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Geschichten und deren Verdichtung

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Stunde um Stunde drangen wir tiefer ein, in ein wildes, bizarres Land. Schroffe Berge von mondartiger Kargheit, alles versengende Hitze, zähe, von der Sonne gegerbte Bewohner. Wir wussten nur soviel: Wir waren irgendwo zwischen Asmara und Axum, aber auch das waren nicht viel mehr als Namen. Nicht einmal die Farbe des Himmels vermochten wir zu erkennen. Da war nur ein unendliches Gleißen und rings umher verbranntes Land.

Dennoch hätte unter all dem Befremdlichen eines uns aufschrecken müssen: Wir fuhren in die falsche Richtung. Seitdem der zweite Wächter glücklich überwunden, waren keine Hindernisse mehr auszumachen auf dem Weg zu unserem zuvor doch so hartnäckig verfolgten Ziel. Von Asmara hätten wir in bequemen drei Stunden Massawa erreicht, um dort nach einer Passage zum gegenüberliegenden Jemen Ausschau zu halten. Stattdessen saßen wir hier, kaum einer Bewegung fähig, eingekeilt zwischen anderen schwitzenden Leibern und vibrierenden Blechen, auf einer schier endlos anmutenden Fahrt in die entgegengesetzte Richtung. Es kam uns noch nicht einmal in den Sinn, daran etwas merkwürdig zu finden. Wieso taten wir das? Zwar meinten wir, schon einmal hier, uns noch ein wenig mehr von Äthiopien ansehen zu müssen, die Wahrheit aber war, wir wussten es selber nicht, es geschah mit uns. Ganz unversehens befanden wir uns bereits mitten drin. Irgendwann hatte ich den Faden dieser Reise aus den Händen verloren. Einfach so. Eigenartigerweise war ich überhaupt nicht beunruhigt darüber. Und so entfernten wir uns immer weiter von unserem vermeintlichen Ziel, immer weiter in ein seltsames Land, nicht ahnend, dass wir schon angekommen waren, denn es sollte sich als ein Bestandteil unseres Zieles erweisen. Ohne es zu wissen waren wir an jenem Punkt angelangt, wo man den Dingen nur noch ihren Lauf zu lassen brauchte.

Der nächste Halt sollte Adua heißen. Äußerlich erwies es sich als ein nichtssagendes Nest. Ein paar Feldsteinhäuser mit Wellblechdächern zogen sich den Hang hinauf, dazwischen Mauern aus aufgeschichteten Steinen. Der Name war es, der dem Ort Gewicht verlieh. Unmöglich sich berühmten Stätten ohne vorgefasste Bilder zu nähern. Nahe dieses Städtchens, in der grünen Mulde am Fuße mächtiger Berge, wurde 1896 eine waffentechnisch haushoch überlegene, europäische Armee vernichtend geschlagen. Kaiser Menelik II. hatte es zuvor fertig gebracht die Stämme und Völker des Reiches zu einen, um dieser Bedrohung von Außen zu begegnen. Zwar besaßen die Äthiopier einige Gewehre, aber die meisten sollen noch mit Schwertern und Lanzen gekämpft haben. Zuvor hatten geschickte Scheinangriffe und kleine Überfälle ständig die Italiener genervt und zu strapaziösen Märschen in wildem Berggelände genötigt mit stets frustrierendem Ausgang. Sie hatten einzig den Zweck, den Feind zu ermüden und zu zwingen immer mehr seiner schweren Waffen einschließlich der gesamten Artillerie zurückzulassen. Meneliks listiger Feldherr Ras Alula hatte es auch verstanden, dem italienischen Stab unentwegt irreführende Informationen über Stärke und Standort der Äthiopier sowie über die Wegeverhältnisse zukommen zu lassen. Bei der überraschend aufgezwungenen Entscheidungsschlacht sahen sich die Italiener überrumpelt von einem Gegner, der sie mit der Wildheit von Raubkatzen anfiel.

Der Sieg war total und muss für ganz Afrika das Ereignis gewesen sein. In dieser Nacht hielt man in Europa den Atem an ob der unfassbaren Nachricht. In Äthiopien brannten auf allen Bergen Freudenfeuer. Die Buschtrommeln dröhnten für etliche Tage und Nächte, bis es der ganze Kontinent wusste: Es gibt Hoffnung, der weiße Mann wurde besiegt in den Bergen Habaschas. Menelik selbst schickte Boten nach London, die für ihn um die Hand von Königin Victoria anhalten sollten. Man kann sich die Gesichter im Buckingham-Palast und das Antwortschreiben ausmalen.

Auf dem Platz von Axum angelangt, drehte der Bus noch eine müde Schleife, bevor der Motor zum Stillstand kam, und mit ihm auch das alles durchdringende Vibrieren.

„Seltsam“,

sagte Hermann, als wir auf unser Gepäck warteten, welches gerade der Beifahrer vom Dach herunterreichte.

„Da war doch so ein Typ im Bus, ich bin mir ganz sicher, den schon in Port Sudan gesehen zu haben. Nein, keiner von den „Freunden“. Ich hatte mir deswegen auch noch nichts dabei gedacht. Der fiel mir auf, weil er ein so seltsames Amulett an einem Kettchen um den Hals trug. Sah aus, wie ein liegender Halbmond, aber doch noch anders, da war noch mehr. Ich konnte nicht so genau hinsehen, sonst wäre er auf mich aufmerksam geworden. Später sah ich ihn dann gleich nach uns in den Zug steigen.“

„Das wäre in der Tat seltsam, die ganze Strecke über viele Tage und in verschiedenen Transportmitteln? Man könnte fast glauben, er verfolgte uns und das auch noch über die Grenze!“

Alle vier dachten wir laut darüber nach, was der Anlass sein könnte, uns seit Port Sudan im Auge zu behalten, bis 0-Chang einwarf:

„Vielleicht haben wir den falschen Denkansatz und es sollte besser Suakin heißen.“

„Die merkwürdige Dhau mit den verschwundenen Passagieren?“

„Das würde heißen, wir wären zufällige Zeugen geworden von etwas, was niemand sehen sollte.“

„Ja“,

nickte 0-Chang,

„und das würde auch unsere „Freunde“ in Port Sudan erklären.“

„Aber es war keiner von denen“,

warf Hermann ein.

„Auch sah er nicht aus wie ein Weißer, eher wie ein Orientale, was weiß ich woher.“

Heiß und staubig wie die sechs Stunden der Fahrt war es auch hier. Wir hatten uns bereits daran gewöhnt, durch unsere bleiche Hautfarbe schon von weitem als Fremde erkannt, überall Gegenstand der Neugier und Zielgruppe diverser Annäherungsbemühungen zu sein, mit überwiegend gewinnorientierten Hintergedanken. Darunter waren auch Jugendliche, die ihre Dienste als Fremdenführer anboten. Bis Asmara war es gerade noch möglich gewesen, mit Englisch zurechtzukommen. Danach wurde fast aus schließlich Amharisch gesprochen. Amhar sprach erstaunlich gut Englisch, und bewies schon bei der Hotelsuche, sowie der Verhandlung über Zimmer und Preis, dass wir es besser gar nicht hätten treffen können.

Der erste Eindruck von Axum glich einem jener unbedeutenden Flecken, an denen man sich fragte, was man hier zu suchen hätte. Wusste man es, so gelangte man am Rande der Kleinstadt zu dem Bezirk von Maria Zion. Die Anlage machte einen Eindruck, dem man sich schwer zu entziehen vermochte, jene Atmosphäre, wie sie uralten, sakralen Stätten eigen ist. Die langen Zeiträume geistiger Hingabe hatten deutliche Spuren hinterlassen.Erhabene Bäume umgaben das Allerheiligste. Nur das Summen von Insekten war zu hören und das Murmeln der Mönche. In langen weißen Umhängen und Kappen aus dem gleichen fließenden Stoff bewegten sie sich wie Gestalten eines Traumbildes oder hockten in tiefer Versenkung stumm auf geborstenen Steinen und freiliegenden Baumwurzeln.

Vorbei an einer zweiten, Zinnen bestückten Mauer führten Steinstufen hinauf zur Kirche. Schon äußerlich anders als das gewohnte Bild von Kirchen war hier irgendetwas völlig fremd. Als hätte die letzte Zeit uns nicht schon genug Unerklärliches beschert. Was von weitem wie Portale aussahen, drei große Bögen der Frontseite, erwiesen sich eher als eine Art Fenster. Aber auch das waren sie nicht, dienten scheinbar nur der Luftzufuhr, denn enge Holzgitter verwehrten den Einblick in das Dunkel dahinter. Nicht nur, dass das sonst übliche pompöse Portal fehlte, überhaupt kein Eingang war auszumachen. Das war kein öffentlich zugängliches Gebäude, eher wie ein großer Behälter kam es mit vor, wie ein Schrein. Spuren von Regenwasser und auszehrender Dürre, Überwucherungen von Flechten und Moos, mit der zähen Unbeirrbarkeit der Zeit hatten die Jahrhunderte den Anschein des Erdachten und Konstruierten verwischt, es in die Natur des Gewachsenen zurück geholt.

Erinnerungen an meinen Besuch im Hause des Gouverneurs von Tessinei kamen auf, wieder das gleiche Gefühl der Begegnung mit etwas sehr Altem und Fremdem. Nur diesmal begriff ich, dass es die ersten Spuren jenes Kulturkreises waren, der mich so fasziniert hatte. Wieso meinte ich, ihn erst im Jemen anzutreffen, war doch Äthiopien ein Teil davon, das Reich von Axum eine südarabische Gründung. Habascha nannten sich die Äthiopier selber, sie und ihre Sprache waren semitischen Ursprungs, nicht afrikanischen. Die Annahme des christlichen Glaubens, lange vor den meisten europäischen Ländern, hatte an diesen kulturellen Wurzeln nicht gerührt. Tiefes Schweigen lag über allem. Seit alters her galt der ganze Bezirk als der diesseitigen Welt entzogen, endete an seinen Umfassungsmauern staatliche Macht und irdisches Gesetz. Wer immer sie erreichte, befand sich in jenseitiger Geborgenheit. Kein Fall der Verletzung dieses heiligen Asyls war bekannt.

Höchst verwunderliche Geschichten rankten sich um diesen Bau und die Bundeslade, der er als nicht zugänglicher Hort diente, und um die Begebenheiten, wie diese vom Jerusalemer Tempel hierher gelangte.

Auf dem Weg zum Hotel fiel rasch die Dämmerung über das Land. Etwas abseits standen einige verlassen wirkende Häuser. Amhar, der sich sonst westlich aufgeklärt gab, verriet mir mit gesenkter Stimme und scheuem Seitenblick, dort wohnten Silberschmiede! Als er merkte, dass dieses Wort allein noch keinerlei Wirkung zeigte, klärte er mich auf. Vor denen sollten wir uns in Acht nehmen, das wären Magier, die über die erstaunlichsten Kenntnisse verfügten. Aber das wäre noch nicht alles, des Nachts verwandelten sie sich in Hyänen. Natürlich wollte ich wissen, was es mit den anderen "erstaunlichen Kenntnissen" dieser Magier auf sich hätte. Sie besäßen geheimes Wissen aus ältesten Zeiten, flüsterte Amhar, würden Zusammenhänge kennen, die selbst den Kaisern unbekannt wären. Als bei einem dieser Häuser ein Schatten sich bewegte, war es um Amhars Fassung geschehen. Der Versuch die Gefahr mit einem Kreuz zu bannen, wie bei Vampiren so bewährt, dürfte wenig Sinn haben, waren doch die hier angebotenen, meist außergewöhnlich schön gearbeiteten Kreuze, von genau diesen Silberschmieden hergestellt.

Am gleichen Abend hatten wir uns mit Amhar und einigen seiner Freunde verabredet in einem dieser typischen Tedsch-Lokale. Stolz und so selbstverständlich, als wäre das erst vorgestern gewesen, waren sie sich bewusst als Nachkommen des Axumitischen Reiches. Von dieser Kolonie der Sabäer, wenn nicht noch älterer Vorläufer aus Südarabien, waren nur noch einige Fundamente, wie der von Littmann entdeckte Königspalast "Taakha Maryam" zu sehen, zwischen vielen umgestürzten Steinen und vor allem den rätselhaften Monolithen, die wie Modelle bizarrer Hochhäuser mit deutlich eingemeißelten Stockwerken mit Fenstern und Türen aussahen. Der größte von ihnen ragte 23 Meter hoch, ein umgestürzter, zerbrochner maß sogar 33 Meter. Ihr Zweck war wiederum rätselhaft. Wie so manches in diesem Winkel der Erde, blieb der Sinn dieser gigantischen Steinsäulen im Dunkel der frühen Geschichte. Bekannt war nur die Vorliebe im antiken Südarabien für den Bau vielstöckiger Hochhäuser. Soviel jedoch war schon erkennbar: Östlich des Sabäerreiches, nahe dem Ausgangspunkt der Weihrauchstraße, also im äußersten Osten Hadramauts, lebte lange vor Christi das Volk der Habaschatan. Sie und ihr König Gedarot wurden auf verschiedenen Inschriften erwähnt. Uranos hörte von ihnen als Aβασονοι (Abasonoy), woraus die Europäer Abessinier machten. Später wurde es still um sie, wahrscheinlich weil sie wie alle anderen südarabischen Reiche, von der lokalen Großmacht Saba übernommen wurden. Auch über das Rote Meer dehnte sich Saba aus nach dem alten Goldland Punt. Dort tauchte Habascha als Name des Landes wieder auf und blieb es bis heute. Seine Sprache wies viele Ähnlichkeiten auf mit den alten Inschriften der Hadramoten, die westliche Nachbarn und Verwandte der Habaschat waren. Gewiss könnte man erheblich mehr darüber erfahren, hätte da nicht eine Dame namens Judit im Axum des 10.Jh. eine schlechte Zeit gehabt. Was immer ihr so zum Verdruss gereichte, es ließ ihr auch dann noch keine Ruhe, als das Schicksal es besser mit ihr meinte und ihr einen sabäischen Prinzen zum Gemahl bescherte. Als es diesem dann auch noch beschieden war den Thron zu besteigen und Judit Königin wurde, war ihr Rachebedürfnis nicht eher gestillt, bis Axum erobert und dort keine zwei Steine mehr aufeinander lagen. Woran wieder einmal zu sehen ist, welch banale Ursachen gelegentlich große historische Ereignisse haben.

Ein Mann in erdfarbenem Umhang trat an unseren Tisch und nestelte vielsagend an einem unscheinbaren Sack. Als er ihn endlich geöffnet hatte, kam uns der Geruch der Wildnis entgegen. Ein zusammengefaltetes Knäuel brachte der Mann aus dem Sack hervor, um dann unter unseren Augen ein gleißend schönes Leopardenfell auf dem Tisch auszustreichen, Bernd konnte sich den albernen Einwand nicht verkneifen:

„Bist du auch sicher, dass es sich hierbei nicht um einen gehäuteten Silberschmied handelt?“

Mit einem über jeden Zweifel erhabenen Ernst kam die Antwort:

„Der Lieferant ist ein ehrenwerter Schifta und erlegt ausschließlich echte Leoparden.“

Mit einer neuen Runde Tedsch setzten wir unsere Ausflüge in die ebenso ergiebige wie unergründliche Vergangenheit fort. Die Äthiopier hatten eine andere, recht ungebrochene Beziehung zu ihrer Geschichte. Sie benötigten weder Inschriften noch andere Funde als Beweise, sondern identifizierten sich mit ihrer Überlieferung. Amhar und seine Freunde erzählten uns die Geschichte der Königin von Saba, wie sie ihnen in der Schule gelehrt wurde. Demnach hatte diese Königin, die immer aufs neue Dichtern und Künstlern Anregung und Historikern Kopfzerbrechen bescherte, in Axum regiert und von hier aus jene Reise angetreten an den Hof Salomons. Dieser muss in der Tat im alten Orient großen Eindruck hinterlassen haben, wird doch sein Name erwähnt in unzähligen Geschichten und Märchen. Stets wurde er darin mit großer Hochachtung genannt, ob seiner Weisheit gerühmt. Der Spross aus dieser Begegnung galt als der Ahnherr aller späteren äthiopischen Kaiser, die in ungebrochener Linie bis heute alle von ihm abstammen sollen, und somit die älteste Herrscherdynastie der Welt wären. Auch die Methode, Geschichte durch Dokumente und andere Belege festschreiben zu wollen, war zumindest weit davon entfernt ein lebensnahes Bild des Geschehenen zu übermitteln. Dieses wird immer Geheimnis bleiben, und die Interpretation des Volkes neigt ohnehin zur Mystifikation. Wir spürten hier sehr wohl, wie die legendenhafte, oder sollte man besser sagen, poetische Überlieferung weit mehr Farbe und Lebenssaft besass, und wie sie vermochte die Seele des Volkes zu erreichen.

Die Art wie die Geschichte erzählt wurde, hatte uns angeregt, und wir empfänden es als geradezu geschmacklos, dem entgegen zu halten, was die offizielle abendländische Geschichtsschreibung davon hielt, zumal deren Quellen immer noch höchst mangelhaft waren. Siedelte diese doch die Sabäer zu Lebzeiten Salomons noch in dessen Nachbarschaft in den Wüsten Nordarabiens an. Wo sie als recht ungeschliffene Raubeine mit Vorliebe dem Raub und der Wegelagerei frönten. Diese Kenntnis bezog man nicht zuletzt auch wieder aus der Bibel, wo die Sabäer schon zuvor unangenehm auffielen, als sie einem Großagrarier namens Hiob die Rinder klauten. Lieber erzählten wir eine andere Geschichte, die wahr und dennoch recht farbig, in Äthiopien weniger geläufig war:

Man schrieb das Jahr 525 n.Chr., als der letzte sabäische König Du-Nuwas ermordet wurde. Das schon seit 330 christliche Äthiopien sandte einen Statthalter namens Sumaipa. Südarabien geriet damit unter die Herrschaft Axums, hinter dem wiederum die Großmacht Byzanz stand. Der zweite oder dritte dieser Statthalter hieß Abreha. Von ihm stammte eine der umfangreichsten alten Inschriften, datiert 542 und 543. Deren langatmige und geschwollene Einleitung konnten wir beiseite lassen. Auch der ansonsten interessante Bericht über den Bruch des berühmten Staudammes von Marib gehörte nicht zu dieser Geschichte. Aufhorchen hingegen ließ, wenn da im Weiteren verlautete:

„Ich, Abreha, König von Saba und Du Raidan und Hadramot und Jamnat und ihrer Araber vom Gebirg und von der Tihama.“

Er hatte sich also von Axum abgenabelt und nannte sich selber König. Sein Griff nach der Königswürde wurde bestätigt durch einen Gesandten des Negus aus Axum und sogar durch Botschafter aus Byzanz und aus Persien. Abreha muss das alles sehr beflügelt haben, er plante eine weitere Ausdehnung seines Reichsgebietes. Und so herrschte eines Tages in der Stadt Mekka große Aufregung, denn vor den Toren stand ein mächtiges Heer, und nicht genug des Schreckens, in seinen Reihen etwas noch nie Gesehenes: riesige, furchteinflößende Fabelwesen: Kriegselefanten. In der Bestürzung und allgemeinen Ratlosigkeit trat ein beherzter Mekkaer Bürger auf, Angehöriger einer alten angesehenen Familie. In langen Unterhandlungen mit viel Zähigkeit, diplomatischem Geschick und vor allem reichlich an Barem, gelang es ihm, Mekka frei zu kaufen und Abreha zur Umkehr zu bewegen, ungeachtet dessen, dass der Name Mekka von makata, verweilen herrührt. Der Name jenes verdienten Kaufmannes, Abdul Mutallib Ibn Haschim Al Kuraischit, geriet nicht in Vergessenheit, war jener Grandseigneur doch der Großvater Muhammads.

Kein Stern war am Himmel, kein Mondlicht zu sehen, es war eine dieser undurchdringlichen Nächte. Selbst die allzeit so gegenwärtigen Berge blieben unsichtbar. Dunkelheit hatte alles eingehüllt. Im Ort glimmten nur noch wenige verlorene Lichter, einen bescheidenen Umkreis trübe erfassend, bedrängt von unergründlicher Schwärze. Alle Geräusche des Tages waren längst verstummt, nur vielstimmiges Hundegekläff war zu hören. Es klang als verbellten sie irgendein Tier, oder wer weiß, was für ein Wesen. Nach einiger Zeit gingen sie in langgezogenes Jaulen über. Wir hatten uns noch auf dem Balkon des Hotels niedergelassen, nachdem die Bar zumachen wollte, viel zu angeregt um Müdigkeit zu verspüren. Amhar ging es ähnlich, längst waren wir mit ihm einig, dass er uns weiter begleiten würde. Da saßen wir nun uns in den Korbsesseln gegenüber und starrten in die Dunkelheit. Nichts anderes gab es zu sehen, und doch kam sie uns reichhaltig angefüllt vor, wirkte stofflich, als könnte man sie angreifen. War es die warme Luft, die durch diverse Geschichten animierte Phantasie? Europa war in diesem Moment sehr fern, schon in den letzten Tagen weiter noch als zuvor.

„Geht es euch auch so“,

nahm ich den Faden wieder auf,

„mir ist, als hätten wir nicht nur räumlich uns weit entfernt.“

Meine drei Gefährten nickten.

„Auch wir haben dieses Gefühl.“

„Unser Denken und Fühlen“,

überlegte O-Chang,

„es ist eindeutig ein anderes, als das gewohnte daheim.“

„Das mag hilfreich sein“,

stimmte ich zu,

„für das, was uns noch erwartet. Im Jemen wird kaum etwas vom zwanzigsten Jahrhundert zu spüren sein.“

„Mir ist so“,

sinnierte Hermann.

„als wäre ich hier schon in eine andere Wirklichkeit verpflanzt. Und je mehr wir uns von abendländischem Denken entfernen, desto phantastischer zeigt sich diese andere Welt.“

„Auch alle diese Geschichten, für die wir uns interessiert, sie mit unserer Vorstellungskraft angereichert haben, es ist als reagierten sie darauf, kommen uns entgegen.“

„Genau“,

pflichtete O-Chang bei.

„Es ist als werden sie zu etwas Greifbarem, längst nicht mehr so unfassbar weit her.“

„Auch die Inhalte nehmen so etwas wie Gestalt an, als wären sie Wirklichkeiten, nur einer anderen Art.“

“Jedenfalls fangen wir an“,

bestätigte ich,

„mehr an ihnen zu erkennen, als nur irgendwelche Erzählungen, hübsch anzuhören, aber ohne Belang.“

“Aber was unterscheidet hier schon Wirklichkeit von Erzählung? In einem Land, wo es magische Silberschmiede, Schiftas, und Menschen gibt, die sich lebendig einmauern lassen, wo so gut wie jeder an Engel, Dämonen und Zar glaubt, jene Geister die von Menschen Besitz ergreifen.“

„Das Leben hier ist schon unwirklich genug, auch ohne derlei Geschichten.“

„Und doch scheint es mit ihnen irgendwie verflochten“,

warf ich ein.

„Nimm nur mal die Schlacht von Adua. Sie hatte in unserer Zeit stattgefunden, war vielfach bezeugt und dokumentiert, also unbestrittene Tatsache. Seltsamerweise scheint das aber belanglos, weder eine Bestätigung noch ein Makel. Viel wichtiger ist etwas anderes, hat sie doch alle Merkmale eines Heldenepos: Den übermächtigen, schier unbezwingbaren Feind, den unbeugsamen, weise im Himtergrund lenkenden Herrscher und den strahlenden, listigen Helden. Und wie alle klassischen Heldensagen ist sie Grundlage eines gesunden Selbstbewusstseins, psychische Kraftnahrung für ein ganzes Volk.“

Ungeachtet der späten Stunde, waren wir alle so richtig in Fahrt geraten.

„Mir geht eine andere nicht aus dem Kopf“,

meldete sich Hermann.

„Buchstäblich zugeflogen, durch einen Engel auf einem „Windwagen“, war doch den Äthiopiern die Bundeslade, und mit ihr der Wind aus einer sehr fernen Zeit, der Geruch einer ganz anderen Art des Empfindens. An den Feldsteinmauern und zwischen den kahlen Bergen hängt er noch immer, dort draußen in der Dunkelheit. Wen sollte es kümmern, wenn solch groteske Geschichte für die Anderen, weniger gläubigen, rational orientierten, unannehmbar ist? Im Gegenteil, das Unglaubwürdige und der Rückzug in die Unsichtbarkeit schützen vor jeglichem Ansatz empirischer Untersuchung und Infragestellung, und darüberhinaus vor möglichen Ansprüchen. Aber als nationales Heiligtum ist es ein übergeordnetes Zentrum geistiger Sammlung, aus der Wirklichkeit gar nicht wegzudenken.“

„Genau so ist es doch“,

lies sich wieder O-Chang vernehmen,

„mit der Reise der Königin von Saba. Gleichgültig ob nun Legende oder was auch immer. Selbst die Frage, ob die Königin überhaupt Äthiopierin war oder nicht, ist eigentlich belanglos. Wozu auch sollte das wichtig sein? Ist doch die Begebenheit, so wie sie erzählt wird, nichts Geringeres, als die Identität des Reiches, eine der Hauptquellen seiner Kultur, staatstragender Mythos, Glanz und Legitimation seiner Kaiser und den anderen, dem Reich eingegliederten Völkern, ist sie Gegenstand der Bewunderung und Akzeptanz, lauter Dinge, die sehr real sind.“

„Und dann noch dieses Ding mit Abrehas Belagerung von Mekka“,

ereiferte sich Bernd.

„Das ist doch nachweisbar, frei vom Verdacht der Dichtung. Was wäre denn, wenn es Großvater Anbdul gemangelt hätte an Knete? Wäre Mekka dann heute ein abgelegener, christlicher Bischofssitz?“

„Müssig solchen Überlegungen nachzugehen“,

meinte ich.

„Die ganze Weltgeschichte ist voll von scheinar geringfügigen Entscheidungen, von denen sich herausstellt, dass sie das Schickal ganzer Völker und Jahrhunderte bestimmen.“

„Für abendländisches Selbstverständnis“,

stellte O-Chang fest,

„ist es geradezu erschütternd, welch geringen Stellenwert die Beweisbarkeit besitzt für die Auswirkung einer Geschichte. Es ist, als ob der Übergang von Geschichten zur Wirklichkeit offen stünde. Jedenfalls erscheint mir in letzter Zeit, die Realität weniger festgefügt. Die Grenzen zum Erdachten werden aufgeweicht, fangen an ihre Konturen zu verlieren.“

Wir spürten es alle an diesem Abend, die bislang uns vertraute Welt, sie war nicht alles. Da draussen in der Dunkelheit gab es noch anderes. Und meine kleine, vergleichbar unbedeutende Lebensgeschichte? Auch sie erwies sich fernen, unbekannten Ereignissen unterworfen, Kräfte für deren Wirken es belanglos war, ob ich sie immer noch für unreal hielt oder nicht. Auch sie war dabei, sich mehr und mehr zu verdichten.

Das Halbmondamulett.

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