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Ein Wunder in Salzburg
ОглавлениеBei Anbruch des Jahres 1756 hätte man Salzburg nicht mit einem Wunder in Verbindung gebracht. Es war eine hübsche Stadt wie viele andere, als hätte jemand Christbaumschmuck in der österreichischen Ebene, die es umgab, abgesetzt. Mit seinem Überfluss an barocken Kirchen, die vom Salzburger Dom dominiert wurden, versprühte es, damals wie heute, Bilderbuch-Charme. Seine größte Geschichte musste jedoch erst noch geschrieben werden.
Einst eine keltische Siedlung, später ein römisches Handelszentrum, wurde es 696 von dem fränkischen Missionar St. Rupert als Bistum gegründet und später zum Erzbistum, mit Autorität über die Diözese Bayern, erhoben. Im Laufe der Zeit wurden die Erzbischöfe mehr und mehr in Bürgerangelegenheiten einbezogen, und ab dem 13. Jahrhundert wurde jedem der Titel Fürstbischof des Heiligen Römischen Reiches verliehen. Als autonome Herrscher einer Reichsstadt unterhielt jeder von ihnen eine musikalische Einrichtung, die Kirche und Stadt gleichermaßen diente. Heute zeugen mehr als 100 Kirchen, Burgen und Paläste von der Macht der Salzburger Fürsterzbischöfe, wenn Musik zu dieser oder jener Zeit in ihnen erklingt.
1737 setzte sich ein 17-jähriger Immigrant aus dem nahen bayerischen Augsburg über die Wünsche seiner Eltern hinweg, die für ihn eine kirchliche Laufbahn vorsahen, und schrieb sich an Salzburgs Universität ein. Er studierte dort Logik und Jurisprudenz. Vor seinem Abschluss beschloss er, der Kirche den Rücken zuzukehren und den Beruf des Musikers zu ergreifen. Leopold Mozart war ein hochintelligenter und gebildeter Mann, ein beachtlicher Komponist, ein guter Violinist und letztendlich der Autor einer maßgebenden Abhandlung über die Kunst des Violinspiels. Für einen Musiker dieser Zeit, drei Jahrzehnte vor Bachs Tod geboren, war er außerordentlich gut ausgebildet. Nachdem er die Universität verlassen hatte, gesellte er sich zum musikalischen Haushalt des Grafen Johann Baptist von Thurn-Valsassina und Taxis; drei Jahre später trat er in den Dienst des Fürsterzbischofs (mit dem wenig melodiösen Namen Sigismund von Schrattenbach) und blieb dort lebenslang. Zumindest war das die Absicht. Letzten Endes gab es einige Jahre, zum wachsenden Ärger seines Dienstherrn, die er fern vom Hofe verbrachte, in Gesellschaft von Reichen, Berühmten und unvorstellbar Mächtigen jeder führenden Nation Europas, wobei er ein kleines Vermögen anhäufte. Aber das ist zu weit vorgegriffen.
Leopold Mozart heiratete 1747 Maria Anna Pertl. Sie gebar ihm sieben Kinder, von denen nur zwei überlebten. Bedenkt man Leopolds Beharren darauf, dass sie mit einer Diät aus Wasser und Haferschleim aufgezogen wurden, ist es ein Wunder, dass überhaupt eines überlebte. Das ältere der beiden war eine Tochter, Maria Anna, die in der Familie Nannerl genannt wurde. Das viereinhalb Jahre jüngere Kind war Wolfgang Amadeus, geboren am 27. Januar 1756. Den Namen Amadeus bekam er allerdings erst später. In einem Brief an einen Freund gab Leopold den Namen seines Sohnes als „Joannes, Chrisostomos, Wolfgang, Gottlieb“ bekannt. Als er einen Tag nach seiner Geburt getauft wurde (die Eltern hatten gelernt, kein Risiko einzugehen), war „Gottlieb“ zugunsten „Theophilus“ gewichen: Amadeus, die latinisierte Form von Gottlieb/Theophilus, tauchte nirgendwo auf.
Als Wolfgang, mit dem schwerfälligen Spitznamen „Wolfgangerl“, drei Jahre alt war, bekam seine Schwester Musikunterricht von Leopold. Sie lernte mit Begeisterung und erstaunlicher Schnelligkeit. Leopold war überglücklich. Sie hatte ein schnelles und aufnahmefähiges Gehör und lernte das Klavierspiel so natürlich wie Sprechen. Wolfgang war bei all ihren Unterrichtsstunden zugegen und hörte während der ganzen Zeit mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Wenn Nannerl aufhörte, setzte er sich statt ihrer ans Klavier. Beinahe sofort begann er, angenehm klingende Intervalle herauszugreifen: „Terzen“ und „Sexten“. Das zukünftige „Wunder von Salzburg“ hatte bereits mit dem Komponieren begonnen. Bis er vier Jahre alt war, konnte er etliche Stücke fehlerfrei aus dem Gedächtnis spielen. Innerhalb eines Jahres schrieb er sie selbst auf. Ein Freund der Familie, der Violinist und Hoftrompeter Johann Andreas Schachtner, hat uns eine bezaubernde Schilderung des Komponisten, der am Anfang seiner Karriere stand, hinterlassen:
Eingang zu Mozarts Geburtshaus in Salzburg
Einmal ging ich mit Hrn. Papa nach dem Donnerstagamte zu ihnen nach Hause, wir traffen den vierjährigen Wolfgangerl in der Beschäftigung mit der Feder an. Papa: was machst Du? Wolfgang: ein Concert fürs Clavier, der erste theil ist bald fertig. Papa: laß sehen. Wolfgang: ist noch nicht fertig. Papa: laß sehen, das muß was saubers seyn. Der Papa nahm ihms weg, und zeigte mir ein Geschmire von Noten, die meistentheils über ausgewischte dintendolken geschrieben waren |:NB. der kleine Wolfgangerl tauchte die Feder, aus Unverstand, allemal bis auf den Grund des Dintenfasses ein, daher musste ihm, so bald er damit aufs Papier kam, ein dintendolken entfallen, aber er war gleich entschlossen, fuhr mit der flachen Hand drüberhin, und wischte es auseinander, und schrieb wieder darauf fort:| wir lachten anfänglich über dieses scheinbare galimathias, aber der Papa fieng hernach seine Betrachtungen über die Hauptsache, über die Noten, über die Composition an, er hieng lange Zeit steif mit seiner Betrachtung an dem Blatte, endlich fielen zwei Thränen, Thränen der Bewunderung und Freude aus seinen Augen. sehen sie, H:. Schachtner, sagte er, wie alles richtig und regelmässig gesetzt ist, nur ists nicht zu brauchen, weil es so ausserordentlich schwer ist, daß es kein Mensch zu spielen im Stande wäre. der Wolfgangerl fiel ein: drum ists ein Concert, man muß so lang exercieren, bis man es treffen kann, sehen Sie, so muß es gehn. er spielte, konnte aber auch just so viel herauswirgen, daß wir kennen konnten, wo er aus wollte. Er hatte damals den Begrief, das, Concert spielen und Mirakel wirken einerley seyn müsse.
Mozart, der Komponist, hinkte jedoch etwas Mozart, dem Klavierspieler, hinterher. Aus zuverlässigen Quellen wissen wir, dass er am 24. Januar 1761, drei Tage vor seinem fünften Geburtstag, ein Scherzo von Georg Christoph Wagenseil zwischen neun Uhr und halb zehn abends lernte – eine ungewöhnliche Zeit zum Üben für ein Kind, besonders in einer Zeit ohne elektrisches Licht. Am 1. September desselben Jahres gab er sein Debüt als Interpret in der Salzburger Universität. Bis dahin konnte sein Vater seine Aufregung kaum zurückhalten. Er hatte nun nicht nur ein, sondern zwei Wunderkinder in der Familie. Als Nannerl zehn Jahre alt war, war man sich allgemein darüber einig, dass sie die meisten dreimal so alten professionellen Pianisten in den Schatten stellte: wahrlich ein Wunderkind. Leopold schrieb Wolfgang jedoch ein anderes Wort zu, das durch die Jahrhunderte widerhallte.
S:e Hochfürstlichen Gnaden haben keine Lügner, keine Charlatans, keine Leutebetrieger in ihren Diensten, die mit Vorwissen und gnädigster höchstderselben Erlaubnis an fremde Orte gehen, um den Leuten gleich den Taschenspielern, einen blauen Dunst vor die Augen zu machen; Nein: sondern ehrliche Männer, die zur Ehre ihres Fürsten und Vatterlandes der Welt ein Wunder verkündigen, welches Gott in Salzburg hat lassen gebohren werden. Ich bin diese Handlung dem allmächtigen Gott schuldig, sonst wäre ich die undanckbarste Creatur: und wenn ich iemals schuldig bin die Welt dieses wundershalben zu überzeugen, so ist es eben ietzt, da man alles, was nur ein Wunder heist lächerlich machet und alle Wunder widerspricht. Man muss sie demnach überzeugen.
Wenn die Welt nicht zur Krippe eilt, trägt er die Krippe vor die Welt. Im Laufe der nächsten zehn Jahre unternahm Mozart, im beinahe ständigen Beisein seines Vaters, eine Reihe langer und strapaziöser Reisen, die die meisten Erwachsenen in die Knie gezwungen hätten. Sie begannen jedoch recht behutsam. Im Januar des Jahres 1762 nahm Leopold, seine Frau daheim zurücklassend, die zwei Wunderkinder mit nach München, wo sie für den Kurfürsten Maximilian III. spielten und ihn vermutlich in Erstaunen versetzten. Obwohl Leopold ein fast zwanghafter Berichterstatter war, gibt es keine Briefe mit Einzelheiten über diesen Besuch. Wir wissen nur, dass er drei Wochen dauerte und die Kinder einen ersten Blick auf das Leben bei Hofe werfen ließ. Der Fürsterzbischof von Salzburg hatte anscheinend nicht genügend Interesse an den Wundern vor seiner Tür gehabt, um sie hereinzubitten. Das ist zugleich seltsam und interessant, nicht nur, weil Leopold sein Angestellter war, sondern weil die Kinder das waren, was heutzutage als Traum aller Journalisten gesehen würde, möglicherweise die hellsten Juwelen in Salzburgs Krone – ein Gedanke, der dem Fürsterzbischof wohl nicht gekommen war. Jedenfalls gab er einer weiteren, längeren Reise seinen Segen, die die ganze Familie knapp vier Monate fern von Salzburg hielt. Trotz seiner Neigung zur Selbstherrlichkeit scheinen Leopolds Dienste entbehrlicher gewesen zu sein, als ihm lieb war.
Mozart im Alter von sechs Jahren
Ihr Ziel war diesmal der kaiserliche Hof in Wien, wo die Kinder die Lieblinge des Adels und der Aristokratie waren, angefangen beim Kaiser. Im Laufe der Reise, die volle drei Wochen währte, gab es wichtige Zwischenstationen auf dem Weg. Mit jeder einzelnen wuchs der Ruhm der Kinder und breitete sich wie die Wellen eines Teiches aus. Sie blieben sechs Tage in Passau und neun in Linz, spielten dort jeweils für den Adel, und die Kinder hätten kaum glücklicher sein können. „Die Kinder sind lustig, und überall so, als wären sie zu Hause“, schrieb Leopold. „Der Bub ist mit allen Leuten, sonderheits mit den Offizieren so vertraulich, als wenn er sie schon seine Lebenszeit hindurch gekannt hätte.“ Neben seinem natürlichen Charme schien Wolfgang mit allen Instinkten eines Diplomaten gesegnet zu sein – eine Tatsache, die sich bezahlt machte. Leopold berichtet seinem Hausbesitzer in Salzburg:
[…] bey der Schantzlmauth [sind wir] ganz geschwind abgefertigt und von der Hauptmauth gänzlich dispensirt worden. daran war auch unser H: Wolferl schuld: denn er machte alsogleich seine Vertraulichkeit mit dem H: Mautner, zeigte ihm das Clavier, machte seine Einladung, spielte ihm auf dem geigerl ein Menuet, und hiemit waren wir expediert.
Wo immer sie auch hinkamen, war es dieselbe Geschichte. Wolfgang verdrehte allen den Kopf:
Den folgenden Erchtag Mittags kamen wir nach Ips, wo 2 Minoriten und ein Benedictiner, die mit uns auf dem Schiff waren, hl: Messen lasen, unter welchen unser Wolferl sich auf der Orgel so herumtummelte und so gut spielte, daß die P: P: Franziscaner, die eben mit einigen Gästen bey der Mittagstafl waren, samt ihren Gästen das Essen verliessen dem Chor zulieffen, und sich fast zu Todt wunderten.
Als die Mozarts Wien erreichten und wie befohlen im großen Schloss von Schönbrunn auftraten, war ihnen ihr guter Ruf schon vorausgeeilt, und sie wurden in beinah jedem Sinne königlich empfangen.
Nun lässt die Zeit mehr nicht zu in Eyl zu sagen, als daß wir von den Mayestetten so ausserordentlich gnädig sind aufgenohmen worden, daß, wenn ich es erzehlen werde, man es für eine fabl halten wird. genug! der Wolferl ist der Kayserin auf die Schooß gesprungen, sie um den Halß bekommen, und rechtschaffen abgeküsst. kurz wir sind von 3 Uhr bis 6 Uhr bey ihr gewesen und der Kaiser kam selbst in das andere Zimmer heraus mich hineinzuhollen, um die Infantin auf der Violin spielen zu hören. Den 15ten schickte die Kayserin durch den geheimen Zahlmeister, der in galla vor unser Hauß gefahren kam, 2 Kleid: eins für den buben und eins fürs Mädl. so bald der befehl kommt, müssen sie bei Hofe erscheinen, und der geheime Zahlmeister wird sie abhohlen. Heut um 1/2 3 uhr müssen sie zu den 2 Jüngsten Erzherzogen. um 4 Uhr zum graf Palfi ungar: Canzler. Gestern sind wir bey dem Graf Caunitz und vorgestern bey der gräfin Küntzgin und dan späther beym graf v Ulefeld gewesen. Wir sind schon auf 2 täge wider verstellt.
Später brachten sie eine ähnliche Zahl von Engagements in einem einzigen Tag unter. Doch klagte keines der beiden Kinder über Erschöpfung oder Abneigung, das zu tun, was von ihnen erwartet wurde.
Es wird – und wurde zu seiner Zeit – Mozarts Genie so viel Bedeutung beigemessen, dass man leicht das Kind dahinter aus dem Blick verliert. Außerhalb des engen Kreises seiner Familie bot er ein Bild, das seine Anziehungskraft noch verstärkte und lange in den Erinnerungen derer überlebte, die ihm begegneten. Friedrich Melchior Baron von Grimm beispielsweise war, wie eigentlich jedermann, davon gefangengenommen. Er berichtet von Mozarts Lebendigkeit und Geist, verbunden mit unschuldigem Charme und Anmut seiner jungen Jahre. Die ungezwungene Heiterkeit würde sogar von der Sorge befreien, dass er sich verausgaben könnte, bevor er die volle Reife erreichte.
Die Heiterkeit war echt, aber es war nur ein Teil des ganzen Bildes. Trotz des enormen Aufhebens, das um ihn gemacht wurde, seit er sich erinnern kann, scheint Mozart Aufmerksamkeit in einem Maße begehrt zu haben, das regelrechte Unsicherheit vermuten lässt, als ob er fürchtete, für das geliebt zu werden, was er tat, statt um seiner selbst willen – bis heute eine oft gemachte Erfahrung von Wunderkindern. Die Angst war so echt wie die Heiterkeit. Sie verfolgte ihn bis ans Ende seiner Tage und machte ihn unzufrieden. Schachtner sah es, verstand es aber nie richtig, wie er sich kurz nach seinem Tod in einem Brief an Mozarts Schwester erinnert:
Ich ward ihm […] so äusserst lieb, daß er mich oft zehnmal an einem Tage fragte, ob ich ihn lieb hätte und wenn ich es zuweilen, auch nur zum Spasse verneinte, stunden ihm gleich die hellichten zähren im Auge, so zärtlich und so wohlwollend war sein gutes Herzchen.
Andere berichteten Ähnliches. Wie bei den meisten Kindern war seine frühe Liebe am größten, wenn auch nicht am gesündesten, innerhalb der Familie:
Er hatte eine so zärtliche Liebe zu seinen Eltern, besonders zu seinem Vater, daß er eine Melodie komponirte, die er, täglich vor dem Schlafengehen, wozu ihm sein Vater auf einen Sessel stellen mußte, vorsang. Der Vater mußte allzeit die Sekunde dazu singen, und wenn dann diese Feyerlichkeit vorbey war, welche keinen Tag durfte unterlassen werden, so küßte er den Vater mit innigster Zärtlichkeit, und legte sich dann mit vieler Zufriedenheit und Ruhe zu Bette. Diesen Spaß trieb er bis in sein zehntes Jahr.
In demselben Jahr konnte Mozart auch eine seiner hartnäckigsten Kindheitsängste abwerfen. Johann Schachtner erinnerte sich:
Fast bis in sein zehntes Jahr hatte er eine unbezwingliche Furcht vor der Trompete, wenn sie allein, ohne andere Musik geblasen wurde; wenn man ihm eine Trompete nur vorhielt, war es ebensoviel als wenn man ihm eine geladene Pistole aufs Herz setzte. Papa wollte ihm diese kindische Furcht benehmen und befahl mir einmal trotz seines Weigerns ihm entgegen zu blasen, aber mein Gott! hätte ich mich nicht dazu verleiten lassen. Wolfgangerl hörte kaum den schmetternden Ton, ward er bleich und begann zur Erde zu sinken, und hätte ich länger angehalten, er hätte sicher das Fraise bekommen.
In solchen Erinnerungen erahnt man die dunkle Seite Leopolds als Vater. Mit der Zeit wurde diese nicht heller.
Mozart konnte nicht wissen, dass die Trompete in jedem Kulturkreis der Welt ein starkes männliches und sogar phallisches Symbol war (und vielerorts bleibt): durchdringend, aggressiv, autoritär und einschüchternd. Nicht umsonst ist die Trompete fast allgemeingültig ein Militärinstrument, konzipiert, um die Truppen zu sammeln und den Feind einzuschüchtern. In der europäischen Musik des 18. Jahrhunderts, insbesondere im Barock, war sie zudem das bevorzugte Instrument, die Ehre Gottes zu zelebrieren. Könnte es eine Verbindung geben zwischen Mozarts Angst vor der Trompete und Angst vor seinem Vater? Sein Wahlspruch in der Kindheit, den er auch gelegentlich als Erwachsener noch anführte, meist in Zeiten voller Anstrengung, war: „Nach dem lieben Gott kommt gleich der Papa.“ Und wie Gott war Papa es, der gab und vorenthielt. Das war eine seiner wesentlichen Unterrichtsmethoden. Bezeichnenderweise war er Mozarts einziger Lehrer (keines der Kinder ging je zur Schule, und sie wuchsen weitgehend ohne Freundschaften zu ihren Altersgenossen auf).
Liebe, Furcht und sogar Hass sind oft miteinander verschlungen. Die Liebe zu und die Furcht vor seinem Vater gehörten zu den stärksten Merkmalen von Mozarts Persönlichkeit, der Antrieb, der sein weltliches Leben prägte, als er zum Mann heranwuchs. Natürlich sind das Probleme, die niemals ganz gelöst werden können. Aber es ist vielleicht kein Zufall, dass Mozart seine Angst vor der Trompete im selben Jahr überwand, in dem er das Gute-Nacht-Lied-Ritual mit seinem Vater aufgab – ein Ritual, das möglicherweise, unbewusst, dazu gedacht war, den väterlichen Unmut am Ende des Tages zu verscheuchen und ihm selbst einen friedlichen Schlaf zu gewähren. In den Jahren dieser frühen Reisen waren seine Ängste denen, die ihm nahestanden, genauso offensichtlich, wie es seine Heiterkeit dem Publikum gegenüber war. Oft erinnerte er sich an Freunde, die er in Salzburg zurückgelassen hatte, und er weinte, weil er fürchtete, sie nie wieder zu sehen. Und wie alle lebhaften und empfindsamen Kinder hatte er eine rege Fantasie, wie Nannerl beobachtete:
Da die Reisen, welche wir (er und ich, seine Schwester,) machten, ihn in unterschiedene Länder führten, so sann er sich, während, daß wir von einem Orte in den andern fuhren, für sich selbst ein Königreich aus, welches er das Königreich Rücken nannte — warum gerade so, weiß ich nicht mehr. Dieses Reich und dessen Einwohner wurden nun mit alle dem begabt, was sie zu guten und fröhlichen — Kindern machen konnte. Er war der König von diesem Reiche; und diese Idee haftete so in ihm, wurde von ihm so weit verfolgt, daß unser Bedienter, der ein wenig zeichnen konnte, eine Charte davon machen mußte, wozu er ihm die Namen der Städte, Märkte und Dörfer diktirte.
Interessant ist, dass dieses ideale Königreich gänzlich mit Kindern bevölkert war. Oder um es noch konkreter zu sagen: Erwachsene waren nicht vorgesehen. Auf den langen Reisen, die seine Kindheit bestimmten, verbrachte Mozart seine Tage fast ausschließlich unter Erwachsenen und, wie es oft scheint, nur zum Nutzen der Erwachsenen – allen voran Leopold. Er war jedoch kein trübsinniges Kind. Wie sich der alte Schachtner erinnert, machte sein Sinn für Spaß einen Großteil seiner Persönlichkeit aus, von der Kindheit bis zum Tode.
So bald er (Mozart) mit der Musik sich abzugeben anfieng, waren alle seine Sinne für alle übrigen Geschäfte, so viel als todt, und selbst die Kindereyen und Tändelspiele mußten, wenn sie für ihn interessant seyn sollten, von der Musik begleitet werden; wenn wir, Er und Ich, Spielzeuge zum Tändeln von einem Zimmer ins andere trugen, mußte allemal derjenige aus uns, so leer gieng, einen Marsch dazu singen, oder geigen. Vor dieser Zeit aber, eh er die Musik anfieng, war er für jede Kinderey, die mit ein bischen Witz gewürzt war, so empfänglich, daß er darüber Essen und Trinken, und alles andere vergessen konnte.
Diese Begeisterung für Unfug verließ ihn nie. Viele Jahre später, 1787, taucht sie in seiner gnadenlosen Parodie auf stümperhafte Komponisten auf, Ein musikalischer Spaß. Genau genommen ist das Werk zwar äußerst amüsant – am meisten, wenn am wenigsten offenkundig –, aber das Schauspiel eines höchsten Genies auf der Höhe seiner Schaffenskraft, das sich über die im Vergleich zu ihm weniger Begabten lustig macht, ist nicht liebenswürdig. Der Unfug ist infiziert mit Bosheit. Davon gab es in dem Kind noch keine Spur.
25 Jahre früher, 1762, erkrankte Mozart an Scharlach, nachdem er eine Woche lang fast täglich für den kaiserlichen Hof in Wien gespielt hatte. Bis dahin hatten die kaiserliche Familie und andere Adelige die Mozarts mit Geld, Schmuck und teurer Kleidung überschüttet, und Leopold schickte das Zweifache seines Jahresgehalts nach Salzburg, damit es auf der Bank eingezahlt würde. Nachdem sie das ganze Leben lang knausern und sparen mussten, waren er und seine Frau sich nun über jeden Zweifel sicher, dass ihre Kinder (besonders Wolfgang) ihnen die Tür zu Ruhm und Reichtum öffneten. Das Scharlachfieber war unglückselig. Es fesselte Mozart zwei Wochen lang oft mit Schmerzen ans Bett. Leopold machte sich natürlich Sorgen, aber nicht nur um seinen Sohn. Er konnte nicht umhin zu notieren: „Entzwischen ist mir diese Begebenheit ganz gering gerechnet, 50. Dukaten schad.“ Bis Ende Dezember hatte der Neuheitswert des Mozart-Unternehmens in Wien seinen Glanz verloren, und es war in jeder Hinsicht Zeit, sich auf den Weg nach Hause zu machen.