Читать книгу Zeit der Klarheit - Jens H. Milovan - Страница 7
Zeitlos
ОглавлениеEs war `mal wieder einer dieser genialen Tage. Montag. Das erste Meeting bereits um halb neun. Die Nacht zu kurz. Zu spät aufgestanden. Ausgiebig gefrühstückt und dann auch noch der übliche Stau, wenn du ihn überhaupt nicht brauchen kannst. Na ja, eigentlich wäre ich gerade noch rechtzeitig im Büro angekommen, wenn, tja wenn nicht just an diesem Montagmorgen, vorne rechts im Motorraum ein klitzekleines Rauchwölkchen aufgetreten wäre. Du denkst dir ja erst einmal nichts dabei, wenn die Fußgänger an der Ampel auf dein Auto zeigen. Wobei dies wenigstens noch in der Stadt und in der Nähe einer Werkstatt gewesen wäre. Nein, erst als die Dampfwolke nicht mehr zu leugnen war, musste ich mir eingestehen, okay, mit dem Termin heute Morgen wird das wohl nichts mehr. Ich habe es dann auch gleich eingesehen - mittlerweile verbreitete sich im Innenraum ein unangenehmer Duft - und fuhr auf den nächsten Parkplatz. Danach lief eigentlich alles erstaunlich glatt. Das Handy war aufgeladen. Bei der Werkstatt hatte ich bereits nach der dritten Weiterleitung den kompetenten Ansprechpartner. Der Abschleppwagen kam auch schon nach einer Stunde. Und fünf Minuten nach meiner Ankunft in der Werkstatt, kam grinsend mein Kollege, um mich abzuholen.
»Guten Morgen Herr Bender.«
»Guten Morgen Herr Schmid-Edermann. Danke, dass sie mich abholen.«
»Das ist doch selbstverständlich«, antwortete er aufrichtig.
Herr Schmid-Edermann war einer meiner besten Mitarbeiter. Auf ihn konnte ich mich immer hundertprozentig verlassen. Er war Anfang dreißig und keine eins achtzig groß.
»Ich habe unseren Termin auf 10:30 Uhr verlegt. War das in ihrem Sinne?«, fragte mich Herr Schmid-Edermann.
Wie immer, wenn er unter Zeitdruck war, fuhr er sich mit der Hand durch seine glatten, dunkelblonden Haare.
»Sehr gut. Vielen Dank«, antwortete ich anerkennend beim Einsteigen in seinen SUV.
Dieser Tag verlief dann Gott sei Dank ohne weitere, nennenswerte Höhepunkte. Gegen acht Uhr verließ ich wie so oft als einer der Letzten das Büro und stieg in das Taxi. Bus oder S-Bahn Fahren waren nicht unbedingt mein Ding. Zuhause angekommen stellte ich meinen Aktenkoffer an dieselbe Stelle im Arbeitszimmer und hängte meine Jacke an den gleichen Haken der Garderobe, wie immer. Mein Anzug kam auf einen Bügel in den Schrank. Alles erfolgte schlafwandlerisch. Erst nachdem ich mir Wasser über die Hände schüttete, anstatt ins Glas, wachte ich aus dieser Trance auf. Ich sah durchs Küchenfenster, wie meine Nachbarn aus dem Auto ausstiegen. Sie hatten wohl ihren Sohn Leon vom Fußball abgeholt. »Hey, Leon, wie war dein Training?«, rief ich durch das geöffnete Fenster und winkte dem elfjährigen Jungen mit kurzen braunen Haaren zu.
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht und voller Stolz zeigte er mir seine neuen gelben Fußballschuhe. Ich dachte, falls ich jemals einen Sohn haben werde, bekommt er auch so coole Schuhe. Mit meinem Sandwich ging ich durch mein geräumiges Wohnzimmer, öffnete die weiße Terrassentür und atmete die warme Sommerluft ein. Nachdem ich es mir auf der Liege bequem gemacht hatte, betrachtete ich den neuangelegten Garten. Um diesen einigermaßen pflegeleicht zu gestalten, waren um meine Terrasse keine Blumen oder Kräuter, sondern nur Rasen gesät. Es war wirklich eine gute Idee, ein bisschen außerhalb, ein kleines Haus zu kaufen, anstatt in die hektische Innenstadt zu ziehen. Die untergehende Sonne tauchte den wolkenlosen Himmel in dunkles Rot und ich schaffte es gerade noch in mein Bett, bevor ich auf der Liege eingeschlafen wäre.
Das Telefon klingelte und riss mich aus dem Tiefschlaf. »Bender«, meldete ich mich noch völlig abwesend.
»Guten Morgen Herr Bender, Schuster vom Autohaus Kanter. Leider muss ich ihnen mitteilen, dass ihr Auto heute noch nicht fertig wird.«
»Aha. Und warum?«
»Das Ersatzteil für die Wasserpumpe kommt erst heute Mittag. Aber morgen früh könnten sie den Wagen abholen.«
»Okay, dann bis Morgen.«
Wirklich wach war ich nicht und schlurfte in die Küche, um mir einen Tee aufzugießen. Erschrocken sah ich auf die Uhr. »Oh Mann, gleich halb acht. Um neun ist der Termin mit Chicago Consulting«, dachte ich an das bevorstehende Gespräch und überlegte, warum der Wecker eigentlich nicht geklingelt hatte. Der Wasserkocher blubberte auch nicht so wie sonst. Ich ging zum Lichtschalter. Nichts passierte. »Na, klasse. Der Elektriker war doch erst am Freitag hier«, erinnerte ich mich an die unzähligen Handwerker, die in den letzten Wochen ein- und ausgingen. Um an den Sicherungskasten zu gelangen, musste ich erst den Kunstdruck von Miro ›Danseuse II‹ abhängen. Tatsächlich, die Hauptsicherung war ausgeschaltet. Ich aktivierte den Schalter, hing das Bild auf und betrachtete das witzige blaue Gemälde mit rotem Herz.
»Guten Morgen Herr Bender, die Herren von Chicago Consulting sind eben eingetroffen. Sie sind im Besprechungszimmer drei«, begrüßte mich meine Sekretärin.
»Guten Morgen Frau Jahn. Könnten sie meinen Rechner schon mal an den Beamer dort anschließen, dass wir pünktlich anfangen können?«
»Na klar. Herr Schmid-Edermann ist auch schon im Besprechungszimmer und bereitet alles vor.«
Frau Jahn war wohl seit Anbeginn der Zeit in diesem Unternehmen. Sie hatte alles im Griff und kannte alle wichtigen und unwichtigen Informationen über jeden Mitarbeiter und jedes noch so vertrauliche Projekt, was oftmals sehr hilfreich war.
»Guten Tag die Herren. Wie war ihr Flug?«
»Guten Tag Herr Bender. Ja, gut. Alles hat soweit funktioniert. Wir freuen uns, dass wir wieder hier sind und sie sich für uns Zeit nehmen.«
Herr Reban war ein sehr erfahrener Consultant und beriet uns bei der Gründung eines neuen Sales-Büros in Singapur. Unsere Anlagen zur Herstellung von Nanomaterialien und Nanohalbzeugen erfreuten sich immer größerer Beliebtheit und die Nachfrage stieg weltweit. Nach ersten Anlaufschwierigkeiten erzielten die Vorbereitungen zur Eröffnung des Singapur-Büros jetzt gute Fortschritte. Trotzdem waren wir nicht mehr im Zeitplan und es galt heute Möglichkeiten zu finden, um wieder auf Spur zu gelangen.
»Die ständig neu erfundenen Mängel an den erforderlichen Dokumenten seitens der Behörden in Singapur, haben uns bis jetzt fast drei Monate gekostet. Mal sollte der Stempel unten rechts anstatt unten links sein, ein anderes Mal waren die Verträge nicht ordnungsgemäß gebunden«, analysierte Herr Reban den Zeitverzug. Ich ertappte mich dabei, wie meine Gedanken immer weiter abschweiften. Die Worte von Herrn Reban hörte ich zwar, jedoch nahm ich deren Bedeutung nicht mehr wahr. Vor meinen Augen formte sich das Bild von Leon mit seinen gelben Schuhen und dem Fußball unter dem Arm. Er ging mit seinen Eltern ins Haus und winkte mir zu. Eine melancholische Stimmung überkam mich. Mir war nun zum ersten Mal so richtig bewusst, dass mir ohne eigene Familie etwas fehlte. Das Gefühl von Einsamkeit stieg in mir hoch. Erinnerungen an meine Kindheit formten ein leichtes Lächeln in mein müdes Gesicht. Ein Film von einem unserer Urlaube auf Korsika, mit meinen Eltern und meinen beiden Geschwistern als Hauptdarsteller, spulte sich ab. Irgendwie glaubte ich fast, den salzigen Geruch vom Meer wahrzunehmen. Auch das angenehm gleichmäßige Rauschen der Wellen klang jetzt in meinen Ohren. Meine Eltern saßen auf Klappstühlen und beobachteten unsere Versuche, eine Sandburg zu bauen. Mein älterer Bruder und meine drei Jahre ältere Schwester überlegten, wie sie den Nordflügel der Festung gestalten sollten. Ich für meinen Teil interessierte mich überhaupt nicht dafür, ob der Bereich nun rund oder rechteckig gebaut werden konnte, sondern buddelte tiefe, lange Tunnels. Immer tiefere und längere Tunnels. Eines dieser unterirdischen Gänge war wohl zu tief oder zu lang für die Burg, oder beides und sie stürzte ein. Bis meine Geschwister den Untergang ihres Königreichs bemerkten, hatte ich mich unauffällig entfernt und bereits ein gutes Stück Vorsprung. Die alten Urlaubserinnerungen verblassten und wurden durch die Bilder der Rubinhochzeit meiner Eltern verdrängt. Seit fast einem Jahr hatte ich so gut wie keinen Kontakt zu meinen Eltern oder zu meinen Geschwistern.
»Können wir die zusätzliche Anwaltskanzlei Victor NG & Partners in Singapur beauftragen, Herr Bender?«, fragte mich Herr Reban.
»Die Anwaltskanzlei Victor NG & Partners«, wiederholte ich bedächtig, um Zeit zu gewinnen.
Ich überflog kurz die vier, fünf Sätze der Präsentation an der Leinwand.
»Ja, guter Vorschlag Herr Reban. Das könnte aus meiner Sicht den Genehmigungsprozess enorm beschleunigen. Da dies unser Bottleneck darstellt, sollten wir uns darauf fokussieren«, begründete ich meine Entscheidung und fügte hinzu, »gönnen wir uns fünf Minuten Pause.«