Badestopp oder die obligatorische Busfahrt nach Odense, in die Hauptstadt der Insel, in der der bekannteste dänische Dichter und Schriftsteller Hans Christian Andersen lebte. Zudem ist die Teilnahme auch Crews aus anderen Häfen und Vereinen vorbehalten, ein Angebot, dass sich von Jahr zu Jahr größerer Beliebtheit erfreut - und die Regatta spannend hält. Vergangenes Jahr hat Parker sogar mit seiner Arkona die Klasse gewonnen. Zusammen mit Sören, Tim und Jenny bildet er ein eingespieltes Team. Auch Selena war mit an Bord. Das war kurz vor der Trennung.

Dieses Jahr starten sie aber erstmals mit Sörens Yacht, einer fünf Jahre alten Hanse 34. Parker hatte rechtzeitig dafür gesorgt, dass sein Boot nicht einsatzbereit ist. Er hatte die Nähte an seinem Großsegel aufgeschlitzt, damit er einen Grund hatte, es zum Segelmacher zu bringen. Und der war ‚dummerweise‘ so beschäftigt, dass das Tuch erst nach der Regatta fertig werden würde.

Wenn Parker also kurzfristig absagen müsste, würde er seinen Freunden wenigstens nicht die Regatta versauen. Das war sein Plan. Schon seit Wochen rumorte es in seinem Kopf. Bereits ab Mitte März suchte er nach passenden Ausreden, um dieses Jahr die Wettfahrt abzusagen, die in den vergangenen Jahren für ihn jeweils die besten zwei Wochen der Saison markierte. ‚Magen-Darm‘ als Alibi war keine Option. Er selbst hatte Sören vor zwei Jahren aus dem Bett getrieben, als der mit Fieber danieder lag. Die Arbeit war das Einzige, was ihn entschuldigen könnte. Als Agenturchef war er nun mal unentbehrlich. Dafür mussten seine Freunde einfach Verständnis haben. Statt ihn Weichei zu schimpfen, wie bei einem vorgeschobenen Wehwehchen, würde er sogar Mitleid bekommen. Armer Parker, statt zu segeln muss er wieder schuften.

An manchen Tagen freute Parker sich wahnsinnig auf die zwei Wochen mit seinen Freunden, an anderen löste allein die Vorstellung daran pure Panik in ihm aus. Gefangen auf einem Boot, kein Platz zum Rückzug, keine Chance sich zu verstecken. Dabei graute ihm es nicht vor dem Segeln an sich. Sondern vor den Abenden, auf die er sich früher so gefreut hatte. Mal grillten alle Teilnehmer zusammen, mal gingen sie zusammen in ein Restaurant, für den Abschlussabend hatten sie ein großes Zelt in Maasholm geordert - für die Siegerehrung und die anschließende Party. Es gab Livemusik, Bier vom Fass und Spanferkel frisch vom Grill.

Seit einigen Monaten war Parker aber nicht mehr nach Party zumute. Menschenansammlungen mied er, laute Musik ließ seinen Kopf platzen, Smalltalk konnte er nicht mehr ertragen. Immer öfter hatte er dieses Gefühl, einfach umzukippen. Damit hatte es begonnen. Dann kam das Augenflackern hinzu. Migräne mit Aura diagnostizierten die Ärzte später. Wohl stressbedingt. Und dann die Panikattacken. Er isolierte sich immer mehr, erfand Ausreden, warum er unpässlich sei.

An diesem Abend, als Steffen ihn aus dem Büro scheuchen will, hat er auch keine Bedenken, dass er in der Agentur fehlen könne, er sucht bereits nach der Ausrede, Sören, Tim und Jenny doch noch abzusagen. In der folgenden Nacht, der vor der Abreise, wälzt er sich von einer Seite auf die andere, schwitzt und fühlt sich hundeelend. Einmal hat er das Smartphone schon in der Hand, sucht den Gruppenchat ‚Titelverteidigung‘ und tippt „Sorry Leute, liege mit Schüttelfrost im Bett. Und wenn ich sage, ich könnte kotzen, dann ist das keine Phrase“ in den Messenger. Während er noch nach dem grünen, reihernden Emoticon sucht, löscht er die Nachricht aber wieder. „Reiß Dich zusammen“, brüllt er sich an. Fast erschreckt er vor sich selbst, aber es hilft. Er muss ja nicht mal Auto fahren, beruhigt er sich. Sören holt ihn am Morgen ab. Außerdem weiß er, dass Bier ihn meistens beruhigen kann. Und wenn es einen Ort gibt, an dem niemand ihn schief anschaut, weil er schon am Vormittag ein Bier trinkt, dann ist es im Hafen und auch auf dem Schiff - selbst bei einer Regatta. Sören, Tim und auch Jenny tun es ihm gleich, nein, eigentlich spornen sie ihn dazu sogar an. Wenn er es sich recht überlegt, trinken sie noch mehr als er. Am nächsten Morgen kauert Parker auf dem Beifahrersitz von Sörens Audi. Den einen Kaffeebecher hält er krampfhaft in der Hand, den zweiten hat er in der Mittelkonsole abgestellt. Sören trinkt keinen Kaffee, beide Becher sind für ihn. „Alles klar bei Dir?“, fragt Sören besorgt nach einiger Zeit. „Du hast Dir jetzt schon das dritte Kaugummi in den Mund gesteckt und kaust darauf rum wie eine Kuh auf Speed.“ „Was?“, fragt Parker wie entrückt. „Jaja, alles gut. Bin nur etwas platt. Und Kopfschmerzen habe ich ein bisschen. Die halbe Nacht musste ich noch arbeiten. Die kriegen auch nichts alleine hin. Nichts gegen Steffen, ein genialer Kopf, aber wenn er Verantwortung übernehmen muss, dreht er durch. Du kennst ihn ja.“ Beide lachen. Parker versucht unbemerkt das aufkommende Pochen in seinem Schädel wegzumassieren, versinkt dabei immer tiefer in seinem Sitz, dessen Lehne er bereits bei Fahrtbeginn weit nach hinten gedreht hat. Er liegt mehr, als dass er sitzt, dennoch kommt ihm jede seichte Berührung des Sicherheitsgurtes auf seiner Brust vor, als drücke eine zentnerschwere Last auf seinen Körper. „Ist es in Ordnung, wenn ich mal kurz die Augen zumache?“, fragt er Sören.

„Logisch!“, antwortet der.

„Ich habe echt das blöde Gefühl, dass Steffen morgen schon anruft und rumjammert. Ich sehe schon, wie ihr ohne mich ablegt“, sucht Parker weiterhin nach einer Ausrede, um die Regatta doch noch abzusagen. Gleichzeitig schießt ihm durch den Kopf, dass er dann ja irgendwie vom Hafen zum nächsten Bahnhof muss, um von dort mit dem Zug nach Hamburg zu fahren. Bis er in seinem Vorort angekommen ist, muss er mindestens drei Mal umsteigen. Auch diese Vorstellung löst Panik in ihm aus.

„Alter, keine Chance. Wir binden Dich am Mast fest, dann kannst Du der alten Heulsuse Steffen nicht hinterherrennen. Aber jetzt schalt mal ab, mach die Augen zu. In einer Stunde gibt es das erste Bier. Dann sieht die Welt gleich ganz anders aus.“

Sören sollte Recht behalten. Mit jedem Tag im Regatta- und Partymodus wird Parker ruhiger. Er genießt die Tage mit seinen Freunden, selbst auf den abendlichen Veranstaltungen hat er Spaß. Die Ablenkung tut ihm sichtlich gut. Nur hin und wieder hört er in sich hinein, findet wonach er sucht, ein Zwicken hier oder ein Stechen dort, und schon wird ihm schlecht. Aber dann kommt schon die nächste Wende oder das nächste Bier. Vergessen ist der Phantomschmerz, vergessen die Paranoia.

Wie immer, wenn es ihm gut geht, steckt er alle anderen mit seiner offenen Art an, begeistert mit seinen Anekdoten und Zoten. Auch Julia Schneider lacht mit ihm, hört zu. Nur selten trägt sie aber etwas zu den Gesprächen zwischen Bert, ihrem Mann, Parker und all den anderen bei. Wie an diesem Abend in dem Restaurant in Middelfart, ganz im Nordwesten von Fünen, das der Verein gemietet hat. Auch hier sitzt Julia Schneider meist nur da und lächelt in sich gekehrt. Mal steht sie am Tresen neben Parker, als er die nächste Runde Bier holt, und hilft tragen, mal begegnen sie sich auf dem Weg zum WC. Ein Nicken, ein Lächeln. Mehr nicht. Ein, zwei, drei Mal sind sie sich wohl noch begegnet in dieser Woche, auf dem Steg oder im Supermarkt. Ein bisschen Smalltalk. Wind, Wetter, Regatta. An ihrer Seite immer Bert. An den Abenden, an denen es kein festes Programm gibt, und Parker mit Sören, Tim und Jenny in einer Bar sitzt, oder mit den anderen am Steg chillt und Biere killt, ist von Bert und Julia meist nichts zu sehen. Wahrscheinlich sitzen sie in ihrem Boot und wärmen eine Dose Ravioli aus dem Discounter auf, wie sie es meist tun. Niemand vermisst sie, weil es nicht einmal auffällt, dass sie nicht anwesend sind. Schon gar nicht Parker. Auch wenn es ihm in dieser Woche besser geht als alle Monate zuvor, so kreisen seine Gedanken oft um seine Angstattacken. Und um Liv. Und die Frage, ob es da einen Zusammenhang gibt.

Mit der Titelverteidigung klappt es in diesem Jahr nicht. Platz acht im Gesamtfeld, dritter in der Klasse Serienyachten zwischen 30 und 36 Fuß. Aber im nächsten Jahr wollen sie wieder vorne mitmischen, auf Parkers Arkona 32, die zwar längst nicht so komfortabel ist wie Sörens „Joghurtbecher“, wie Parker spöttisch die Yachten vom Fließband nennt, dafür recht schnell. Auf die Schweden ist eben Verlass beim Bootsbau.

Parker ist wie beschwingt, als Sören ihn nach der Regatta vor seiner Haustür absetzt. Die zwei Wochen auf der Ostsee, die Gesellschaft, die Ablenkung haben ihm gutgetan. Doch kaum sitzt er allein auf seinem Sofa, da kreisen wieder seine Gedanken. Um die Arbeit, den Weg dorthin, die Autobahn, die Meetings. Die kranken Gedanken saugen die Kraft, die er in vierzehn Tagen geschöpft hat, in wenigen Stunden aus seinem Körper. Und als er sich ins Bett legt, ist da wieder nichts als Leere.

Fünf Tage schleppt er sich ins Büro, mit kalten Fingern und nassen Achseln. Er rubbelt auf der Autobahn an den Haaren, schnuppert am Schweiß, der nach Angst riecht, und als das rettende Wochenende endlich da ist, sitzt er ermattet auf dem Sofa, genervt von der Sonne, die ihn nach draußen locken will. Aber Parker bevorzugt es, einfach nur dazusitzen und nichts zu tun. Zu mehr fühlt er sich nicht in der Lage. Er surft im Netz, schaut sich die Fotos der Regatta auf der Webseite des Vereins an. Er sieht einen blonden Mann mit Dreitagebart und Seitenscheitel, rot im Gesicht wie ein Hummer im siedenden Kochtopf. Einen Mann, der lacht und labert, der Grimassen schneidet, Arm in Arm mit seinen Freuden. Er sieht einen glücklichen Mann. Aber nur er weiß, dass dieser Mann zwei Gesichter hat. Nur er weiß, wie es in ihm wirklich aussieht. Nur er kennt das Dunkel, das ihn umgibt. Pling!

Auf Facebook erreicht ihn eine Freundschaftsanfrage: von Julia Schneider. Parker bestätigt sie. Dann surft er weiter im Netz. Ziellos, planlos. Pling! Eine Nachricht: von Julia Schneider. Gelangweilt klickt er sie an. Er überfliegt die ersten Zeilen. Dann schüttelt er sich, sitzt jetzt kerzengerade auf dem Sofa. Was steht da? Er beginnt von vorne zu lesen:

Lieber Peter, tut mir so leid, hätte Dich gerne in die Arme genommen. Aber es wirkte in dem Moment falsch. Ich wollte Dich nicht in Verlegenheit bringen. Ich vermisse es jetzt schon, Dich jeden Tag zu sehen. Ich hoffe, Du bist gut zu Hause angekommen. Wir sind ja noch auf dem Schiff, machen ein paar Tage Urlaub. Ich würde Dich aber gerne treffen. Bert ist übernächste Woche auf Dienstreise. Ich könnte nach Hamburg kommen. Oder wohin immer Du willst. Ganz liebe Grüße, Julia.“

Parker knallt das Laptop zu. „Was ist das denn jetzt für eine Scheiße?“, fragt er sich. In die Arme nehmen? Vermissen? Spinnt die?

Schlagartig ist sein Kopf schwer. Die Nachricht hat ausgereicht, um seinen Stresspegel die Reizschwelle überschreiten zu lassen, die Migräne und Angstzustände bei ihm auslöst. Weil er dauergestresst ist, braucht es dazu nicht viel. Eine Autofahrt, eine Schlange an der Supermarktkasse, irgendetwas Ungewöhnliches, das ihn überfordert, das ihn kalt erwischt. Sofort fühlt er sich unwohl - fahrig und benommen. Selbst eine Mail mit merkwürdigem Inhalt hat anscheinend das Potenzial, ihn aus seiner Komfortzone zu katapultieren.

Früher hätte er über so eine Nachricht gelacht, sich vielleicht sogar ein bisschen geschmeichelt gefühlt, die Mail und die Verfasserin aber jedenfalls nicht ernst genommen. Weitermachen, business as usual, wie immer. Was kümmern ihn die anderen? Aber diesmal ist es anders. Parker schüttet eine halbe Flasche Wasser in sich hinein, konzentriert sich auf sein Atmen. Es kann nicht anders sein, versucht er sich zu beruhigen: die Alte hat doch tatsächlich eine Affäre, ist aber zu blöd, den richtigen Peter anzuschreiben. Logisch, so muss es sein.

Parker klappt das Laptop wieder auf, liest die Nachricht erneut. Im Chatfenster leuchtet ein grüner Punkt neben dem Namen ‚Julia Schneider‘. Sie ist also online. Und unter ihrer Nachricht an ihn steht der Status ‚gelesen‘. Sie weiß also, dass Parker ihren Text zur Kenntnis genommen hat. Wie versteinert sitzt er vor dem Bildschirm, weiß nicht, was er tun soll. Sie schreibt gerade eine neue Nachricht an ihn, auch das teilt Facebook ihm in Echtzeit mit. Wahrscheinlich hat sie ihren Fehler bemerkt. Mal schauen, wie sie ihn geradebiegen will, denkt er. Doch Parker liegt falsch.

„Die Gefühle, die Du bei mir geweckt hast, geben mir viel Energie. Vielen Dank dafür. Ich muss mich wohl wieder dem Leben stellen. Nach meinem Unfall war das lange nicht möglich.“

Jetzt erinnert sich Parker wieder. Irgendetwas hatte sie von einem Unfall gefaselt, an diesem Abend im Restaurant, auch davon, dass sie mal Sportlerin war. Rudern? Parker kramt in seinem Gedächtnis. Oder war es Schwimmen? Irgendetwas mit Wasser, da ist er sich sicher. Wahrscheinlich hatte er damals in dem Restaurant eine seiner Plattitüden losgelassen. Warme Worte, so wohlig wie das Knistern eines Kamins. Als Werbetexter weiß er, wie das geht. Leuten ein gutes Gefühl geben, um ihnen den größten Müll anzudrehen. Aber jetzt fehlen ihm die Worte. Was soll er antworten? Oder soll er gar nicht antworten? Es dauert zwei Stunden, bis er sich endlich durchringt. Zwei Stunden, in denen er nicht zur Ruhe kommt. Am liebsten würde er ihr schreiben, dass bei ihr wohl ein paar Schrauben locker seien. Er steigert sich immer mehr hinein, wird wütend und ungerecht, weil er keine gute Antwort findet. Wie kann die sich einbilden, dass sie bei einem Typen wie ihm eine Chance hätte? Julia Schneider ist locker über Fünfzig. Er gerade mal Mitte Vierzig. In seiner kleinen chauvinistischen Welt ein absolutes No-go.

Parkers Freundinnen waren immer deutlich jünger als er gewesen. Und je älter er wurde, um so größer wurde der Altersunterschied. Selena, seine letzte Lebensgefährtin, die noch vor gar nicht so langer Zeit aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen ist, war zwölf Jahre jünger als er. Er erinnert sich noch, wie er zu ihr sagte, kurz nachdem sie zusammengekommen waren, dass sie noch zwei gute Jahre vor sich hätten. An ihrem 30. Geburtstag müsse er sich leider trennen. Er habe schließlich noch nie eine Freundin gehabt, die älter als 30 war. Und so solle es auch bleiben. Er fand das lustig. Sie ging ins Schlafzimmer und weinte.

Aber seit er nicht mehr er selbst ist, es ihm schlecht geht, hat er sich verändert. Früher hatte Parker keinen Konflikt gescheut, Kritik perlte an ihm ab wie Salzwasser an seinem Ölzeug in einem Sturm. Respekt vor den Naturgewalten, ja den hatte er, aber keine Angst. Angst war etwas für Schwächlinge. Für Verlierertypen. Er war ein Gewinner. Was scherte ihn die Meinung der anderen, er hatte ja doch Recht. Er wusste, er konnte ein Arschloch sein. Und es machte ihm nichts aus. Aber jetzt, wo er nur noch ein Schatten seiner selbst war, wo er am eigenen Körper erfahren hatte, was es heißt, verletzbar und hilflos zu sein, da wählt er andere, sanftere Töne. „Hallo Julia, danke für die netten Worte. Ich hatte ja keine Ahnung, was da alles in Dir vorgeht. Ein Treffen halte ich allerdings für keine so gute Idee. Ich hoffe, dass ist für Dich okay. Gruß aus dem grauen Hamburg, Peter.“ Senden!

Parker ist zufrieden. Kurz, knapp, aber nicht beleidigend. Alles gesagt, alles erledigt. Kurz denkt er an Bert, er und Julia schienen eigentlich unzertrennlich. Ein glückliches Paar. Wie man sich täuschen kann. Dann denkt er an das nächste Aufeinandertreffen, wahrscheinlich beim Sommerfest. Wie unangenehm! Wie soll er sich gegenüber Bert verhalten? Wie gegenüber Julia? So tun, als wäre nichts gewesen? Das erscheint ihm am besten. Das Problem einfach aussitzen. In der Politik klappt das ja schließlich auch. Und es war ja auch nichts passiert. Schon gar nicht hat er sich etwas vorzuwerfen. Nicht wie beim letzten Sommerfest, als er, frisch getrennt, mit der Freundin von Freunden unter der Dusche im Vereinshaus rummachte, während nebenan die Party tobte. Aber diesmal? Keine Ahnung, wie diese Julia nur dazu kommt, so sonderbare Mails zu schreiben.

In der Nacht zu Sonntag liegt Parker wieder schlaflos im Bett. Er friert, er schwitzt. Die Decke drückt auf seinen Brustkorb als wiege sie Tonnen. Sein Körper ist hypersensibel. Er kann kaum atmen. Die Wade zwickt. Das Kopfkino strahlt die nächste Folge von ‚Parkers Paranoia‘ aus: Thrombose, Lungenembolie, Herzinfarkt, Schlaganfall. All das geht ihm durch den Kopf. Nicht zum ersten Mal.

Aber in diesem Moment ist er sich sicher, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. Er überlegt, ob er sich auf die Liege auf der Terrasse schleppen soll, damit die Nachbarn ihn am nächsten Morgen finden, bevor seine Überreste zu stinken anfangen. Er möchte nicht Tage vor sich hin verwesen in seinem Schlafzimmer, Brutstätte sein für Fliegen und Maden. Er quält sich aus dem Bett, geht in die Küche, stürzt hastig ein Glas Wasser hinunter, schluckt zwei Aspirin, um das Blut zu verdünnen. Sein Herz pocht, als sei er gerade von einem Langstreckenlauf zurückgekommen. Ständig fühlt er seinen Puls, der schnell, aber flach schlägt. Unmöglich jetzt zu schlafen. Also geht er ins Wohnzimmer und schaltet den Computer an. Julia hat wieder geschrieben.

„Kein Problem, Du hast sicherlich recht. Ein Besuch wäre sicherlich nicht so gut. Du musst Dir keine Sorgen um mich machen, den Unfall habe ich ja überlebt :) Aber auch noch eineinhalb Jahre später kämpfe ich mit den Folgen. Ich muss immer noch zur Reha. Bert hat mir immer toll geholfen und mich nie im Stich gelassen, das hat mich sehr gerührt, und ich werde ihm immer sehr dankbar dafür sein.“

Parker ist beruhigt. Die Mail scheint ganz vernünftig. Er antwortet: ‚Das klingt wirklich nach keiner leichten Zeit. Da wünsche ich erstmal gute Besserung.’ Ein Problem weniger, denkt er. Sein Puls wird ruhiger und kräftiger. Er geht zurück ins Schlafzimmer und legt sich hin. Die Decke erdrückt ihn nicht mehr und er kann sogar ein bisschen schlafen. Trotzdem wacht er am nächsten Morgen wie gerädert auf. Aber immerhin: Er ist aufgewacht.

Parker macht sich einen Cappuccino mit viel Milchschaum, geht wieder ins Bett, schaltet den Fernseher an, zappt sich durch die Programme, döst immer mal wieder ein. Erst am Mittag steht er auf und weil er so lange gelegen hat, ist sein Kreislauf im Keller. Er schleppt sich auf das Sofa im Wohnzimmer, schaut zur Terrasse. Ein herrlich sonniger Tag. Vögel zwitschern, Hunde bellen. Er hört die Nachbarn im Garten lachen. Sein Kopf fühlt sich an wie zwischen einen Schraubstock gespannt. Wenn er zur Terrassentür blickt, flackert sein Sichtfeld wie ein Diaprojektor, auf dessen Linse Staubfäden tanzen. Wieder diese Migräne mit Aura. Er will den Vorhang zuziehen, das Licht aussperren, aber als er aufsteht, überfällt ihn Schwindel. Er geht in die Hocke, verharrt drei oder vier Sekunden. Dann fängt er sich wieder. Er sperrt das Licht aus und sich ein. Die Außenwelt wird immer mehr zu seinem Feind.

Bis zum Nachmittag vegetiert er auf dem Sofa im Halbdunkel vor sich hin. Die Glotze läuft, aber er hat keine Ahnung, was er sich anschaut. Es ist ihm auch egal. Er fühlt sich wie im Delirium. Das Telefon klingelt. ‚Sören‘ steht im Display. Aber Parker geht nicht ran. Reden ist ihm zu anstrengend. Also surft er im Netz, um sich abzulenken. Pling! Julia hat wieder geschrieben, natürlich.

„Ja, ist gerade eine sehr schwierige Zeit. Danke, dass du Dir Sorgen um mich machst.“

Es soll nicht bei dieser Mail bleiben. Pling, Pling, Pling! Immer neue Nachrichten trudeln bei ihm ein. Sie schreibt von Krankheiten und Verletzungen, von Behandlungen und MRTs, von Rückfällen und ihrem Kampf zurück ins Leben. Es geht um Operationen und alternative Heilmethoden. Um Selbstheilung und Fehldiagnosen. Und darum, dass sie immer alles übertreibe. Ein Buch, das wäre es doch! Über ihre Lebens- und Leidensgeschichte. Und den Kampf zurück ins Leben. Damit andere davon lernen können. Die letzte Mail beendet sie mit den Worten: „Sag mal, Du bist doch Texter. Was hältst Du davon, mein Ghostwriter zu werden? Keine schlechte Idee, oder?“

Oh doch, denkt Parker. Eine sehr schlechte Idee sogar. Er empfindet ein bisschen Mitleid mit der armen Frau. Sie scheint wirklich viel durchgemacht zu haben. Aber er ist nun wirklich nicht der seelische Mülleimer von anderen, nicht in seiner Situation und schon gar nicht von ihm eigentlich Fremden. Er hat genug Ballast, den er gerade mit sich rumschleppen muss. Also versucht er seine Absage so höflich wie möglich zu formulieren. Er fühle sich geehrt von dem Angebot, aber er habe neben dem Job überhaupt keine Zeit, ein Buch zu schreiben. Und weil er ohnehin den ganzen Tag schreibe, sei sein Kopf abends leer. Deshalb überlege er auch kürzer zu treten. Das war die falsche Antwort. Julia macht sich jetzt Sorgen, warnt vor einem Burnout. Sie hat tausend gute Tipps, die sie in etlichen Mails verpackt. Sie schreibt und schreibt und schreibt. Pling, Pling, Pling! Parker ist zu müde, um sie alle zu lesen. Schon gar nicht antwortet er. Aber auch am nächsten Tag schickt Julia sechs Nachrichten. Wieder antwortet Parker nicht. Er ignoriert die Mails und hofft, die Flut, die ihn zu ertränken droht, verwandelt sich in Ebbe. Aber immer, wenn er sich bei Facebook einloggt, sieht er, dass Julia Schneider online ist. Der grüne Punkt neben ihrem Profil verrät es. Und kaum ist er online, bekommt er auch schon eine neue Nachricht von ihr.

Parker fühlt sich beobachtet. Von dem kleinen runden Foto in seinen Kontakten starrt sie ihn unentwegt an. Unangenehm. Parker verändert seine Sicherheitseinstellungen, so dass er für andere unsichtbar bleibt. Aber jetzt kann er auch nicht mehr sehen, welcher seiner Freunde, die über den ganzen Globus verteilt sind, sich gerade auf der Seite rumtreibt und ansprechbar ist. Facebook ist zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens geworden, ein Tool, das ihn mit seinen Freunden und Bekannten weltweit verbindet. Und jetzt besetzt diese Julia Schneider seine Standleitung in die Außenwelt, greift in sein Leben und in seine Gewohnheiten ein. Parker ist genervt. Pling!

Ich überlege schon länger, ob ich ein Buch schreiben soll, und ich bitte Dich darum, es mit mir zusammen zu machen. Ich kann die Geschichte und die Gefühle gut aufschreiben, und Du kannst dann die lustigen Sprüche dazu schreiben und es korrigieren, damit es auch erfolgreich verkauft wird. Als Co-Autor steht Dein Name neben meinem und Du wirst natürlich auch am Verkauf beteiligt, ist ja klar. Mir fallen schon tausend Sachen ein, was ich über mein Leben schreiben will. Hast Du eine E-Mail-Adresse, an die ich meine Ideen schicken kann? Habe Dir meine Kontaktdaten schon weiter oben hingeschrieben. Brauchst keine Angst vor mir haben, ich flirte gerne. Ich will aber nie weiter als das. Verbietet mir einfach meine Moral.“

Okay, sie spielt nur, denkt Parker. Wahrscheinlich braucht sie einfach ein bisschen Aufmerksamkeit oder eine Aufgabe, um sich abzulenken von ihren Krankheiten und Unfällen. Also schreibt er: „Hahaha, nein, Angst habe ich sicher nicht vor Dir. Das Buch klingt wirklich nach einer interessanten Geschichte mit vielen Aspekten. Solltest Du machen.“

Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Pling!

Vielen lieben Dank, dass Du mir helfen willst. Ich fange schon mal an. Schön, dass wir schon so gute Freunde geworden sind, findet man ja nicht so oft im Leben.“

Pling!

„Ich brauche definitiv jetzt was zu tun und möchte loslegen. Wenn Du meinst, wir sollen erst darüber reden, dann muss es sehr bald sein. Wie gesagt, Bert fährt auf Dienstreise. Dann hätte ich das Auto zur freien Verfügung.“

Parker stöhnt auf. Er hat doch nur versucht, freundlich zu sein. Was genau versteht Julia denn nicht? Er antwortet genervt: „In der Agentur ist die Hölle los. Ich habe immer noch nicht den Berg abarbeiten können, der sich in den zwei Wochen aufgebaut hat. Und ich muss nach Mexiko.“

Das ist nicht einmal gelogen. Parker hofft, dass die Nachrichten von Julia nun endlich aufhören werden. Aber er täuscht sich. Wieder mal. Und das gewaltig. Meist im Halbstundentakt, mindestens aber mehrmals täglich, prasseln immer neue Mitteilungen bei ihm ein.

Pling!

„Okay, versteh ich. Dann fange ich einfach an und schicke es Dir. Ich brauche Deine Mailadresse!“

Pling!

„Hatte ich mir schon gedacht, dass Du viel zu tun hast, deswegen wollte ich ja auch zu Dir nach Hamburg kommen, damit ich Dich abends kurz stören könnte - und dich vielleicht auch zum Lachen bringen. Essen musst Du ja sicherlich auch zwischendurch, oder?“

Pling!

„Ich weiß, was mit Dir los ist. Mir geht es ja genauso.“

Pling!

„Ich wollte ja auch die Woche in Hamburg bleiben, um den Anfang zu schaffen.“

Pling!

„Ich komme schon klar, geht besser als erwartet.“

Pling!

„Ich merke, ich muss mich erst mal einschreiben, gar nicht so einfach.“

Pling!

„Meine Eltern leben beide nicht mehr.“

Pling!

„Machst Du Urlaub in Mexico mit deiner Freundin?“

Pling!

„Ich würde gerne mehr von Dir erfahren.“

Pling!

„Habe ich das auf Fünen richtig verstanden, dass du im Moment keine Freundin hast?“

Pling!

Hast Du eigentlich Geschwister? Leben Deine Eltern noch? Was sind deine Träume? Willst Du immer in Hamburg bleiben?“

Pling!

„Wie alt bist Du eigentlich?“

Pling! Sie schickt ein Foto, das sie aufgenommen hat. Von Parker. Bei der Regatta rund Fünen. Dazu schreibt sie: „Tolles Foto von Dir!“

Pling! Noch ein Foto. Diesmal von ihr. Im knappen Bikini. „Diesen Winter in Australien“, steht darunter.

Pling!

„Mir fehlt der Augenkontakt mit Dir, bis jetzt war mir nicht klar wie sehr. Meine Ehe funktioniert zwar sehr gut, aber meine tiefen Gefühle sind vor zehn Jahren verschwunden. Ich werde Dich diesmal nicht mehr abweisen, und in dem Moment weiß ich, dass meine Ehe zu Ende ist. Aber Bert wird mir überall hin folgen, und ich kann nicht Nein sagen. Ich muss ihm weh tun, obwohl er mein bester Freund ist.“

Lange Zeit hat Parker die Mails einfach ignoriert, einige nicht einmal gelesen, weil er nicht wollte, dass sie sieht, dass er sie gesehen hat. Sie würde schon irgendwann aufhören, wenn er nicht antwortet, dachte er. Mittlerweile fühlt er sich regelrecht belästigt. Und mehr noch genervt. Als er die letzte Nachricht mit einiger Verzögerung liest, schäumt er vor Wut. „Spinnt die? Was soll das heißen: ‚diesmal nicht mehr abweisen‘.“ Als hätte er ihr jemals Avancen gemacht. Er will ihr schreiben, sie anschreien: „Lass mich endlich in Ruhe. Ich will nichts von Dir.“ Aber weil er ahnt, dass Julia Probleme hat, versucht er es mit leiseren Tönen: „Wehtun ist sicher keine Lösung!“

Pling!

„Ich kann es auch doch nicht....ich kann das Problem nicht lösen.“

Pling!

„Habe auch gerade wieder einen Rückfall. Wenn ich ein Pferd wäre, hätte ich mich längst zum Schlachter gebracht, hahahahaha“

Pling!

„Verrätst Du mir, wie es Dir geht mit der ganzen Sache?“

Pling!

„Ich habe mich heftig in Dich verliebt.“

Pling!

„Aber ich liebe auch Bert!“

Pling!

„Du hast was viel Besseres verdient, ganz ehrlich. Ich muss Dich wieder loslassen, obwohl es mir sehr sehr schwerfällt.“

Parker gibt auf. Seit Tagen reagiert er auf keine Nachricht mehr von Julia Schneider. Er meidet Facebook, weil er weiß, dass wieder neue Nachrichten auf ihn warten und aufregen werden. Und das kann er gar nicht gebrauchen. Ihm geht es immer schlechter. Steffen hat er erzählt, er habe eine Grippe verschleppt, und dass er im Homeoffice arbeiten würde. Dabei bekommt er schon Beklemmungen, wenn er sich nur hinter das Steuer seines schwarzen SUV setzt, um zum Bäcker um die Ecke zu fahren. Niemand in der Agentur ahnt, was Parker durchmacht.

„Was ist eigentlich mit Mexiko nächste Woche?“, will Steffen bei einem der täglichen Telefonate wissen. „Bist Du da wieder fit?“ „Logisch“, antwortet Parker. Der Gedanke an die lange Flugreise lässt ihn zwar erschaudern, aber eine Schwäche eingestehen, das will er immer noch nicht. Unter großem Druck, das weiß Parker, funktioniert er immer noch. Auch wenn er in Alltagsdingen versagt. Mexiko ist ein großes Projekt. Sein großes Projekt. Monatelang hat er um den Auftrag der Tequila-Destillerie gekämpft, viele Nächte und Wochenenden investiert, um den Auftrag an Land zu ziehen. Und dann hat sein Pitch überzeugt: Die Markteinführung und Vermarktung in ganz Europa soll ihre Agentur organisieren. Die Vertragsunterzeichnung in La Paz lässt er sich nicht nehmen. Auf keinen Fall. Doch noch während des Telefonats mit Steffen fällt ihm ein, dass sein Reisepass abgelaufen ist. ‚Scheiße‘, denkt er. Schleunigst muss er sich ein vorläufiges Dokument besorgen.

Am nächsten Morgen sitzt Parker im Warteraum des Bürgeramtes seiner Gemeinde. Fast alle Stühle sind belegt. Die Fahrt dorthin hat er halbwegs gut gemeistert, das beflügelt ihn. Aber jetzt, wo er dasitzt, und abwechselnd auf den Abriss mit seiner Nummer und die Anzeigetafel starrt, überkommt ihn wieder dieses Kribbeln. Er merkt, wie die Unruhe sich durch seinen Körper frisst und immer mehr Besitz von ihm ergreift. Er versucht zu lesen, legt die Zeitschrift aber sofort wieder auf den kleinen Tisch, als die Buchstaben sich wie tausend kleine Käfer über das Papier bewegen. Nervös schlägt er erst das rechte Bein über das linke. Dann andersherum. Immer wieder fasst er sich in den Nacken, massiert seine Schulter, biegt den Kopf von einer Seite auf die andere bis die Sehnen zu reißen drohen. Die orangefarbene Plastiklehne schmerzt in seinem Rücken, die vier dünnen Stahlbeine quietschen bei jeder seiner Bewegungen auf dem Linoleum. Parker kramt sein Smartphone aus der Hosentasche, checkt seine Mails, doch die vielen kleinen Buchstaben strengen ihn zu sehr an. Sie verschwimmen und pulsieren. Er kann sie nicht richtig lesen. Er tippt auf den blauen Button mit dem weißen „f“, öffnet die Facebook-App. Bert hat Geburtstag, daran erinnert ihn das soziale Netzwerk. Das kann er gerade noch erkennen. Kurz überlegt er, ob er ihm gratulieren soll. Aber er verwirft den Gedanken. Sein Blick schweift zur Anzeigetafel. Noch elf Nummern trennen ihn von seinem neuen Ausweis. Drei Büros scheinen besetzt zu sein, in die die Wartenden gerufen werden. Im Schnitt, schätzt Parker, dauert jeder Vorgang etwa fünf Minuten. Nur noch eine Viertelstunde, maximal 20 Minuten, dann ist er an der Reihe. Dann hat er es geschafft.

Pling! Intuitiv öffnet Parker den Messenger.

Ich habe jetzt Bert die Wahrheit erzählt, und dass unsere Ehe nicht mehr funktioniert. Ich brauche meine Freiheit. Und ich will es mit dir ausprobieren!“

Noch ehe Parker versteht, was er da gerade gelesen hat, erreicht ihn die nächste Nachricht. Pling!

Er ist traurig, kann es aber verstehen.“

Parker bleibt der Atem weg. Was hat diese Verrückte getan? Er muss raus. Raus aus diesem Wartezimmer. Raus an die frische Luft. Nichts kann ihn halten. Er hyperventiliert. Er stürmt zu seinem Auto, kramt aus der Seitenablage der Fahrertür die alte Bäckertüte und atmet hinein. Bis er sich langsam wieder beruhigt.

Als er eine halbe Stunde später zu Hause ankommt, ist er nass geschwitzt. Er muss ein für alle Mal diesen Wahnsinn beenden. Julia hat endgültig eine rote Linie überschritten, in dem sie seinen Namen gegenüber Bert erwähnt hat. Und das an seinem Geburtstag! Bislang hat Parker geglaubt, eine vereinsamte Frau lässt ihren Gedanken freien Lauf. Aber jetzt hat sie mal eben den Gedanken Taten folgen lassen. Sie hat Bert allen Ernstes erzählt, dass sie ihn verlassen werde. Um Parkers Willen. Was ein Irrsinn!

Diese Frau, die er eigentlich gar nicht kennt, hat sich in sein Leben geschlichen, durch den Computer sein Wohnzimmer erobert und nun auch noch seinen Rückzugsort, den Hafen, vermint. Wie soll er je wieder Bert unter die Augen treten? Was wird der von ihm denken? Sicherlich wird Bert ihn dafür verantwortlich machen, dass seine Ehe zerbrochen ist. Schließlich ist Parkers Leumund im Hafen nicht gerade der beste. Viele halten ihn für einen Womanizer, einen Schwerenöter, für jemanden, der nichts anbrennen lässt. Niemand ahnt, dass das Bild, das sie von Parker haben, derzeit nichts anderes als eine Maske ist. Und Julia? Die will er schon gar nicht sehen. Um nichts auf der Welt. Wem wird Bert glauben? Ihm, dem Hallodri aus Hamburg, oder seiner schüchternen Ehefrau? Und selbst wenn Bert ihm glaubte, dann würde er ihn fragen, warum er ihn nicht eingeweiht hat, als seine Frau hinter seinem Rücken Parker kontaktiert hat. Sie waren doch schließlich so etwas wie Kumpels. Hätte Parker nicht den Anstand haben müssen, Bert einzuweihen? Spätestens als sie ihm die Bikinibilder schickte? Warum hatte Parker dem ganzen Spuk kein Ende bereitet? Aber was hätte er sagen sollen? „Deine Frau belästigt mich!“ Welch absurde Situation. Auf der einen Seite der gestandene Mann, der erfolgreiche Werber, der Weiberheld. Auf der anderen eine zierliche Frau, gebeutelt vom Schicksal, gezeichnet von Krankheiten und Unfällen. Wem also hätte Bert geglaubt? Er musste Julia noch einmal antworten, also schrieb er voller Wut: „Keine Ahnung, was in Deinem Kopf vorgeht. Aber es gibt kein ‚Wir‘. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt. Ich wüsste nicht, dass ich jemals einen anderen Eindruck erweckt hätte.“ Nachdem Parker auf den kleinen Pfeil zum Senden gedrückt hat, wartet er gespannt auf eine Reaktion. Aber es passiert nichts. Ist das ein gutes Zeichen? Oder ein schlechtes? Parker weiß es nicht. Die Antwort lässt bis zum Nachmittag auf sich warten. Pling!

Kein Problem. Es hat sich auch wieder erledigt. Uns ist jetzt klar, dass wir unser Leben ändern müssen. Einfach vergessen.“

Parker wundert sich über die merkwürdige Nachricht, antwortet aber erleichtert: „Ja, das ist das beste!“ Kurz darauf sieht er, dass Bert sich für die vielen Geburtstagswünsche auf Facebook bedankt. Er postet ein Foto von sich, wie er lachend in einem Gartenstuhl sitzt. Bert prostet gut gelaunt in die Kamera. „Ich habe einen tollen Tag“, schreibt er dazu. Drei Smileys. Sieht so ein Mann aus, mit dem seine Frau am Morgen des Geburtstags Schluss gemacht hat? Parker versteht die Welt nicht mehr. Entweder ist Bert ein geborener Schauspieler oder Julia hat sich die Szene am Morgen nur ausgedacht. Am nächsten Tag hat er wieder eine Nachricht von ihr. Er liest sie, als er sich gerade an seiner Gaggia einen Latte Macchiato für den Weg in die Agentur zubereitet.

Pling!

„Eins noch, bevor ich den Kontakt abbreche, Du hast möglicherweise ein Problem mit deiner linken Nackenseite. Du hast beim Drehen Deines Kopfes nach links immer die linke Schulter kurz hochgezogen. Ist eine erste Kompensationshandlung des Körpers. Du sitzt sicherlich auch zu viel vorgebeugt am Tag. Oberkörpertraining und längeres Spazierengehen oder Laufen hilft da sehr viel.“

Während er die Mail liest, fasst er sich unwillkürlich an die linke Halsseite, massiert sie. Stimmt, oft schmerzt der Nacken. Julia muss ihn intensiv beobachtet haben. Ein kalter Schauer läuft ihm den Rücken hinab, dann nimmt er seinen Kaffee und geht zum Carport. Er muss zu einem wichtigen Meeting in die Stadt. Ein neuer Kunde ist unzufrieden mit dem Verlauf der Kampagne. Steffen möchte, dass er bei dem Gespräch dabei ist, da Parker für den Pitch verantwortlich war.

Aber an diesem Tag soll Parker die Agentur nicht erreichen. Auch nicht am nächsten. Und auch nicht in den kommenden Wochen und Monaten. Er schafft es nur bis zur Autobahnauffahrt, wenige Minuten von seinem Haus entfernt. Er wird langsamer, setzt den Blinker, aber er schafft es nicht auf die rechte Spur. Er schwitzt, er hechelt, sein Kopf droht zu platzen. Sein ganzer Körper kribbelt. Eine innere Barriere hindert ihn daran, auf die A 23 zu fahren, eine innere Mauer taucht plötzlich vor ihm auf, höher, größer, gewaltiger als die, die Donald Trump an der Grenze zu Mexiko bauen will.

Parker rollt an der Auffahrt vorbei. Hinter der Brücke hält er auf dem Seitenstreifen an. Die Welt, wie er sie kannte, scheint um ihn herum zu versinken. Seine Augen flackern, füllen sich mit Tränen. Sein Herz rast. Schwindel, Kopfschmerz, Leere. Es fühlt sich an, als würde der alte Parker endgültig sterben. Das letzte bisschen Stärke in ihm schwindet dahin. Sein Wille ist gebrochen. Es ist der Tag, nach dem nichts mehr so sein wird, wie zuvor. Es ist der Tag, als Parker erkennt, dass er professionelle Hilfe braucht. Dass er Schwäche zulassen muss, will er jemals wieder stark sein. Es ist der Tag, an dem Parker erkennt, dass er sein Leben ändern muss. Radikal.

Die Stalkerin

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