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ZWISCHENSPIEL I Das Wunderkind-Phänomen

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Im Jahre 1954 zog ein junger englischer Arzt und Athlet, Roger Bannister, weltweite Aufmerksamkeit auf sich, als er die bis dahin unüberwindbare Grenze des Vier-Minuten-Meilenlaufs durchbrach. Innerhalb zweier Monate tat ein Australier, John Landy, es ihm gleich, und schließlich brach Bannister seinen eigenen früheren Rekord. Von da an war es beinahe alltäglich, eine Meile in unter vier Minuten zu laufen. Im Jahr davor hatten Tenzing Norgay und Edmund Hillary den Heiligen Gral der Bergsteiger, den Gipfel des Mount Everest, bezwungen. Seitdem ist der Gipfel fast ein besserer Picknickplatz geworden, und der Berghang ist übersät von Müll. Immer wieder wurde das einst Unerreichbare beinahe Routine.

In der Welt der Musik begann die Hochdruck-Vermarktung von Wunderkindern mit Mozart (und zufälligerweise gleichzeitig mit dem Aufschwung des Klaviers). Wir wissen kaum etwas von früheren Wunderkindern, obwohl es welche gab. Nach Mozart vermehrten sie sich wie die sprichwörtlichen Kaninchen, wenn auch vielfältiger. So finden wir 1791, im Todesjahr Mozarts, ein gewisses „Fräulein Hoffmann“, sechs Jahre alt, die Klavier- und Harfenkonzerte gibt, von ihrem Bruder auf der Kesselpauke begleitet, der zu dieser Zeit das beeindruckende Alter von dreieinhalb erreicht hatte. In Italien und später in England gab es Muzio Clementi, insgesamt ein ernstzunehmender Fall, der ein höchst erfolgreicher Komponist und einer der ersten wahren Klaviervirtuosen wurde. Spanien hatte Juan Crisóstomo Arriaga, dessen Frühreife im Alter von zwölf Jahren mit derjenigen Mozarts vergleichbar war (man kann seine Musik leicht mit der Rossinis verwechseln), der jedoch starb, bevor er zwanzig war. In Deutschland war Felix Mendelssohn ein erstaunliches Wunderkind und vielseitiger als Mozart, aber ihm blieb die Ausbeutung durch seine aufgeklärte Familie erspart. Im Alter von acht Jahren konnte er alle Sinfonien Beethovens außer der Neunten (die noch nicht komponiert war) auswendig auf dem Klavier spielen. Was das Klavierspiel betrifft, war Liszt mit zehn Jahren Mozart im selben Alter wahrscheinlich weit voraus und mit zwölf Jahren kein schlechter Komponist. Camille Saint-Saëns musizierte und komponierte mit drei Jahren. Als er im Alter von zehn sein öffentliches Konzertdebüt gab, bot er als Zugabe angeblich an, irgendeine von Beethovens 32 Klaviersonaten zu spielen (das übersteigt die Vorstellungskraft). Gegen Ende des Jahrhunderts tauchte der verblüffende Mieczysław Horszowski auf, der unter anderem einer der größten Mozart-Interpreten wurde, die je gelebt haben. Mit drei Jahren spielte er, obwohl er noch keine Noten lesen konnte, einige der Lieder ohne Worte von Mendelssohn, und mit fünf Jahren konnte er alle Bach‘schen zwei- und dreistimmigen Inventionen nicht nur spielen, sondern sie auch jederzeit in jegliche Tonart transponieren. Er konnte sogar alles nach Gehör niederschreiben, und sei es noch so komplex, und begann selbst eine (kurze) Karriere als Komponist mit einer Reihe Klavierstücke, davon zwei Sonaten und ein minutiös gesetztes Werk für großes Sinfonie-Orchester. Als er sich mit 100 Jahren zur Ruhe setzte, blickte er auf eine 95-jährige Konzert-Karriere zurück!

Von den großen Virtuosen des 20. Jahrhunderts waren die meisten (darunter Vladimir Ashkenazy, Claudio Arrau, Martha Argerich, Daniel Barenboim, Shura Cherkassky, Josef Hofmann, Vladimir Horowitz, Julius Katchen, Dinu Lipatti, Guiomar Novaës, John Ogdon, Rudolf und Peter Serkin, Arthur Rubinstein und Solomon) erfahrene Interpreten und in einigen Fällen Weltstars, bevor sie das Teenageralter erreichten. Indes war niemand beispielloser begabt als die rumänische Pianistin Clara Haskil, die mit fünf Jahren von einem Klavierkonzert nach Hause kam und das ganze Programm spielte, Note für Note genau, ohne je eine Klavierstunde gehabt zu haben. Im Unterschied zu vielen anderen Wunderkindern bewahrte sie dieses Talent bis an ihr Lebensende und konnte ein breites Repertoire an bekanntermaßen schwierigen virtuosen Stücken spielen, ohne die Noten vorher gesehen zu haben.

Eine der außergewöhnlichsten Tatsachen bei all diesen „Wunderkindern“ ist allerdings, dass man fast vergeblich nach ihren Gegenstücken auf anderen Gebieten sucht. Die einzig denkbaren Ausnahmen stellen Schach und Mathematik dar, wobei die letztere viele Gemeinsamkeiten mit der Musik hat. Der französische Theologe und Wissenschaftler Blaise Pascal arbeitete eine eigene Geometrie im Geheimen aus, im Alter von elf Jahren, und der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener war mit fünf Jahren in Wissenschaft und Literatur äußerst belesen und ging sechs Jahre später zur Universität. Unter den großen Namen im Schach finden sich der Ukrainer Sergei Karjakin (mit zwölf Jahren der jüngste Großmeister überhaupt), der Norweger Magnus Carlsen und der Amerikaner polnischer Abstammung Samuel Reshevsky, der im Alter von vier Jahren das Schachspiel erlernte und die etablierten erwachsenen Spieler im Alter von acht mit Leichtigkeit schlug.

Aber wo sind ihre Kollegen in Literatur, Malerei und Theater? Es stimmt, dass der große deutsche Künstler Albrecht Dürer (1471–1528) mit dreizehn Jahren beachtliche Selbstporträts malte, aber man kann sie kaum mit den Sinfonien vergleichen, die Mozart und Mendelssohn im selben Alter schufen. Es gab auch eine ganze Schar frühentwickelter Schriftsteller, aber – wieder – nicht in dem Maße, das wir in der Musik finden. Warum gerade die Musik, obwohl deren Komponieren und Spielen zu den am meisten entwickelten und unnatürlichsten menschlichen Leistungen zählen, so begünstigt mit kindlichen Genies sein sollte, ist eine Frage, die nie zufriedenstellend beantwortet wurde. Man sollte einfach dankbar sein, dass sich nur wenige musikalische Kinder, wenn überhaupt, mit der Karriere des deutschen Christian Heineken im 18. Jahrhundert messen können. Im Alter von drei Jahren sprach er fließend Latein, Griechisch und Französisch, und mit seinem nachweislich gewaltigen Wissen in Geschichte, Geographie und Bibelwissenschaft tat Heineken 1725, im zarten Alter von fünf Jahren, seinen letzten Atemzug.

Der Punkt bei all diesen Persönlichkeiten in diesem Zusammenhang ist, dass die Leistung eines jeden als Interpret aller Wahrscheinlichkeit nach derjenigen Mozarts im selben Alter in nichts nachstand. In gewissem Sinne war ihre Leistung sogar noch eindrucksvoller, da jede neue Generation ein zunehmend größeres Repertoire hatte, auf das sie zurückgreifen konnte.

Mit der zeitgleichen Blüte von Musikwissenschaft und Elektronik im 20. Jahrhundert haben wir den Schlüssel zu einem musikalischen Schatzhaus bekommen, das sich Mozart nicht hätte träumen lassen. Wir verfügen über die Musik tausender Komponisten, als Partitur, als Klang und auf Knopfdruck. Im Laufe des 21. Jahrhunderts wird dieser Knopf vielleicht überholt sein. Wir haben nicht nur die Musik, sondern auch Bücher, Artikel, Ausstrahlungen und Aufnahmen, die uns genau mitteilen, wie sie zum Zeitpunkt und am Ort der Komposition gespielt wurde. Wir besitzen eine umfangreiche Auswahl historischer Instrumente aus zurückliegenden Jahrhunderten, haben gelernt, auf ihnen so gekonnt zu spielen wie die besten Ausführenden ihrer jeweiligen Zeit. Im Kontext unseres gegenwärtigen historischen Bewusstseins scheint die Musik von Bach, Händel und Vivaldi verhältnismäßig jung.

Für uns ist das selbstverständlich. Mozart hatte nichts von alldem. Auch kurz vor seinem Tode waren ihm die Namen Byrd, Frescobaldi und Monteverdi mit hoher Wahrscheinlichkeit unbekannt. Man muss leider erwähnen, dass er erst in den 1780er-Jahren, auf der Höhe seiner Schaffenskraft, die Werke von Bach und Händel entdeckte. Unter den Früchten dieser Begegnungen befinden sich Mozarts einzige Klaviersuite, Präludium und Fuge C-Dur für Klavier, seine Arrangements von Bachs Fugen für Streichtrio, eingeleitet durch eigene Präludien, und seine faszinierende Orchestrierung von Händels Messias. Doch spielte deren Musik keine Rolle in seiner Bildung. Als Komponist war Bach von seinen Söhnen Carl Philipp Emanuel und Johann Christian in den Schatten gestellt worden und wurde weithin als verstaubter Gelehrter betrachtet, wenn man ihn überhaupt beachtete. Sein Verblassen ergab sich jedoch nicht nur wegen seiner Söhne, sondern aufgrund der Laune der Zeit. 1753, nur drei Jahre nach J. S. Bachs Tod, wurden er und seinesgleichen von dem französischen Philosophen und Musiker Jean-Jacques Rousseau mit unfassbarer Arroganz abgefertigt:

Fugen, Imitationen, doppelter Kontrapunkt und all die andern komplexen kontrapunktischen Strukturen … all das sind willkürliche, rein konventionelle Einfälle, deren Wert eigentlich nur darin besteht, dass sie überwundene Schwierigkeiten darstellen – schwierige Albernheiten, die das Ohr nicht aushalten und der Verstand nicht rechtfertigen kann. Sie sind offenbare Überbleibsel eines Barbarismus und schlechten Geschmacks, der ebenso wie die Portale unserer gotischen Kathedralen bis heute die Schande derer zeigt, die die Geduld hatten, solche Dinge zu konstruieren.

(Lettre sur la Musique Française, 1753)

Wenige hätten es so gesagt, aber viele teilten Rousseaus Meinung. Nicht nur Bach, sondern eine ganze Epoche wurden hinweggefegt. Das ausdrucksvolle Verweben mehrerer Melodiefäden machte einer schlichteren Struktur aus Melodie und Begleitung Platz. Dieser Trend hing mit dem Aufkommen einer marktorientierten Mittelklasse zusammen. Unerfahren in der traditionellen musikalischen Kennerschaft der herrschenden Klassen war die aufstrebende Bourgeoisie hungrig nach Musik, die zum Teil von gesellschaftlichem Ehrgeiz angefacht war. Indem sie die Aristokratie imitierten, so die Argumentation, würden sie selbst erhöht werden – es ging nicht so sehr darum, mit den anderen mitzuhalten, sondern den anderen voraus zu sein. Die wachsende Nachfrage nach Einfachheit und angenehmer Melodik ging Hand in Hand mit einer allgemein zunehmenden Belanglosigkeit. Die Verdummung kam nicht erst gestern auf. Noch war sie jedoch allgegenwärtig. In Mozarts frühen Jahren betrachtete sein Vater (deutsch, nicht österreichisch, in Herkunft und Ausbildung und naturgemäß konservativ) viele seiner Kollegen im musikalischen Haushalt des Salzburger Hofs mit einer Verachtung, die er kaum verbarg.

Was also hörte Mozart als kleines Kind? Das Beste kam wahrscheinlich von C. P. E. und J. C. Bach, aber sie waren nur das Gewürz in einer Diät, die von Randfiguren wie Eckard, Gassmann, Michael Haydn (erst seit relativ kurzer Zeit wiederentdeckt als Josephs trinkfester Bruder), Honauer, Raupach, Reutter, Schobert (nicht zu verwechseln mit Schubert), Wagenseil – und, natürlich, Leopold Mozart verkörpert wurde. Wie ihre Namen andeuten, waren sie alle Deutsche oder Österreicher und keiner von ihnen (mit Ausnahme der beiden Bachs und eventuell Michael Haydns) mehr als Fußnoten der Musikgeschichte. Italienische Musik spielte kaum eine Rolle in der frühesten Entwicklung des Kindes Mozart, zum Teil, weil sie fast ausschließlich aus Opern bestand (Salzburg hatte kein Opernhaus), aber auch weil sie sich in einer großen Krise befand. Ihr berühmtester Vertreter in den deutschsprachigen Ländern war zu dieser Zeit Niccolò Jommelli, ein ausgezeichneter Musiker, dessen Name und Werke eine Generation nach seinem Tod weitgehend in Vergessenheit gerieten.

Falls man mit einiger Sicherheit sagen kann, welche Art Musik Mozart in den ersten fünf Jahren seines Lebens gehört hat, tappen wir ebenso noch im Dunkeln wie bei der Frage, welche Musik er tatsächlich gespielt hat. Zeitgenössische Berichte beschränken sich ausschließlich auf Beschreibungen seiner Darbietung und ihrer Wirkung auf alle, die ihn hörten. Dies ist umso überraschender, als seine Karriere als Komponist begann, als er fünf Jahre alt war. Sicherlich musste er wenigstens einige seiner eigenen Stücke gespielt haben, aber merkwürdigerweise wird es von niemandem erwähnt.

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