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Der zweite Wächter

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Beabsichtigte man in einem orientalischen oder afrikanischen Städtchen einen größeren Verkauf zu tätigen, so war die einfachste Methode: Man erzählte davon einigen Leuten, sodann brauchte man nur noch zu warten, wie alles seinen Lauf nahm. Die, schon bald eintreffenden Interessenten, ließen sich klar in drei Kategorien einteilen. Die erste bestand aus Neugierigen, die zweite aus Angebern, die weder die Absicht noch die Mittel zum Kauf hatten, dafür aber gleich alle Freunde und Bekannten mitbrachten, denen sie imponieren wollten. Die dritte Gruppe waren Interessenten, die allerdings die Hoffnung hegten, das Auto mehr oder weniger geschenkt zu bekommen. Abdul jedoch, Besitzer mehrerer Fahrzeuge und einer Garage, hatte sowohl die Mittel, als auch ein gesundes Geschäftsinteresse.

Bevor wir überhaupt uns anschickten über den Preis zu reden, bat er darum, den Wagen in seiner Garage untersuchen zu lassen. Er fand meine Angaben von seinem Mechaniker bestätigt. Die Verhandlungen zogen sich dann gemächlich über den Nachmittag und den ganzen Abend hin. Eine meiner Bedingungen war von vornherein: Abdul übernahm den Zoll, was hieß die Gebühren sowie alles, was sonst damit zusammenhing.

Pünktlich am nächsten Morgen erschien Abdul, um mit mir zur Zollstation zu fahren. Etwas leichtsinnig hatte ich mich von 0-Chang, Hermann und Bernd verabschiedet, die eine günstige Fahrgelegenheit nach Asmara wahrnahmen, wo wir uns wiedertreffen wollten. Die Zollstation, ein schlichtes ebenerdiges Gebäude, befand sich, wie bei Ämtern üblich, im Zustand der Belagerung. Dabei hatten die wenigsten etwas mit dem Zoll zu schaffen, sondern warteten auf irgendwen oder irgendwas, oft auch darauf ihre Dienste anbieten zu können oder waren einfach nur Publikum, welches sich an diesem Ort die Zeit vertrieb und gelegentliche Unterhaltung versprach. Wir fuhren in den Hof hinein, stellten den Wagen gut sichtbar ab und gingen geradewegs durch das frisch erwachte Interesse der Menge ins Büro.

Eines war leider sofort deutlich: Der hier hofhaltende Beamte war von der unangenehmsten Kategorie. Es gibt sozusagen die Passiv-Korrupten, meist von einem Flair gutmütiger Trägheit umgeben, die bei entsprechender finanzieller Aufmunterung ihr phlegmatisches Naturell überwinden und Dinge möglich machen, nach denen ihnen sonst gerade nicht so wäre. Die Aktiv-Korrupten dagegen, zu denen eindeutig dieser gehörte, bieten sich nicht zur Überwindung irgendwelcher Probleme an, sondern sie schaffen erst einmal solche. Und die können sehr violent sein, über Drohungen bis hin zu Beschlagnahmen und Verhaftungen. In gewisser Weise sind diese Art Beamte wesensverwandt mit Schutzgelderpressern, denn auch sie bieten gegen Bezahlung Schutz an, vor nichts anderem als vor sich selbst. Und damit das als Notwendigkeit auch begriffen wird, heißt es erst einmal zu zeigen, wie gefährlich man sein kann. Wie den meisten seiner Spezies sah man es auch diesem nur zu deutlich an. Alles an ihm, Haltung, Rede, Gestik war herrisch, herablassend, aburteilend. Jeder vor ihm Stehende hatte sich von vornherein eines schweren Vergehens schuldig gemacht. Die Tatsache, dass er selber keine Ahnung davon hatte, konnte natürlich nicht den geringsten Einfluss auf die zu erwartende Verdammung haben. Unwissenheit schützt bekanntlich vor Strafe nicht. Eine eventuelle Linderung war nur auf dem Wege der Gnade zu erhoffen, und die hatte ihren Preis.

Ich wünschte in diesem Moment, ich säße auch unbeschwert im Wagen nach Asmara. Wieso blieb es den anderen erspart an diesem zweiten Wächter, denn als nichts anderes erwies er sich, vorbei zu müssen? Erst sehr viel später, seit dem Erlebnis in Debre Damo, begann es mir zu dämmern; unsere Wege trennten sich schon hier, auch wenn wir weiterhin auf den gleichen Wegen und Straßen einher fuhren. Wie sollte es auch anders sein, jeder konnte nur seinen ihm ganz eigenen verfolgen. Das hieß nicht, es würde nicht hin und wieder Punkte der Begegnung, oder wie z.B. später mit Hermann, längere Strecken gemeinsamen Weges geben. Auf der Zollstation in Tessinei war mir dies alles noch längst nicht klar. Nur soviel begriff ich und das wurde auf höchst unangenehme Art immer deutlicher, dass ich hier allein mit dem zweiten Wächter konfrontiert war. Und wie es in den Erzählungen üblicherweise heißt, war er "weit schrecklicher als der erste". War jener, um die beliebte Floskel anzuwenden, "streng aber gerecht" und obendrein gar noch ein wenig wohlwollend, so erschien dieser bösartig und sich an keine der bekannten Regeln zu halten. Trotzdem musste er irgendwo berechenbar sein. Das herauszufinden musste ich mich verdammt beeilen, wollte ich nicht an ihm scheitern. Im Gegensatz zum ersten Hindernis, war ich hier auf mich allein gestellt, und selbst ein möglicher Rückweg blieb verschlossen. Auch wurde mir bald klar: Ein Kampf blieb mir diesmal nicht erspart. Das Glück sollte mir jedoch erstens zu einem mächtigen Verbündeten im Hintergrund verhelfen und zweitens zum rechtzeitigen Erkennen der Schwäche meines Gegners. So konnte ich schon sehr bald die richtige Waffenart wählen: Die Lächerlichkeit.

Nachdem wir den ein leitenden Höflichkeiten genüge getan hatten, selbst das schon erschwert von barschen Unterbrechungen unseres Gegenübers, die meine schlimmsten Vermutungen bestätigten, erklärten wir unser Anliegen. Abdul betonte, wie abgemacht, dass er die Verantwortung übernähme für alle Formalitäten und Kosten der Verzollung. Was mich betraf, ging es jetzt nur noch um den Vermerk in meinem Pass, dass ich der Zollpflicht für das darin eingetragene Fahrzeug enthoben sei. Ein vernichtender Blick, eine von gespielter Empörung getragene Zurechtweisung belehrte mich über die Vermessenheit dieses Anliegens, leider nur nicht über deren Grund. Während er noch weiter redete, überlegte ich: Zu nachgiebig sein hat keinen Sinn, dann fühlt er sich gar noch bestätigt und macht vollends mit mir, was er will. Und selber auftrumpfen, wenn man keine Karten hat, könnte noch gefährlicher werden. Am besten wäre wohl eine Art von korrekter Unnachgiebigkeit. In seiner Rede tauchten nämlich auffallend häufig die Worte Pflicht und Vorschrift auf. Ihm war also daran gelegen, den Schein eines pflichtbewussten Beamten aufrecht zu erhalten. Aber die tragende Rolle bei allem schien seine Eitelkeit zu spielen. Ich fragte also wieder und wieder nach den Vorschriften, die meinem Wunsch im Wege stünden und so sehnlichst nach Erfüllung verlangten, ohne darauf etwas anderes als vage Ausflüchte zu erhalten. Unter einem Vorwand bat ich ihn hinaus und als wir, so gut wie hier überhaupt möglich, unter vier Augen waren, fragte ich, was ich denn meinerseits tun könnte, um den Vorschriften zu genügen und seine so schwere Entscheidung zu erleichtern. Und siehe, da war es: Eine gewisse Gebühr wäre da noch fällig, die sich näherer Bezeichnung schamhaft entzog. Auf welchen Betrag sich denn diese Gebühr beliefe? Und jetzt machte er eigentlich den ersten Fehler, denn er überlegte. Jede tatsächliche Gebühr müsste er entweder wissen oder in einer Tabelle nachsehen. Auch ich überlegte indessen: Ärgere dich nicht! Wenn es irgendwie erschwinglich ist, kannst du dir weit größeren Verdruss ersparen. Die Höhe der Gebühr die ich nun erfuhr, verriet wenigstens keinerlei Kenntnis der Kaufsumme. Dafür war sie derart ungeheuerlich, dass ich Mühe hatte aufwallenden Zorn unter Kontrolle zu halten. Ich raffte mich nur noch auf zu sagen:

„Stellen Sie mir bitte einen Beleg darüber aus.“

„Eine Quittung steht Ihnen nicht zu“,

wurde mir barsch hingeworfen. Wenigstens war nun auch der letzte Zweifel behoben, woran ich war. Er wandte sich brüsk ab, um sich wieder im Büro "dringenden Arbeiten" zu widmen. In der nächsten Zeit war er entschieden zu beschäftigt, um für mich ansprechbar zu sein.

Ich meinerseits war mit Grübeln beschäftigt. Und je mehr ich darüber nachdachte, wie aus dieser Lage herauszukommen sei, desto engere Kreise zogen meine Gedanken um einen Punkt. Etwas war seltsam hier. Der Kerl wollte doch Geld, so viel wie möglich. Aber er wollte es auch wirklich bekommen und nicht nur davon träumen. Also müsste er bei aller Gier doch flexibel sein, versuchen abzutasten, wie viel da tatsächlich für ihn zu holen wäre, müsste sich aufs Feilschen einlassen. Aber keine Spur davon, er führte sich auf, als brauchte ihn das nicht zu interessieren. Das liefe darauf hinaus, wie er schon angedeutet hatte, dass er bei Nichtzahlen meinen Pass einbehalten, und mich auf unbestimmte Zeit hier festhalten würde.

Ein diskretes Zupfen am Ärmel weckte mich aus derlei Überlegungen. Abdul, der das ganze besorgt beobachtet hatte und natürlich genau merkte was ablief, bewegte den Kopf leicht in Richtung Tür. Draußen gab er mir flüsternd zu verstehen, dass der Zoll-Rais und der Gouverneur nicht "zauwa-zauwa" seien und machte dazu die bekannte Begleitgeste mit den beiden aneinander geriebenen Zeigefingern. Die unergründliche Weisheit Allahs preisend, traf mich sein bedeutungsvoller Blick - ich konnte nur erleichtert nicken.

Als in der folgenden Zeit dieser so beflissene Zöllner immer mehr erkennen ließ, dass er gedachte, meine Angelegenheit den auf unbestimmte Zeit zurückgelegten Fällen beizuordnen und obendrein noch Überlegungen laut werden ließ, die das Einbehalten meines Passes zum Inhalt hatten - natürlich immer unter dem Diktat seiner Pflichten - überlegte ich meinerseits und ebenfalls laut, dass die Höflichkeit es eigentlich von mir verlangte seiner Exzellenz dem Gouverneur meinen Aufwartungsbesuch zu machen, und dass es ebenso unverständlich wie unverzeihlich sei, wenn ich dem nicht schon längst nachgekommen war. Welcher Hoffnungsschimmer doch in einer plötzlichen Blässe und einem nervösen Mundzucken liegen kann. Ich sah mich hier schon ausgeraubt und auf unbestimmte Zeit festgehalten. Auf Abduls Gesicht ging unterdessen in aller Stille die Sonne auf.

Das Haus des Gouverneurs war nicht weit. Ein großer, altmodischer Bau verborgen in einem verwilderten Garten, der schon lange kein Wasser mehr gesehen hatte. Ein Diener unbestimmbaren Alters erschien und entfernte sich wieder um mich anzumelden durch lange, schweigende Räume. Alles wirkte altmodisch und etwas verstaubt, Museumsräume, die seit Jahren keine Besucher mehr gesehen hatten, und in denen die Zeit stillstand. An den Wänden hingen verblichene Tapeten und darauf in dünnen schwarzen Rahmen nicht minder verblichene Fotos mit Altersflecken. Uralte Möbel europäischer Machart standen herum ohne erkennbare Funktion, auch sie sahen aus, als wären sie nie gebraucht worden, nur Ausstellungsstücke. Objekte afrikanischer Handarbeit ohne erkennbaren Zweck waren dazwischen verteilt. Die anderen Räume, durch die ich dann geleitet wurde, waren ähnlich, und die Gegenstände darin konnten nicht verhindern, dass sie leer wirkten. Das ganze Haus wirkte leer und unbewohnt, keine Spur von Leben, und selbst das Geräusch unserer Schritte wurde noch von Teppichen aufgesogen. Der Gouverneur selbst, ein würdiger Herr aus amharischem Adel mit unendlich schwermütigen Augen, war ebenfalls unbestimmbaren Alters und seinem Diener auf gewisse Art ähnlich. Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich hier wollte, und wäre ansonsten nie auf den Gedanken gekommen diesen Mann zu besuchen. Der Gouverneur seinerseits fand es offenbar ganz normal, und fragte, nachdem der formelle Teil des Austausches von Höflichkeiten vorbei war, nach meinen Eindrücken von Äthiopien. Das half mir über die erste Verlegenheit hinweg. Der Diener wusste auch ohne Anweisung, was in diesem Fall auf dem Programm stand, setzte eine dampfende Teekanne, zwei winzige, altmodische Tassen und eine Schale mit Gebäck, ebenfalls unbestimmbaren Alters auf das Spitzendeckchen zwischen uns. In meiner Antwort hielt ich mich an das, was mir tatsächlich an diesem Lande sympathisch war. Der alte Mann mir gegenüber nickte hin und wieder, und blickte wie mit verschleierten Augen in die Ferne. Hinter der Fassade einer wohlwollenden Förmlichkeit konnte ich nichts von ihm erkennen. Er schien in einer Welt zu leben, die mir sehr fern war, vielleicht eine persönliche Welt der Träume und Erinnerungen. Ich könnte ihn mir gut vorstellen als einen alten Haudegen, der auf ein wildes Leben zurückblickte und nun der Tatenlosigkeit des Alters und wohl auch dem veränderten Zeitgeist nichts mehr abgewinnen konnte.

Er interessierte sich dann noch für das Land meiner Herkunft, und wollte über meine Reisepläne in Äthiopien hören. Das tat ich gerne. Mein Interesse für äthiopische Geschichte und Kultur schienen ihn mit Stolz zu erfüllen, und er betonte, dank der Gastfreundschaft seines Landes werde es mir an nichts fehlen. Nun war es wohl an der Zeit einfließen zu lassen, dass ich da ein kleines Problem hätte. Das Auto macht es nicht mehr so weit und müsste verkauft werden.

„Da finden Sie ganz gewiss einen Interessenten hier.“

„Den habe ich schon, und er ist auch bereit die Kosten für die Verzollung zu übernehmen.“

„Ja, was für ein Problem ist dann da noch?“

„Nun, der Chef der Zollstation meint, er könne nicht die erforderliche Eintragung in meinen Pass machen.“

„Dann richten Sie ihm von mir aus, es ist bei uns nicht üblich, dass man Fremde derart belästigt.“

Wir plauderten noch ein wenig, sozusagen als Überleitung hinweg von dem weniger Erfreulichen. Die Verabschiedung war wieder sehr förmlich, aber immerhin betonte er nochmals, wenn ich irgendwelche Probleme hatte, könne ich selbstverständlich zu ihm kommen.

Mein e gute Laune und mein Selbstvertrauen waren wieder hergestellt. Der Zoll wird zwar seine eigene Hierarchie haben und nicht dem lokalen Regenten unterstehen. Andererseits ist ein Gouverneur ein zu mächtiger Mann, als dass der Zöllner seinen Wünschen die Stirn bieten dürfte. Jetzt auf gar keinen Fall mehr einschüchtern lassen, dachte ich auf dem Rückweg, ab jetzt muss ich dran bleiben und die Handlung bestimmen. Als ich in das Zollbüro eintrat, strahlte ich soviel Zuversicht wie irgend möglich aus. Auch wartete ich nicht ab, bis ich an der Reihe wäre, sondern verkündete für alle gut vernehmlich:

„Der Gouverneur lässt Ihnen ausrichten, sie sollen den Vermerk eintragen, und überhaupt wäre es nicht üblich, Fremde derart zu belästigen.“

Abruptes Aussetzen des allgemeinen Hintergrundgemurmels und Konzentration aller neugierigen Augen in eine Richtung ließen vermuten, dass hier gerade Ungeheuerliches geschehen war. Die Reaktion wurde mit Spannung erwartet. Sei es, dass der selbsternannte Lokalgötze jetzt mit Blitzen schleudern oder eine unvorstellbar furchteinflößende amtliche Abkanzelung mich auf der Stelle versteinern lassen würde. Das zweite nervöse Zucken im Gesicht zeigte mir, ich sammelte Punkte. Jetzt auf keinen Fall ihm Gelegenheit lassen seine Autorität wieder voll zu etablieren. Er werde sich später darum kümmern und hätte vorerst anderes zu tun, beschied er hoheitsvoll. Genau das durfte ich nicht zulassen, jetzt half nur noch nerven, nerven und nochmals nerven. Ich hatte ohnehin keine andere Wahl, als hier so lange herumzuhängen bis meine Sache durchgefochten war. Also schob ich gleich nach, was er denn so dringendes zu tun hätte. Die Überzeugung von seiner Wichtigkeit musste so verkrustet sein, dass er eine Gegenoffensive für undenkbar gehalten hatte. Es traf ihn völlig unerwartet. Und ich schlug gleich nach. Immer schön gelassen, aber in der Phonstärke die sicherstellte, dass auch draußen vor der Tür noch jeder alles mitbekam, ihm nur ja keine Atempause lassen. Schwer zu sagen, was größer war, meine Wut oder meine Angst. Und ich hatte eine scheußliche Angst, wenn ich daran dachte, was dieser skrupellose Typ mit mir machen könnte. Im Falle einer Einkerkerung würde es ewig dauern, bis überhaupt eine Nachricht durchgelangte. Besser gar nicht daran denken, was sein könnte wenn. Diese Angst war der Motor meiner Aggression. Es war wie ein Kampf, bei dem man durch irgendeinen glücklichen Zufall einen übermächtigen Gegner am Boden hatte und auf gar keinen Fall wieder hochkommen lassen durfte oder damit aufhören auf ihn einzuschlagen. Diese widerwärtige Zwangslage erschien mir so drückend, dass eine grauenvolle Angst mich zu übermannen drohte, wenn ich nur einen Augenblick nachließ, bevor diese Sache ausgestanden war, und das hieß, solange bis von dem Anderen keinerlei Gegenwehr mehr zu erwarten war.

Sein Putz bröckelte also. Bei allen Anwesenden bröckelte auch seine Autorität, auf nichts anderes als auf Einschüchterung begründet. Ich sah es mit wachsender Hoffnung, und er sah es mit Schrecken. Jetzt fing ich an ihn nachzuahmen, parodierte mit übertrieben blasierter Mimik in seinem Tonfall:

„Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun.“

Die ersten Lacher kamen auf. Er grabschte ein paar Akten als Vorwand sich in einen anderen Raum zu verdrücken. Wieder machte ich aufs Groteske seine Gesten nach und folgte ihm. Die Anwesenden verwechselten es mit Volkstheater. Ich ließ jetzt nicht mehr locker, bombardierte ihn mit Fragen und deren Wiederholungen. Der Mann sollte keine Sekunde mehr vor mir Ruhe haben oder sich irgendwohin entziehen können. Jedes Lachen war seiner Eitelkeit ein schmerzhafter Schlag. Inzwischen kamen noch mehr Menschen in den Zollhof und drängten in die Büroräume. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass es hier etwas zu sehen und zu lachen gäbe. Ja, kommt nur alle herein, ihr sollt nicht enttäuscht werden. Es war nicht nur meine aufgestaute Wut und meine Ängste, die ich abreagierte, ich muss zugebend, es begann mir auch ein höllisches Vergnügen zu bereiten diesen Popanz, der schon wer weiß wie lange durch Einschüchterung und Demütigung von seinen Mitmenschen schmarotzt hatte, öffentlich zu demontieren. Ganz so schnell gab er noch nicht auf. Er flüchtete sich in die Behauptung, dass der dafür nötige Stempel gerade nicht auffindbar sei. Das Stichwort nahm ich gern auf und ging dazu über, seine Autorität auch bei seinen Untergebenen abzubauen. Mit der Frage,

„Was sagt Ihr dazu, er weiß nicht einmal, wo er den Stempel gelassen hat?“,

ging ich sie direkt an:

„Und so etwas will Euer Chef sein. Im großartigen Herumkommandieren gefällt er sich, aber er kann noch nicht einmal einen notwendigen Stempel finden. Was kann er überhaupt, außer sich aufblasen wie ein Frosch in der Brunftzeit?“

Lautes Gejohle aus dem Publikum war die Antwort und Verlegenheit bei seinen Leuten. Ich begann die verschiedensten Mutmaßungen darüber anzustellen, wie er zu seinem Posten gekommen sei, und machte immer kurz vor einer endgültigen, nicht zu beweisenden Behauptung halt. Es war auch nicht mehr nötig, das Publikum machte jetzt schon so begeistert mit, dass es selber die verschiedensten Stichworte Einwarf, unter prustendem Gelächter. Er machte den Versuch eines letzten Aufschwungs, indem er sich innerlich straffte und betont besorgt kundtat, dass es so nicht weiterginge, und er sonst den Zollhof zur Wiederherstellung der Ordnung räumen lassen müsse. Als Antwort deklamierte ich ins Publikum:

„Unser tüchtiger Zollchef hier macht sich Sorgen um die Ordnung. Das wollen wir ihm natürlich nicht antun. Ohnehin hatte ich dem Gouverneur versprochen ihm zu berichten, ob alles gut abläuft. Das will ich jetzt tun. Es wird nicht lange dauern, und ich hoffe, dass inzwischen niemand unseren Oberzöllner vom Stempelsuchen abhält.“

Im Vorgarten des Gouverneursanwesens, wo ich jeglichen Blicken entschwunden war, setzte ich mich eine Weile in den Schatten.

Als ich zur Zollstation zurückkam, sah ich gerade wie der Chef die Außenpforte abschloss. Auf die Frage, ob das Stempelsuchen ihn so erschöpft hätte, dass er der vorzeitigen Feierabendruhe bedurfte, sah ich nur ein gequältes Gesicht. Laut ließ ich vernehmen, dass ich am nächsten Morgen gleich in der Frühe zur Öffnung wieder hier sein werde.

Die Zollstation erweckte am nächsten Morgen schon von weitem den Eindruck, als wäre dort Wochenmarkt. Eine Gasse durch die erwartungsvolle Menge bildete sich von selbst. Großartige Begrüßung, Händedrücken, Zurufe, Schulterklopfen, kurz: Der Hauptdarsteller in einem Schmierenstück betrat die Bühne. Nur der Gegenspieler und unverzichtbare Bösewicht war nirgends aufzufinden. Verlegen sich herumdrückende Untergebene ließen sich endlich die Neuigkeit entlocken, ihr Chef wäre krank heute. Umgehend posaunte ich es ins Publikum, mit dem Zusatz:

„Dann wollen wir doch gleich mal sehen, wie es ihm so geht.“

Die Menge setzte sich in Marsch. Unnötig zu fragen, wo er wohnte, die Volksansammlung wälzte sich einfach dorthin und scharte sich um ein einzeln stehendes Häuschen mit festverschlossener Tür und verrammelten Fensterläden.

„Wollen Sie nicht einmal herausschauen und sehen, wie groß die Anteilnahme an Ihrem Befinden ist? Halb Tessinei ist anwesend rund um Ihr Haus versammelt.“

Vielstimmiges Gejohle ertönte zur Bestätigung. Als drinnen noch immer alles ruhig blieb, fuhr ich fort:

„Woran sind Sie denn erkrankt, sollte es das Gewissen sein?“

„Wohl weniger“,

korrigierte ich mich nach kurzem Nachdenken und überlegte laut weiter:

„Oder sind es die Verwünschungen der vielen Menschen, die Sie beschimpft, beleidigt, gedemütigt und obendrein noch bestohlen haben?“

„Ja, genau“,

kamen die Zurufe aus der Menge, gefolgt von einigen Schimpfworten, die ich nicht verstand, weil in Amharisch. Jetzt tat sich doch etwas an der Tür. Sie wurde einen Spalt geöffnet, um ein in der Tat sehr blasses Gesicht erscheinen zu lassen.

„Sagen Sie meinen Leuten, sie sollen Ihnen den gewünschten Vermerk in den Pass geben. Der Stempel liegt in der zweiten Schublade rechts, und lassen Sie mich bitte in Frieden."

Der Rest ging sehr schnell. Abdul strahlte schon seit gestern Abend über das ganze Gesicht. Aber als ich ihm den Wagen übergeben hatte und wir uns verabschiedeten, streifte er nur meine Handfläche, wie Orientalen es manchmal tun anstatt sie zu drücken, und legte die Hand anschließend an sein Herz mit einer angedeuteten Verbeugung.

Noch am selben Nachmittag wurde ich an der Zollstation mit einem Lastwagenfahrer handelseinig für eine Passage nach Asmara. Erst jetzt spürte ich, wie sehr das, was für die Anderen wie eine Posse ausgesehen haben musste, auch an mir gezehrt hatte. Unendlich müde, froh die Koje hinter dem Fahrersitz benutzen zu dürfen, aber auch mit dem Bewusstsein erst jetzt real hier zu sein, verschlief ich den längsten Teil der Fahrt.

Asmara bot einmal wieder die gewohnten Annehmlichkeiten der Zivilisation, darunter Restaurants mit italienischer Küche und originelle Kneipen. Meine drei Gefährten kannten sich schon bemerkenswert gut aus. Erstaunlich wie viel es zu erzählen gab, obgleich es nur zwei Tage waren, die wir uns nicht gesehen hatten. Lediglich über Verbindungen zum Jemen hatten sie noch nichts herausfinden können, außer dem Tipp, dass so etwas im Hafen von Massawa eher zu erkunden wäre. Ich machte mir darüber keine weiteren Gedanken, denn seit Tessinei war meine Zuversicht zur Gewissheit geworden, die wichtigsten Hindernisse bewältigt zu haben. Um den Wagen und den größten Teil der Ausrüstung erleichtert, blieb die Eingebung nicht aus, dieses auch einfacher hätte haben zu können. Die Vorstellung, unbehelligt gleich nach Asmara zu fliegen, war nicht nur inzwischen müßig, irgendetwas sagte mir auch, dass diese Abläufe ihre eigene Folgerichtigkeit hatten.

Seit Marsa Alam nämlich ließ so ein vager Verdacht mich nicht mehr los, etwas bahne sich da an, vorerst noch formlos und gar zu ungewohnt, um für mich fassbar zu sein. Viel zu gebunden war auch mein Bewusstsein an gewohnte Denkmodelle und viel zu beschäftigt mit Überlegungen, wie verschiedene Hindernisse zu überwinden wären. Auch mag ja der Verstand für allerlei Kunststückchen sich als ganz behände erweisen, aber nicht selten ist gerade er es, der bei wirklich entscheidenden Veränderungen hinterherhinkt. Und so war mir vorerst nur ein wenig mulmig, eine leichte Verunsicherung, die mangels greifbarer Fakten kaum beachtet beiseite geschoben wurde. Nur mählich und schrittweise begann ich zu begreifen, was wirklich geschah, dass seit Marsa Alam parallel für mich schon längst eine zweite Reise ganz anderer Natur ablief, von der ich nicht mehr zurückkehren sollte. Jedenfalls nicht als der, der sie angetreten hatte. Aber was da wirklich geschah, und rückblickend einen erstaunlich folgerichtigen Ablauf erkennen ließ, begriff ich erst Jahre danach. Auch mag dies der Grund dafür gewesen sein, warum ich diese Aufzeichnungen erst dreißig Jahre nach ihrem Geschehen abschloss.

Das Halbmondamulett.

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