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Das reine Licht der Höhe

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Stockfinster war es, so schwarz wie eine Nacht nur sein konnte, eine Stunde zu der noch kein Hahn auch nur ans Krähen dachte. Hin und wieder war man nahe daran gegen eine Mauer zu rennen, was daran erinnerte, sich mitten in einem Ort zu befinden. Wenigstens hatten wir einen guten Grund, zu so früher Zeit in der Dunkelheit herumzutappen. Auf dem Platz von Axum endlich waren einige Gestalten auszumachen, Wartende mit Paketen und Bündeln, und das auch nur, weil aus dem Inneren eines der Busse ein wenig trübes Licht drang.

Wir waren noch nicht allzu lange gefahren, als es begann zu dämmern. Das aufkommende Licht zeigte, wie nicht anders erwartet, eine staubige, ungepflasterte Strasse inmitten wilder Berglandschaft. Immer grandioser wurde diese mit skurrilen Spitzen und Tafelbergen. Neben einer Bergwand zwischen zwei Kurven, weit abseits von auch nur den bescheidensten Anzeichen menschlicher Existenz, hielt der Bus. Der Fahrer drehte sich um, um uns einen zweifelnden Blick zuzusenden. Wir gaben den Blick an Amhar weiter. Ja, das sei der nächstgelegene Punkt. Nun gut, er hatte in der kurzen Zeit schon mehrfach bewiesen, dass wir ihm vertrauen konnten. Also schulterten wir unser ausgesucht kleines Gepäck und stiegen die Böschung hinunter. Der Bus, samt Fahrer und Insassen, die das alles von nun an nichts mehr anging, entschwand unterdessen hinter der nächsten Biegung.

Alleingelassen in einer weiträumigen, leeren Landschaft schlug die Stille über unseren Köpfen zusammen. Aktivität lenkt ab, schafft Selbstvertrauen, und so marschierten wir einfach drauflos in die angegebene Richtung, hinein in die Landschaft, ohne Weg, ohne erkennbares Ziel. Außer einigen Vögeln war kein Lebewesen auszumachen. Hin und wieder standen einzelne Bäume herum, sonst gab es nur nackte Erde mit etwas Geröll. Später entdeckten wir darin Spuren einer früheren, womöglich auch sporadischen Bebauung. In der angenehmen Morgenluft ließ es sich wenigstens frisch ausschreiten. Aber die Sonne erhob sich mehr und mehr über dem Horizont. Wir wollten unser Ziel erreichen ohne allzu lange der Hitze ausgesetzt zu sein. Weite Äcker erschienen jetzt, darin Männer, die noch mit alten Holzpflügen und vorgespannten Ochsen sich abmühten. In vorsichtigem Abstand hinter ihnen staksten große Vögel, aufmerksam die frischen Furchen inspizierend. Immer noch der gleichen Richtung folgend, von einem Weg konnte nach wie vor nicht die Rede sein, ging es abwärts in ein Tal mit Terrassen und einigen kleinen Gruppen von Tukuls, in deren Nähe auch Ziegen, Schafe, Rinder, Frauen und Kinder zu erkennen waren. Gegenüber, in einigen Kilometern Entfernung wurde die andere Talwand weit überragt von einem imposanten Berg, den die waagerechte Linie einer Tafel abschloss. Dieses Plateau fiel rundherum über eine beachtliche Höhe senkrecht herab, bevor mit einem Knick die normale Schrägung des Berges ansetzte. Dort oben läge Debre Damo, sagte Amhar.

Was ist Debre Damo? Noch vor drei Tagen wussten wir das selber nicht, hatten noch nicht einmal diesen Namen gehört und es erübrigt sich zu erwähnen, dass unsere ursprüngliche Reiseplanung ganz anderes vorsah. Zufällig hatten wir dann von Debre Damo gehört. Und ebenfalls für Zufall hielten wir den auf einmal gänzlich unverzichtbaren Wunsch, ihm einen Besuch abzustatten, obwohl uns zu diesem Zeitpunkt schon klar war, dass solch ein Ausflug ganz erhebliche Anstrengungen beinhaltete.

Doch jetzt vor dessen Anblick schauderte mir bei dem Gedanken, wie dieser überall mit so viel scheuer Ehrfurcht genannte Ort räumlicher und geistiger Entrückung zu erreichen wäre.

Von den bebauten Terrassen ging es noch tiefer auf den Boden des Tals hinab. Dichte Vegetation unverfälschter Natur umfing uns. Ganz unten war ein Wildbach zu durchqueren, bevor es wieder hinauf ging durch Gestrüpp und über Felsbrocken. Der Schatten im Laub dieses feuchten Einschnittes war nur von kurzer Dauer. Die Sonne brannte jetzt schon heiß. Hinzu kam, dass es von nun an überwiegend bergauf gehen würde. Auch ohnedem fing zu diesem Zeitpunkt der Schweiß an, uns den Körper hinabzurennen. Endlich hatte wenigstens das mühsame querfeldein Marschieren ein Ende. Kurz vor dem Steilhang erreichten wir einen ausgetretenen Pfad. In weitem Bogen führte er um den Berg herum und in dessen Schattenseite. Ein seltsam verschwiegenes Reich von saftgrünem Kakteen- und Euphorbienwald umgab uns dort mit kühler, feuchter Luft. Wie geschaffen um sich gegen einen Baumstamm gelehnt ein wenig auszuruhen, der Schuhe zu entledigen und die Beine zu strecken.

Etwas schläfrig dösten wir so ohne Zeitgefühl jeder mit offenen Augen vor sich hin. Fremd, wie eine Kulisse aus einem unbekannten Film, erschien uns der dichte, hohe Kakteenwald. Plötzlich traf uns ein Schatten, und vor uns stand eine noch fremdartigere schwarze Gestalt. Keiner hatte etwas kommen sehen oder gehört. Eben so lautlos wie geschwind musste sie hinter der Kakteenhecke hervorgekommen sein. Ausnahmslos schwarz war die ganze Erscheinung, natürlich die Haut, aber auch der Vollbart, der weite Umhang, der Fliegenwedel in der Hand und der hohe Hut, von der Art, wie ihn griechische Popen trugen. Erst jetzt, nach geraumer Weile ging uns auf, dass er ein Mönch sein müsste. Seinerseits schien er über den unerwarteten Anblick von uns vier Farblosen an diesem Ort gleichermaßen verwundert. Amhar trug ihm unseren Wunsch vor Debre Damo zu besuchen. Der schwarze Mönch zupfte sich nachdenklich den Bart und fragte nach schriftlichen Empfehlungen kirchlicher Autoritäten. Wir hatten nichts Derartiges vorzuweisen, auch gar nicht bedacht, dass spontane Besuche irgendwelcher Fremder nicht unbedingt gelegen kommen könnten. Er musterte unsere Gesichter, als stünde darin das Fehlende geschrieben. Ich möchte bezweifeln, dass er so etwas wie eine Empfehlung erkennen konnte, sicher aber ehrliches Interesse. Nach einem Moment des Überlegens nickte er uns freundlich auffordernd zu. Eigentlich wollte er ins nächste Dorf gehen, aber wir möchten ihm bitte folgen. Das waren so ziemlich die letzten Worte, die wir von ihm hörten. Später auf Debre Damo sollten wir erfahren, dass diese Wortkargheit keine Ablehnung bedeutete, sondern ganz andere Gründe hatte.

Wir hatten Mühe leidlich mit ihm Schritt zu halten. Der Weg wurde immer steiler und endete in einer kleinen Lichtung vor der Wand. Senkrechter, nackter Fels stand vor uns, und der Blick in die Höhe ließ verzagen. Der Mönch rief hinauf. Oben über der Kante erschien ein Kopf mit ebensolchem schwarzen Hut, und dann flog ein Seil herunter, das aus vielen kleinen Lederriemen zusammengeflochten war. Der Mönch stieg daran hoch mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Oben angekommen warf er noch ein zweites Seil herunter mit der Andeutung es fest um den Leib zu binden. Abgesehen von dem Gefühl größerer Sicherheit, glaubte ich, ohne das zweite Seil, an dem ich nach Kräften mit hochgezogen wurde, hätten mir vor dem Erreichen der Kante die Arme versagt.

Oben sah ich Holzpfähle in den Fels gelassen, an denen man die Seile befestigt hatte und auch sich selber halten konnte, wenn man über den Rand hinuntersehen wollte. Jeder weitere Blick war schon nach wenigen Schritten durch Mauern verstellt, die ein kleines Tor einfassten. Als wir alle oben angekommen waren, durchschritten wir es und waren von allen Seiten aufs Neue von Mauern umgeben. Einige Stufen führten hinauf zu einem zweiten, inneren Tor. Hier hieß man uns in aller Form willkommen, reichte aus zugedecktem Brunnen einen symbolischen Willkommenstrunk, der angenehm frisch und kühl schmeckte. Drei Dinge seien nicht gestattet auf Debre Damo, wurden wir belehrt: Alkohol, Tabak und Frauen. Der Ausschluss letzterer erstreckte sich auch auf Tiere weiblichen Geschlechts.

Damit war uns der Eintritt gewährt in eine weitestgehend spirituelle Welt der Zurückgezogenheit, allem Lärm und Treiben der gewöhnlichen Welt auf 3290 m.Höhe entzogen. Auch wurde es unsere erste Erfahrung mit dem Reisen in andere Zeiten. Nicht dass hier die Vergangenheit konserviert wurde, nur war Zeit einfach unbedeutend, wie nahezu alles andere auch und zeigte - vom Gang der Gestirne einmal abgesehen - keinen linearen Verlauf. Bald erschienen uns jene Geschichten gar nicht mehr so abwegig von Leuten, die an solchen Orten einige Tage verbracht zu haben glaubten und zurückgekehrt in die Außenwelt feststellen mussten, dass es Jahre waren. Von den fast 600 Mönchen jedoch, die hier leben sollten, bekamen wir, außer bei religiösen Zeremonien nur wenige zu Gesicht. Auch wir, sonst überall Objekt der Neugierde waren uninteressant für sie. Davon unberührt erhielten wir die volle Gastfreundschaft.

Die naturgeschaffene Isolation dieser nur wenigen hundert Metern Felsplatte entsprach dem Verlangen der sich hierher Zurückgezogenen nach Gottesnähe. Die auf jedem Schritt gegenwärtige Weite und der erhabene Standpunkt beeinflussten die Sinne nachhaltig. Alles irdisch Alltägliche war fern, weit unten. Die Lebensbedürfnisse waren hier oben auf das notwendigste reduziert. Keiner Äußerlichkeit sollte es ermöglicht werden, ihr gewohntes Gaukelspiel mit den Sinnen zu treiben. Auch die Angewohnheit des ständigen meist belanglosen Redens, des unüberlegten sich immer wieder selbst und gegenseitig Versicherns, dass man noch da ist und alles in Ordnung, verebbte wie von selbst. Was gäbe es auch zu sagen an solch einem Ort, das nicht sofort als bedeutungslos entlarvt wäre. Die tiefe Ruhe hatte auch uns bald erfasst. Je länger hier, desto mehr verwundert waren wir, dass man uns überhaupt herauf gelassen hatte.

Die Felstafel war doch nicht so eben, wie sie aus der Ferne erschien. In den Stein der Oberfläche hatte man auffallend häufig Treppen geschlagen. Viele führten zu Zisternen hinunter, im Laufe der Zeit vom Regen ausgewaschene Löcher, andere waren in den Fels geschlagene Vierecke. Dazwischen standen einfache Bauten aus Feldsteinen aufgeschichtet, nur manche der Kirchen waren aus behauenen Quadern. Immer wieder geglättete Felsstufen, die in schattige Kühle hinab führten. Grüne Pflanzenschleier auf der Wasseroberfläche verhüllten die wahre Tiefe. Darunter lagen Höhlen, eine geheime Welt des Untergrunds, ein ganzes miteinander verbundenes System, das in einen See führen sollte, tief unter der Oberfläche. Auf dem Wege über einen anderen nicht mit Wasser gefüllten Höhlengang wäre diese Unterwelt zu erreichen.

Das wollten wir uns nicht entgehen lassen. Sie glaubten nicht, meinten unsere Begleiter, dass es möglich wäre, denn weder sie noch die meisten anderen Klosterinsassen hätten je einen Blick da hinein werfen können. Der Zugang führte zu Grabstellen ganz früher Heiliger, die, so weit sie wussten, noch niemand zu Gesicht bekommen hätte. Aber da wäre ein alter Mönch, der darüber mehr wüsste und letztlich auch zu entscheiden hätte. Sie wollten uns gerne zu ihm führen.

Vor einer uralten Kirche blieben wir stehen, die aus irgendeinem Grunde unter Vermeidung von jeglichem Metall ganz aus Holz errichtet war. Pflöcke statt Nägel hielten Balken und andere Bauteile zusammen. Nur das Dach war, wie bei den meisten anderen Gebäuden in neuerer Zeit mit Wellblech abgedeckt. Eine zierliche Blechhaube krönte es, deren tüllenartige Glöckchen ständig im Wind klingelten. Die Außentür war durch ein sehr fremdartiges, kunstvoll konstruiertes Holzschloss zu öffnen. Wieder mussten wir die Schuhe draußen lassen. Im Dämmerlicht des Inneren, auf dem mit Matten ausgelegten Fußboden, wurden große Trommeln sichtbar. An der Wand standen alte Lampen und Weihrauchbecken auf Ständern. Darüber waren Leinwandstücke zu erkennen mit Malereien, die von der Decke hingen. Es roch nach verbrannten Kerzen, Staub und Räucherwerk. Deckenbalken mit reich geschnitzten und bemalten Ornamenten ließen ahnen, welche Pracht sie im Kerzenlicht entfalten würden. Einer der Novizen ging vor und klopfte zaghaft an eine Seitentür im Halbdunkel des rückwärtigen Kirchenraumes. Amhar ging ihm nach, um den gedämpften Wortwechsel zu verfolgen. Wieder am Eingang flüsterte er uns zu, nur einer dürfe hineingehen. 0-Chang, Hermann und Bernd wollten lieber mit den Novizen draußen vor der Kirche warten. Amhar als Dolmetscher sollte mitkommen, sonst niemand.

Wir schlossen die Tür wieder hinter uns. Durch Oberlichter war der kleine, schmucklose Seitenraum um etliches heller als die Kirche. Auf dem Boden saß ein alter Mönch in weißen Gewändern über einem aufgeschlagenen Buch. Hinter ihm auf dem Boden stapelten sich noch etliche Bücher gegen die Wand gelehnt, ihrem Aussehen nach alle von beträchtlichem Alter. Unseren Gruß erwiderte er mit einem knappen Nicken und der angedeuteten Geste auf der Matte vor ihm Platz zu nehmen. Lange und ernst schaute er mich an. Ich sah in die unverändert ruhenden Augen, dann auf die gegerbte und gefurchte Haut in seinem dunkelbraunen Gesicht. Die Sonne und eine unbestimmbare Anzahl von Jahren hatten ihre Zeichnung darin hinterlassen. Wie ein Vogel, der über die nicht endenden kahlen Höhen und Furchen dieses Landes kreiste, spürte ich Trockenheit, Erosionsspuren und Abgründe von Zeit, und ich hörte den Staub fallen im Raum. Dann mäanderten meine Gedanken. Mir fielen auf einmal alle meine Unzulänglichkeiten ein: Ich war ungeduldig, willensschwach, knickrig, unkonzentriert. Es war als würde ich alles deutlich auf einem vor mir liegendem Blatt Papier niederschreiben, was mir nur Mangelhaftes einfiel. Kleinmütig, ängstlich kam noch dazu, und noch so manches gleich an Hand von Beispielen, von dem ich mich in dem Glauben wähnte, es existiere gar nicht, weil ich schon so lange keinen Gedanken mehr daran verwandt hatte. Plötzlich wurde ich unterbrochen von einer leisen, tiefen Stimme. Als sie eine Pause machte, übersetzte Amhar:

„Was du suchst, wirst du hier nicht finden, jedoch in der Stadt Abrehas.“

Schon etwas verwirrt wand ich ein, ich wollte eigentlich nur um die Erlaubnis bitten, die Höhlen zu besichtigen, und fügte hinzu, weil derlei Naturwunder uns interessierten. Den Gräbern der Heiligen würden wir dabei mit allem nötigen Respekt begegnen. Die Antwort überraschte mich wiederum.

“Wenn es nur das wäre! Du musst wissen, Debre Damo ist ein sehr altes Kloster, eines der frühesten in der ganzen Christenheit. Damit nicht genug, ein sakraler Ort war es bereits lange Zeiten zuvor. Die Heiligen liegen nicht zufällig genau dort begraben. Sie sind Überwinder und sie sind Siegel, so wie es auch geschrieben steht im Namen des Erbarmers und seines Sohnes Krestos, des Siegers und des Heiliger Geistes.“

Er gebrauchte diese alte Formulierung und betonte sie besonders. Ich verstand überhaupt keinen Zusammenhang mehr, fragte noch einmal nach und konnte nur hoffen, dass Amhar alles richtig erfasst und übersetzt hatte. Mehr war nicht zu erfahren, über das, was unter unseren Füßen liegen sollte. Auch auf meine Bitte, ob er es mir denn nicht wenigstens mit Worten beschreiben könnte, antwortete er nur:

„Du hast nicht verstanden, was ich dir verdeutlichen wollte, wie viel weniger wirst du das Mysterium der Höhlen begreifen, ist es doch mit Worten dem Verständnis nicht näher zu bringen. Unter der Erde soll es verwahrt bleiben, hier ebenso wie an den anderen Orten. Dir ist es bestimmt mehr zu erfahren in der Stadt Abrehas. Du hast bereits ohne es zu wissen, dich auf eine Reise besonderer Art begeben. Wenn du entschlossen fortschreitest, ohne den Blick abzuwenden, wirst du soviel sehen, wie nötig für dich ist, um zu verstehen. Dieser Ort ist mit dem reinen Licht der Höhe gesegnet. Dir brächte es nicht Ruhe sondern Stillstand. Ein Verweilen aber ist nur für den von Segen, der seines nicht mehr bedarf. Suche auch nicht nach anderen Orten unvergänglichen Glücks, selbst der Garten Eden, wenn du Ihn fändest, brächte dir nichts als den ewigen Schlaf. Du hast noch einen langen Weg vor dir, und er führt zuvor durch die Niederungen. Unweigerlich würdest du auch sonst dahin zurückfallen, solange noch starke Bande dort dich halten.“

Dann hob er vor sich die Matte an und zeichnete eine große Acht in den Erdboden.

„Präge dir dieses Zeichen genau ein, und halte dich gen Osten, dort wo du das Kreuz geschrieben siehst."

Während er dies sagte, zeichnete sein Finger in eine der Schlaufen der Acht ein Kreuz. Seine Hand verwischte die Zeichnung wieder.

„Dein Weg wird unangenehm und gefährlich sein. Das ist er von seiner Natur her, nicht nur für dich. Alles das wirst du heil überstehen und finden nach dem du suchst, wenn du der Wahrheit folgst und unbeirrt weitergehst, ohne dich ablenken zu lassen. Dein Ziel wirst du im Gewand des Kriegers aber ohne Gewalt erreichen. Sei auf der Hut in der Stadt Sems. Dämonen der Vergangenheit sind wieder erwacht. Sie stammen aus dem längst überwunden geglaubten Zeitalter der dunklen Seite des Mondes. Von ihnen droht euch allen Gefahr.“

Er schaute mich prüfend an, und musste eigentlich festgestellt haben, dass ich höchstens noch verwirrter war als zuvor. Eigenartigerweise schien ihm das überhaupt nichts auszumachen, oder er war sich völlig sicher, dass die verabreichten Worte in mir weiter wirken würden. Anstatt auch nur irgendetwas hinzuzufügen oder eine weitere Erklärung abzugeben, hob er wiederum die Matte an und zeichnete in die Erde zwei Bögen, die sich an den Spitzen berührten und so eine wenn auch sehr flache Sichelform ergaben, sozusagen einen liegenden Halbmond. Dann darüber einen etwas kleineren Kreis und eine gerade Linie, die die beiden Spitzen es Halbmondes und in der Mitte den oberen Rand des Kreises berührte.

„Diesem Zeichen kannst du vertrauen.“

Damit deutete er mir an, dass die Unterredung beendet war. Ich verstand immer weniger, hatte keine Ahnung, dass ich überhaupt etwas suchte, viel weniger noch, um was es sich dabei handeln sollte. Meine Verwirrung war gar zu offensichtlich, so dass mein Gegenüber sich doch noch einmal herbeiließ:

„Du wirst verstehen, wenn es an der Zeit ist, und mit jedem weiteren Schritt soviel, wie für den nächsten nötig sein wird.“

Als hätte er jetzt aber wirklich genug geredet, und fast schon zuviel preisgegeben, beugte er sich wieder über das Buch und vertiefte sich in die uralten Lettern, als wäre ich nie im Raum gewesen.

„Was habt ihr denn bloß so lange gequatscht?“

Schauten meine Freunde mich verwundert an.

„Wenn ich das selber wüsste“,

murmelte ich benommen vor mich hin. Es war nicht nur das plötzliche, grelle Tageslicht, ich fühlte mich wie in jenem Zustand, wenn man zu abrupt geweckt wurde und sozusagen noch mit einem Fuß in der Traumwelt weilte. Auch waren da eine Fülle von Eindrücken und Worten, die ich bemüht war in das, was ich für so etwas wie das Wachbewusstsein hielt, hinüberzuretten. Und gerade diese irritierten mich umso mehr, wusste ich doch kaum etwas damit anzufangen.

„Du scheinst ja mal wieder ziemlich zäh verhandelt zu haben“,

witzelten sie. Ach ja, die Höhlen fiel es mir jetzt wieder ein, die müssten denken, ich hätte nur versucht den Mönch wegen der Erlaubnis so lange zu überreden.

„Damit wird wohl nichts“,

entglitt es mir, immer noch geistesabwesend. Erst der Schreck holte mich wieder in die Gegenwart, als sie irgendetwas von beinahe zweieinhalb Stunden erwähnten. Aber darauf versagte ich mir etwas zu entgegnen, war ich doch selber um eine Antwort verlegen, denn ich meinte, ich wäre nur einige Minuten bei dem Mönch gewesen. An seltsamen Kuben aus aufgeschichteten Steinen kamen wir vorbei. Für ein Bauwerk waren sie entschieden zu klein und obendrein ohne Türen und Fenster. Dennoch wohnten Mönche darin, die sich hatten einmauern lassen. Durch eine winzige Öffnung schoben Novizen ihnen einmal täglich Nahrung hinein und nahmen das leere Geschirr zurück. Sie waren angewiesen, sich dabei jeglicher Rede zu enthalten.

Wohin man auch ging, immer wieder stand man bald am Abgrund, eine abrupte Grenze ohne Mauer oder Geländer. Übergangslos endete diese Welt der Zurückgezogenheit. Wie eine Insel schwebte sie hoch in den Lüften, in einem Ozean von bizarren Bergen, dessen Ende in keiner Richtung abzusehen war.

Bei Sonnenuntergang saßen wir an der Westseite des Abgrundes und blickten schweigend in die Ferne. Uns wurde auf einmal bewusst, wie wenig wir geredet hatten seit wir hier waren. Es bestand auch kein Bedürfnis. Jeder schaute in die Weite und horchte in die Stille. Meilenweit segelte der Blick durch leeren Raum bis er auf das erste Objekt traf, den gegenüber liegenden Berghang. Danach schob sich eine Kulisse von Bergen hinter die andere. Zu dieser Abendstunde wurden wir gewahr, dass es noch andere Wesen auf diesem Eiland gab. Meerkatzen näherten sich, uns neugierig betrachtend, gefolgt von Murmeltieren. Ihre Unbefangenheit sagte vieles über die eineinhalb Jahrtausende des Zusammenlebens mit Menschen auf engstem Raum. Und das, obwohl Murmeltiere des Teufels waren, wie uns die Novizen aufklärten.

Das Halbmondamulett.

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