Читать книгу Zeit der Klarheit - Jens H. Milovan - Страница 8

Zeichen der Zeit

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Am nächsten Morgen fuhr ich dann doch mit dem, wie immer völlig überfüllten Bus, zur Werkstatt in die wie immer völlig überfüllte Stadt. Es war noch etwa eine Stunde Zeit, bis mein Wagen, der mich bis zu diesem Zeitpunkt nicht im Stich gelassen hatte, abholbereit war. Das gemütliche Café »Zeitlos« zwei Straßen weiter bot sich an. Bereits beim Eintreten, meint man in einer anderen Welt zu sein. Spätestens, wenn du an einem der kleinen Tische sitzt, sind aller Stress und alle Sorgen der Außenwelt vergessen. Die angenehme Atmosphäre und die ruhige Ausstrahlung lassen jeden Gast sofort entspannen. Ich ging zu einem freien Tisch am Fenster und sank auf die Couch. Mein Blick schweifte durch den Raum über harmonische Gemälde und bequeme Sofas. Irgendwie fühlte ich mich beobachtet. Und tatsächlich, ein Mann asiatischer Abstammung ruhte mit seinem Blick auf mir. Starren konnte man dies nicht nennen. Er sah eher durch mich hindurch. Normalerweise ist mir das unangenehm beobachtet zu werden. In diesem Fall musste ich jedoch irritiert feststellen, dass diese Situation eher belebend war und mein Energielevel kontinuierlich anstieg. Trotzdem wusste ich nicht genau, wie ich mich verhalten sollte. Die anderen Gäste unterhielten sich angeregt, genossen ihren Kuchen oder lasen konzentriert die Zeitung. Aus dem Augenwinkel beobachtend, sah der Mann eher unscheinbar aus. Sein Alter war schwer zu schätzen, so um die 50 Jahre vielleicht. Er hatte dunkles, volles Haar, sympathische wohlgeformte Gesichtszüge, ein gepflegtes Äußeres und dunkle, durchdringende Augen. Durch eine geringfügige Kopfdrehung konnte ich den Mann durch einen Spiegel genauer betrachten. Seine aufrechte, jedoch nicht steife Sitzhaltung, sein friedlicher Blick und sein natürliches Lächeln strahlten absolute Gelassenheit und Weisheit aus. Er sah mich unverändert an. So langsam wurde ich doch nervös und beschloss zu seinem Tisch zu gehen, um ihn anzusprechen. Aber wie? Welches Thema? Politik? Nein, es musste etwas Unverfängliches, Neutrales sein. Aber was? Sport ist immer gut. Mit Fußball oder Basketball kannte ich mich aus. Diese Sportarten werden in Asien wahrscheinlich nicht die gleiche Popularität genießen wie hierzulande. Verschiedenste Themen gingen mir durch den Kopf, aber keines hielt ich für unsere Konversation geeignet. Apropos Konversation. Ich saß doch noch immer allein an meinem Tisch. Mutig quälte ich mich aus dem weichen Sofa. Ich vergewisserte mich, dass der Mann zu mir herübersah und ging zielstrebig in seine Richtung. Kurz vor seinem Tisch bog ich heldenhaft zur Toilette ab. Shit, Shit, Shit! Klasse gemacht. Das gibt es doch gar nicht. Diese kühne Tat erinnerte mich an die anfänglichen Treffen mit meiner ersten Freundin. Aber das ist eine andere Erfolgsstory. Beim Händewaschen entschied ich, dass die Operation ›Kontaktaufnahme mit asiatischem Mann‹ erledigt war. Der Weg zu meinem Platz war leider durch eine große Gruppe an Leuten versperrt. Auf der Suche nach einem freien Tisch brachten sie völlige Unruhe in diesen ansonsten so beschaulichen Ort. Großartig, dachte ich, nun bleibt mir nichts anderes übrig, als durch das halbe Café zu wandern. Es kam, wie es kommen musste. Genau vor dem Tisch des Asiaten ging es nicht weiter, da die Gruppe sich wohl entschlossen hatte, das Café zu verlassen. So verharrte ich notgedrungen vor seinem Tisch. Dies konnte doch nur ein Zeichen sein, oder? Der Mann sah immer noch durch mich hindurch. Ich hörte mich fragen: »Kann ich mich zu ihnen setzen?« Er nickte und bot mir den Platz neben ihm an.

»Hallo, müder Krieger, zugleich Harlekin und weiser Kaiser. Warum so missgestimmt und betrübt?«, fragte er mich mit wohlklingender, durchdringender Stimme.

»Mein Wagen hatte eine Panne. Ich musste mit dem überfüllten Bus fahren. Nachher kann ich es aus der Werkstatt abholen«, stammelte ich nach einer kurzen Pause, in der ich den ersten Teil seiner Frage verdauen musste.

»Das ist sicherlich unangenehm. Das habe ich jedoch nicht gemeint. Junger Freund, ich spreche deine Grundstimmung an, nicht die kurzfristigen Unannehmlichkeiten. Betrachte dich. Sogar an diesem Ort der Ruhe strahlt dein Gemüt keine Freude aus, kein Lächeln ziert dein Gesicht. Deine Finger bewegen sich unaufhörlich und deine Atmung könnte durchaus ruhiger und tiefer sein.«

Wow! Ich hatte das mit dem müden Krieger und dem weisen Kaiser noch nicht ganz verdaut, aber diese Aussage beanspruchte dann doch meinen kompletten Arbeitsspeicher. In meinem Kopf war die Festplatte im Moment auch nicht gerade mit freier Speicherkapazität gesegnet, sodass die Beantwortung dieser Frage etwas länger in Anspruch nahm. Es vergingen nicht nur Sekunden, sondern sicherlich einige Minuten ohne ein Wort. Alles war ziemlich verwirrend. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ja, die letzten ein, zwei Jahre waren wirklich stressig und aufreibend. Der neue Job, das neue Haus. Aber auch Ereignisse aus meiner Jugend zogen vorbei. Kurz empfand ich den ersten tiefen Schmerz bei der Trennung von meiner großen Liebe. Gefühle, wie vernachlässigt zu werden, Enttäuschung oder Einsamkeit wühlten mich auf. Mein Hirn war kurz vor einem Systemabsturz, als die nette Bedienung vorbeikam. »Möchten sie noch einen Kaffee?« Der Mann sah mich immer noch gütig, fast liebevoll an. Ich hatte das Gefühl, er konnte jeden einzelnen meiner Gedanken lesen und wusste genau, was gerade in mir vorging.

»Entschuldigung, möchten sie noch einen Kaffee?«, wiederholte die Bedienung freundlich.

»Oh, ja bitte.«

Alle Strategien oder Reaktionen, die ich sonst in ähnlichen Situationen eingesetzt hätte, schienen nicht angemessen. Rechtfertigungen, schnelle Beendigung und Wechsel zu einem anderen Thema oder gar mit Gegenfragen zum Angriff anzusetzen, waren jetzt nicht geeignet. In diesem Moment dachte ich, dies ist jetzt eine einzigartige Chance, mein Leben zu bereichern und alte Wunden zu heilen. Eine Chance, die mein gesamtes Leben beeinflussen sollte.

»Es gelingt mir nicht wirklich nach dem Prinzip des Work-Life-Balance zu leben. Mein Beruf steht klar im Vordergrund und nimmt den größten Teil in meinem Leben ein. Während der Arbeitszeit und sogar im privaten Bereich renne ich von einem Termin zum anderen. Wahrscheinlich bin ich deshalb so hektisch oder nervös«, äußerte ich, nachdem meine Gedanken wieder etwas geordnet waren.

Er betrachtete mich eindringlich. Allein sein Blick verriet, dass ich nur an der Oberfläche gekratzt hatte.

»Mutter Theresa, Gandhi, Buddha und Christus, alle widmeten sich dem größten Teil ihres Lebens ihrer Berufung. Dennoch strahlten sie Ruhe und Glück aus«, brachte er es auf den Punkt.

Tja, in meinem Leben stehen momentan anstelle Ruhe und Glück eher Hektik und Unzufriedenheit. Klasse. In diesem zwei Minuten dauernden Gespräch sind eben die Grundmauern meines Lebens wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Ein stechender Schmerz in meiner Brust signalisierte, dass all die über die Jahre hinweg, sorgsam erbauten Mauern vom Einsturz bedroht waren.

Aber ich konnte nicht einfach alles stehen und liegen lassen und wie Buddha der Welt entsagen. Er unterbrach meine Gedankenflut und verhinderte einen systembedingten Data Overflow.

»Auch in der westlichen Lebensweise lässt sich ein Zustand der Harmonie erlangen.«

Er konnte wohl doch Gedanken lesen!

»Aber wie soll das hier funktionieren?«, fragte ich ihn völlig unmotiviert.

»Schließe deine Augen. Was nimmst du wahr?«, forderte er mich unbeeindruckt auf.

»Eigentlich sehe ich nichts außer ein paar heller Punkte.«

»Du besitzt noch weitere Sinne, neben dem Sehen.«

»Außer den Unterhaltungen im Café nehme ich nichts wahr.«

»Konzentriere dich auf deinen Atem. Atme langsam ein. Atme langsam aus. Atme Ruhe ein und Spannung aus.«

Zuerst war mir es eher unangenehm. Es erinnerte mich an meine einstige Begegnung mit esoterischen Ideen, die meine damalige Freundin mir näherbringen wollte. Aber seine beruhigende Stimme ließ mich immer mehr in meinen Atem tauchen.

Konzentriert auf meinen Atem, nahm ich nichts wahr außer meinen Körper und die unzähligen, vorbeiziehenden Gedanken. In einem Moment verkrampfte ein kurzer, stechender Schmerz meinen rechten Arm. Danach war dieser schwer wie Blei, jedoch vollkommen entspannt. Plötzlich fiel mir die noch fehlende Lampe im Wohnzimmer ein. Auf diese Weise vergingen sicherlich 10 bis 15 Minuten. Dann vernahm ich leise den Berufsverkehr vor dem Café, dachte an die Staus und plötzlich an mein Auto in der Werkstatt. Ich öffnete meine Augen.

»Es ist nichts Aufregendes passiert«, kommentierte ich die letzten Minuten.

»Welche Erwartungen hattest Du denn?«, fragte er.

Alle Aspekte, die mir spontan einfielen, wie Glückseligkeit oder Erleuchtung verwarf ich im gleichen Augenblick wieder und antwortete nicht auf seine Frage.

»Die Menschen rennen heute vor sich selbst davon. Weder ruhen sie in sich selbst, noch sind sie eins mit ihrem Tun. Ihr Körper befindet sich hier, der Geist jedoch weilt in der Vergangenheit oder sehnt sich nach der Zukunft. Aber nicht im Hier und Jetzt. Er gibt sich Ängsten, Enttäuschungen und Falschgedanken hin. Die Konzentration auf deinen Atem ist ein Weg mit dem Geist im Hier und Jetzt zu verweilen und mit der Wirklichkeit eins zu werden. Auf diesem Weg nimmst du den Frieden, die Liebe und das Glück wahr, die uns überall und allgegenwärtig umgibt. Dies ist das Aufregendste und einzig Relevante, was in deinem Leben geschehen kann.«

Er hatte recht. Während dieser Atemübung war ich seit Langem wieder meiner Gedanken und meines Körpers bewusst. Ich war, wie er es nannte, im Hier und Jetzt. Darüber hinaus war ich vollkommen entspannt und konnte jeder seiner Aussagen verinnerlichen.

»Es tut mir leid, meine Antwort vorhin war wohl unüberlegt und unpassend. Vor ein paar Jahren habe ich mich bereits mit solchen oder ähnlichen Themen befasst. Jedoch ohne erkennbaren Erfolg. Es existieren so viele verschiedene Richtungen. Farbenlehre, Tarot, Aura Soma, Meditation, Runen, Kristalle und was sich sonst noch auf dem Esoterikmarkt so alles bewegt. Egal, mit welcher Idee ich mich näher befasst hatte, am Ende stand immer der Zweifel. Dieser nagende Zweifel, der mich immer wieder zurückwirft und in meiner Entwicklung hemmt. Dieser verdammte Zweifel lässt und lässt mich nicht los«, sagte ich und eine lange, unangenehme Pause entstand.

Ich dachte, er würde mir widersprechen, eine passende Weisheit oder irgendein Kommentar hinzufügen. Nichts. Die Stille wurde immer unerträglicher und ich führte meinen Monolog weiter.

»Um diesen Zweifel zu entgehen, widme ich mich lieber der Technik und der Wissenschaft. Hierbei existieren klar definierte Formeln, Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Du musst dich nicht infrage stellen und der bohrende Zweifel bleibt ebenfalls aus.«

Kaum hatte ich ausgesprochen, fragte er mich: »Wie definierst du Philosophie?«

»Ich verstehe nicht ganz den Zusammenhang«, erwiderte ich, um Zeit zu gewinnen.

»Was verstehst du unter Philosophie?«, wiederholte er.

»Puh, das ist nicht leicht. Unter Philosophie verstehe ich, sich mit dem Leben, mit sich selbst oder sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen oder zu hinterfragen. Nach Gründen, für alltägliche Dinge zu suchen. Sicherlich auch eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu finden. Eigentlich gilt es alles zu durchleuchten, ob es schon lange Bestand hat oder ob es bereits allgemein akzeptiert wird.«

»Was verstehst du unter Wissenschaft?«, fragte er erneut.

»Mhm, dafür gibt es sicherlich eine offizielle Definition. Die kenne ich jetzt gerade nicht.«

»Was verstehst du unter Wissenschaft?«, wobei er das Wort »du« hörbar betonte.

»Wissenschaft … Wissenschaft würde ich als Erkenntnisse beschreiben, die mit systematisch und nachvollziehbaren Experimenten gefunden wurden und bestimmte Eigenschaften der Wirklichkeit abbilden. Zum Beispiel verdampft Wasser unter normalen Luftdruck bei ca. 100 °C und das Wasser geht in den gasförmigen Zustand über. Bis 2500 °C, glaube ich, bleiben die Wassermoleküle jedoch bestehen. Erst dann zersetzen sie sich in Wasserstoff- und Sauerstoffatome.«

»Dann kannst du mir sicherlich erklären, aus was ein Atom besteht.«

Ich fühlte mich zurückversetzt in meine Schulzeit.

»Ein Atom besteht aus Elektronen, Protonen und Neutronen«, antwortete ich.

»Und aus was bestehen diese?«, fragte er weiter.

»Soweit ich weiß bestehen Protonen und Neutronen aus Quarks.«

»Und wie sind Quarks aufgebaut?«

Darauf hatte ich dann auch keine Antwort mehr.

»An diesem Punkt sind die meisten Gelehrten ebenfalls angekommen. Und wenn sie sich noch so in ein Wissensgebiet vertieft haben. Am Ende gelangen sie immer an eine Grenze, an der sie nicht weiter-kommen, keine Antwort mehr finden. Dann hinterfragen sie zuerst ihr Wissen, ihre Theorien und irgendwann ihr Leben und sich selbst. Hier schließt sich wiederum der Kreis zur angesprochenen Philosophie. Philosophie, Wissenschaft und Religion sind im Grunde genommen eins. Die Philosophie, die Liebe zur Weisheit, umfasste bei Aristoteles die Metaphysik, Mathematik und Physik, als theoretische Aspekte. Ethik, Ökonomie und Politik waren dabei die praktischen Aspekte. Platon, Aristoteles oder Thomas von Aquin befassten sich im Rahmen der Metaphysik mit den Grundbegriffen Zeit, Sein, Unsterblichkeit und Gott. Ob Wissenschaftler, Theologen oder Philosophen, alle suchen nach der Wahrheit«, veranschaulichte der Asiate überzeugend.

»Von dieser Warte aus hatte ich die Wissenschaft noch nicht betrachtet«, sagte ich und wollte gerade diese Aspekte weiter vertiefen, als eine uralte Wanduhr 9:00 Uhr schlug.

Wie aus einem erkenntnisreichen Traum erwachte ich und fand mich in der oberflächlichen Realität wieder. Bei diesem tiefgründigen Gespräch vergaß ich vollkommen die Zeit. Die Wirklichkeit, die ich mir die letzten Jahre erschuf, hatte mich erneut. Leichte Hektik kam in mir auf.

»Vielen Dank für das offene und wirklich aufschlussreiche Gespräch«, bedankte und verabschiedete ich mich.

Erst beim Abholen meines Wagens fiel mir auf, dass ich weder nach seinem Namen noch nach seiner Adresse gefragt hatte. Super. Klasse gemacht! Einmal in den fast 36 Jahren meines Lebens lerne ich einen Menschen mit tiefer Weisheit kennen und frage ihn noch nicht einmal nach seinem Namen. Wie doof ist das denn, dachte ich, nachdem ich in meinem Büro angekommen war. Dort fing der ganz normale Wahnsinn wieder an. Wenngleich ich mich den gesamten Tag darüber ärgerte, diesen Mann wahrscheinlich nie wieder zu treffen, beschloss ich mich mit dem Thema Wissenschaft und Philosophie weiter zu beschäftigen. Vielleicht sollte ich auch ein, zwei Bücher über Meditation kaufen, die mir hoffentlich helfen könnten, meine Gedankenflut in den Griff zu bekommen. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht einmal erahnen, wie sehr der Asiate mein Leben verändern würde.

Zeit der Klarheit

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