Читать книгу Liebe, Wissenschaft und die Wiederverzauberung der Welt - Jeremy W. Hayward - Страница 11

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4. Brief

Wie unsere Welt entzaubert wurde


Liebe Vanessa,

heute möchte ich darüber schreiben, wie es dazu kam, daß wir die verzauberte Welt vergessen haben. Ich hoffe, es macht Dir nichts aus, wenn wir dabei auch ein bißchen die Geschichte durchgehen müssen. Eigentlich ist gerade das Historische ein großer und wichtiger Teil der Sache, aber ich kann hier natürlich nur ein paar Hauptpunkte hervorheben; es hängt aber viel davon ab, daß man diesen Teil versteht, und ich hoffe, ich strapaziere Dich nicht zu sehr. Es kann sehr aufschlußreich sein sich zu fragen, warum man etwas glaubt.

Hast Du mal erlebt, daß Du jemanden überhaupt nicht mochtest? Du magst sie nicht und dabei bleibst Du; Du machst immer wieder abfällige Bemerkungen über sie bei Deinen Freunden, bis Dir eines Tages jemand erzählt, wie nett sie eigentlich ist. Jetzt überlegst Du: »Hm, was hab ich eigentlich gegen sie?« Doch es fällt Dir nicht mehr ein. Du durchstöberst die Vergangenheit und versuchst Dich zu erinnern, bis Dir endlich etwas einfällt; staunend nimmst Du wahr, was für eine belanglose und alberne Sache das eigentlich war, und daß Du eigentlich gar nichts gegen sie hast. Jetzt bist Du erleichtert, daß Du dieses Gefühl nicht mehr mit Dir herumtragen mußt. So, und mit den Überzeugungen der Wissenschaft ist es ganz ähnlich. Wenn Dir klar wird, warum Du etwas glaubst, wirst Du vielleicht zu dem Schluß kommen, daß Du es nicht länger glauben mußt – ganz so, wie Du diesen Menschen nicht mehr ablehnen mußt.

• Im sechzehnten Jahrhundert verdichteten sich die Ereignisse zu dem, was wir jetzt naturwissenschaftliche Revolution nennen und was zum modernen »aufgeklärten« Weltbild geführt hat. Eine der aus dieser Revolution hervorgegangenen Ideen wirkt sich auf unser heutiges Leben besonders negativ aus, nämlich der Gedanke, daß es im Universum keinen Geist gibt – abgesehen vom individuellen kleinen Geist in unserem Kopf. An dieser Idee halten Wissenschaftler besonders entschieden und mit geradezu religiösem Eifer fest. Sehen wir uns also an, wie es dazu kam, wie die Welt Schritt für Schritt ihres Geistes und ihres Lebens beraubt wurde. Dann gewinnen wir vielleicht die Freiheit zu sehen, daß das Universum genausogut von Geist – in der Form von Bewußtheit, Fühlen und natürlich auch Denken – erfüllt sein könnte, und daß dies durchaus keine primitive Phantasie ist.

Im vorigen Brief habe ich über das mittelalterliche Europa und die Ähnlichkeit seines Weltbilds mit dem anderer Kulturen geschrieben. Ich habe Dir von der alchimistischen Vorstellung des teilnehmenden Bewußtseins und der Sympathie-Resonanz erzählt, »wie oben so auch unten«.

Während des gesamten Mittelalters lebten die Menschen in einem Kosmos, dessen unbewegte Mitte die Erde bildete. Um das Jahr 1250 war Thomas von Aquin eine brillante Synthese der Kirchendogmen und der (erst kurz zuvor wiederentdeckten) altgriechischen Theorien über die Natur und die Bewegungen der Sterne und Planeten gelungen. Es hatte viel Streit gegeben um die Frage, ob diese antiken Theorien dem Kirchendogma widersprachen; Thomas konnte den Streit mit seiner Darstellung schlichten, und so blieb sie jahrhundertelang gültig.

Stell Dir diese geozentrische Welt einmal so lebhaft wie möglich vor, Vanessa: Wie und wodurch konnten die Himmelskörper sich um eine feststehende Erde bewegen und die Planeten jede Nacht an einer anderen Stelle am Himmel erscheinen? Nach der Darstellung Thomas von Aquins bewegten sich die fünf sichtbaren Planeten, die Sonne, der Mond und die Sterne, alle vollkommen und makellos, in acht unsichtbaren Sphären um die Erde. Darüber gab es noch eine neunte Sphäre, die den übrigen ihre tägliche Bewegung um die Erde vorgab. Dieses Sphärensystem – mit einigen Komplikationen, auf die wir hier nicht eingehen wollen – konnte die Bewegungen der Planeten am Nachthimmel erklären. Schließlich gab es noch eine zehnte Sphäre, nämlich die des Schöpfergottes.

Dieses Sphärenmodell vereinigte auf befriedigende Weise die spirituellen Sehnsüchte des Menschen mit der Natur des stofflichen Universums. Die Reise der Seele von der Erde aus konnte man sich als eine von Engeln geführte Reise der Seele durch die Himmelssphären bis hinauf zur zehnten Sphäre denken, wo der Schöpfer sie erwartete. Und zugleich war auch erklärt, wie die Gestirne sich um die Erde bewegten: Für die Bewegung der Sphären waren machtvolle Engel zuständig.

Betrachten wir einmal, wie die Welt des Mittelalters zerfiel und die Welt entstand, an die wir glauben und die wir deshalb erfahren. Ich richte mein Augenmerk vor allem auf die Rolle der Wissenschaft, aber Du darfst nicht vergessen, daß die Entstehung der modernen Welt eine sehr komplexe Geschichte ist, an der viele Faktoren beteiligt waren.

Im Sommer des Jahres 1347 wurde durch ein vom Schwarzen Meer kommendes Handelsschiff eine furchtbare Krankheit nach Europa eingeschleppt, der Schwarze Tod, die Pest. In weniger als zwanzig Jahren wurde die Hälfte der Bevölkerung Europas vom Schwarzen Tod dahingerafft. Weite Landstriche verödeten, und eine Zeit des Optimismus und des wachsenden materiellen Wohlstands fand ein plötzliches katastrophales Ende. Die Menschen waren zutiefst verunsichert und verängstigt. Sie fühlten sich mehr denn je auf Gedeih und Verderb der Natur ausgeliefert.

Nach dem Schwarzen Tod wurde Europa von einer fast krankhaften Angst beherrscht, und gleichzeitig entstand auch ein neues Bewußtsein vom Wert des Individuums. Die Kirche spürte das Schwinden ihrer Macht und griff zu immer brutaleren Mitteln, um das Heft weiterhin in der Hand zu halten. In dieser Zeit und bis weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein wurden über eine Million Menschen (manche Schätzungen gehen von bis zu fünf Millionen aus) als Hexen und Hexer hingerichtet. Achtzig Prozent von ihnen waren Frauen. Das Verbrechen, das man ihnen zur Last legte, hieß »Ketzerei«, das heißt, daß sie sich zu Überzeugungen und Riten bekannten, die von der Kirche abgelehnt wurden.

Die Anschuldigungen waren häufig völlig aus der Luft gegriffen. Die als Hexen bezeichneten Frauen waren meist die Heilerinnen ihres Dorfes. Die »guten« Hexen, deren Heiltränke und Kräfte tatsächlich etwas bewirkten, wurden noch entschiedener verdammt als die »bösen« Hexen und Scharlatane. Dabei bedienten die Priester sich häufig derselben magischen Mittel wie die Hexen. Dieser Vernichtungsfeldzug hatte also überhaupt nichts mit Wahrheit, dafür um so mehr mit Macht zu tun. Immer grimmiger trachtete die Kirche jedem nach dem Leben, der direkten Zugang zu göttlichen Energien besaß – den Mystikern, Heilern, Alchimisten. Die Kirche sollte die einzige Verbindung zum Göttlichen bleiben, der alleinige Hort des Heils.

Vielleicht hast Du in der Schule von Giordano Bruno gehört, einem der Heroen der Physikbücher, der aber auch Alchimist war. Er wurde als Ketzer verbrannt, und als Grund dafür wird meist angeführt, er habe gesagt, das Universum sei unendlich. Tatsächlich ist es jedoch wahrscheinlicher anzunehmen, daß er verbrannt wurde, weil er das unendliche Universum von unendlichem Geist erfüllt sah, und den Menschen für fähig hielt, diesen unendlichen Geist unmittelbar zu erfahren.

In den Städten entstand eine neue Mittelschicht, deren Angehörige erkannten, daß man sich durch die Beherrschung der Natur schon in diesem Leben allerlei Annehmlichkeiten verschaffen konnte und dann nicht mehr auf das bessere Leben im Jenseits warten mußte, das die Kirche versprach (während sie zugleich alles daransetzte, die Hölle auf Erden zu verwirklichen). Diese Menschen waren darauf aus, Reichtum anzuhäufen und ihre individuelle Freiheit zu verwirklichen. Dazu, so glaubten sie, war die Beherrschung der Natur erforderlich. Das Heil wurde eine weltliche Sache, und Geld war das Maß des Erfolgs.

»Lassen wir mal die Philosophie weg und sehen wir uns an, wie die Dinge wirklich im Detail funktionieren. Weg mit Emotion und Gefühl und Qualität. Seien wir doch mal realistisch«, sagten die Menschen damals, und viele beten es bis heute nach. Aber was ist mit den unklaren, unlogischen, redundanten, widersprüchlichen, intuitiven, schattenhaften Gefühlen, aus denen unser Leben besteht? Ganz einfach: »Halten wir uns an das, was erkennbar ist – kurzum, laßt uns messen und quantifizieren. Unsere Sprache soll dabei die der Zahlen sein, die Mathematik.«

Seit ihren Anfängen in dieser Zeit ist die Naturwissenschaft den Wirtschaftsinteressen, dem Individualismus und dem Machtstreben ebenso verbunden gewesen wie dem Forschen nach der wahren Geschichte der Natur und des Menschen. Die Sehnsucht nach Sicherheit und Macht war allgemein, und Wissenschaftler erachteten deshalb die Beherrschung der Natur als das höchste Ziel ihrer Arbeit. Klar ausgesprochen wurde das von einem der Begründer der neuen Naturwissenschaft, Francis Bacon. Er sagte auch, die Natur gehöre »auf die Streckbank«, damit man ihr (sie war eine Frau) ihre Geheimnisse durch die Folter abringe. Das war seine Formulierung des neuen Ideals eines experimentellen Vorgehens. Er schrieb zur Zeit der Hexenverfolgungen.

Die Verleumdung und Erniedrigung der Frauen – eine Geschichte für sich und eine ziemlich lange – hat, wie Du hier siehst, eine Menge mit der Beherrschung der Natur und der Trennung von Geist und Körper zu tun. Frauen wurden als Teil der Erde, der Natur, angesehen, während die Seele des Mannes himmlischen Ursprungs war. Deshalb waren Frauen eine Verkörperung des Bösen, eine Versuchung. Frauen waren die frühen Schamanen und Weisen der heidnischen Religionen und der verzauberten Welt; und alles Heidnische war der neuen Naturwissenschaft ebenso ein Dorn im Auge wie der Kirche.

Wenn wir also verstehen wollen, wie der Geist aus dem Universum verschwand, müssen wir die Geringschätzung des Körperlich-Naturhaften betrachten, die schließlich in die vollständige Trennung von Körper und Geist mündete. Aber all das ist reine Erfindung, Vanessa. Ausgedacht von Männern, die ihren eigenen Körper geringschätzten und verdrängten und, dem Brauch der Zeit folgend, in den Frauen nicht eigentlich Menschen sahen, sondern eine den Tieren nahestehende Gattung. Tiere, Frauen und das Ganze der Natur brauchten einen »Herren«, den Mann. Ebenso mußten Intuition und Gefühl vom Verstand beherrscht werden.

Woher kam diese Körperfeindlichkeit? Die Trennung von Körper und Geist begann Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung bei den Griechen. Sie setzt sich fort in der religiös begründeten Geringschätzung des Körpers, die spätestens mit Paulus begann: Verleugne den Körper, denn nur der Geist, die Vernunft, kann den Weg zum Himmel finden. Endgültig besiegelt wurde die Trennung aber durch René Descartes, der in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts lebte und bei dessen Tod Isaac Newton gerade sieben Jahre alt war.

Das einzige, dessen wir absolut sicher sein können, sagte Descartes, ist die Tatsache, daß wir denken und erkennen und vor allem zweifeln. Unseren Sinnen jedoch oder dem, was unser Körper sagt, können wir nicht trauen. Nur durch Messen und Quantifizieren ist diese Welt zu erkennen. Allem, was wir direkt über unsere Sinne wahrnehmen, müssen wir mit Skepsis begegnen. Für Descartes wurde der Zweifel zum obersten methodischen Prinzip.

Mit dieser Methode des Zweifelns stellte Descartes die Weichen für eine neue Art, die Natur zu erforschen, nämlich so, als gäbe es keinen Geist im Universum. Auch er wollte »uns zu den Herren und Besitzern der Natur machen«. Fortan war der Welt vor allem handelnd und nicht mehr betrachtend zu begegnen. Tun war wichtiger als Sein. Der erkennende, denkende Geist, so verkündete er, ist vollkommen getrennt von dem, was wir mit den Sinnen wahrnehmen, von der Welt der Dinge. Die Welt der Dinge ist im Raum ausgebreitet, das Denken jedoch nicht. Daher ist die Welt ein »anderes« – nicht wir. So wurde die Welt ein von uns getrenntes Objekt ohne Geist.

Für Descartes haben nur Menschen (oder in der Großen Kette des Seins noch höher stehende Wesen wie etwa die Engel) die Fähigkeit zu denken, zu fühlen und zu erkennen. Andere Wesen, die Pflanzen und Tiere beispielsweise, denken nicht und besitzen keinerlei Geist. Sie funktionieren vollkommen mechanisch. Ein Tierverhalten, das wir als Aufregung oder Zuneigung oder Schmerz deuten, ist in Wirklichkeit rein mechanisch, und tatsächlich empfindet das Tier gar nichts.

Auch unser eigener Körper funktioniert mechanisch. Der Körper gehört zum »anderen« – wir sind nicht unser Körper. Unser Denken ist sich zwar des Körpers bewußt, hat aber keinen Einfluß auf ihn. All das hat Descartes sich lediglich ausgedacht, aber Du erkennst darin vielleicht schon die Ansätze zum modernen Bild von Körper und Geist. Descartes hatte den Geist gänzlich von der Welt abgelöst und einer anderen Seinssphäre zugewiesen. Gott schwebte da draußen noch irgendwo, hatte aber am Geschehen in der Welt der Phänomene keinen direkten Anteil mehr.

Descartes hinterließ eine mechanische Welt, eine Welt der Körper und dessen, was mit ihnen wahrgenommen wird. Alle Körper sind aus Materie – mechanisch und ohne jedes Bewußtsein und Gefühl. Solch eine Welt konnte auch keinen Sinn oder Zweck haben, und so war es jetzt völlig in Ordnung, sie auszubeuten und um der Sicherheit oder des Profits willen zu unterjochen. Die Welt war durch Macht und technische Mittel zu unterwerfen, so daß wir ihr nicht mehr als passive Zuschauer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren.

Descartes’ Philosophie gelang es tatsächlich, einen Keil zwischen Bewußtsein und Gefühl einerseits und die stoffliche Welt andererseits zu treiben. Ein weiterer großer Schritt zur Eliminierung der verzauberten Welt aus unserer Erfahrung wurde dann mit der Verdrängung der Erde aus dem Zentrum des menschlichen Universums getan. Sehen wir uns einmal an, wie das vor sich ging.

Das mittelalterliche Weltbild begann im Jahr 1543 brüchig zu werden, als Kopernikus, ein nicht gerade um Aufsehen bemühter Mönch, ein Buch veröffentlichte, in dem erstmals von der Bewegung der Erde um die Sonne die Rede war. Kopernikus war auf diesen Gedanken gekommen, weil es die Berechnung der Planetenpositionen vereinfachte. Es war ihm nicht daran gelegen, gegen die Kirche aufzutreten, und so machte er in seinem Buch auch klar, daß er an eine Bewegung der Erde eigentlich nicht glaube.

Doch dann kam Galilei, ein eher kämpferischer, charismatischer und couragierter Typ. Er hatte von einem kürzlich in Holland entwickelten Instrument gehört, das »Kijker« (»Gucker«) genannt wurde und das entfernte Dinge vergrößern konnte: das Fernrohr. Er baute sich selbst solch ein Fernrohr und betrachtete mit ihm den Mond. Verwundert stellte er fest, daß der Mond voller Krater ist. Dann sah er sich Jupiter an und entdeckte kleine Planeten, die ihn umkreisten, die Monde. Das zeigte, daß die Sphären jenseits des Mondes und der Mond selbst keineswegs so vollkommen sein konnten, wie sie nach der Kosmologie Thomas von Aquins sein mußten.

Er rief alle seine Kollegen zusammen und sagte zu ihnen: »Schaut durch mein Fernglas; ihr werdet sehen, daß der Mond keine vollkommene Kugel ist und der Jupiter Monde hat.« Manche erwiderten: »Wir brauchen nicht zu schauen. Wir wissen, daß der Mond vollkommen ist und keine Krater haben kann.« Andere blickten durch das Fernrohr, weigerten sich aber, das, was sie sahen, als Krater zu deuten, und sagten, das Instrument sei schadhaft. Galilei kam schließlich auf Veranlassung der Kirche in den Kerker, weil er gesagt hatte, die Erde bewege sich und der Mond und die Planeten seien unvollkommen.

Die Ironie dieser Geschichte liegt darin, daß moderne Wissenschaftler sich gern auf Galilei berufen, dabei aber vielfach genauso engstirnig sind, wie es dessen Kollegen waren, als das Weltbild, auf das sie sich geeinigt hatten, in Frage gestellt wurde. Wenn man heutige Wissenschaftler auf Phänomene hinweist, die in ihrem auf Übereinkunft beruhenden Weltbild – dem Weltbild der »modernen« Naturwissenschaft – keinen Platz finden, dann sagen auch sie: »Das brauchen wir uns gar nicht anzusehen, denn wir wissen, daß es nicht sein kann.« Man wirft die Leute nicht mehr ins Gefängnis, wenn sie sich gegen die heutigen Autoritäten, die Priester der Wissenschaft, stellen, aber manch einer ist in der Psychiatrie verschwunden oder sonstwie mundtot gemacht worden, und das läuft auf dasselbe hinaus.

Wie dem auch sei, als Galilei die Menschen schließlich davon überzeugt hatte, daß Thomas von Aquins Erklärung der Bewegungen am Himmel falsch war, mußten sie eine neue Erklärung finden. Und siehe da, der berühmte Isaac Newton konnte mit einer aufwarten. Der Mond braucht keine Engel, die ihn um die Erde schieben, sagte er. Wäre er aber ganz auf sich gestellt, ohne Anschub und bremsende Reibung, so würde er sich in gerader Linie von der Erde weg ins All bewegen. Also muß es da eine Kraft geben, die ihn auf seiner Bahn um die Erde hält.

Sein Geniestreich bestand in der Überlegung, daß diese Kraft, die den Mond zur Erde hinzieht, die gleiche sein muß, die einen Apfel oder jeden anderen Gegenstand zur Erde hinzieht. Er nannte die Kraft gravity, »Schwerkraft«. Dann schloß er weiter, daß die Bahn der Planeten um die Sonne berechenbar sei, wenn auch sie durch diese Anziehungskraft, die Schwerkraft, in Sonnennähe gehalten werden. Engel als Planetenschieber? Brauchen wir nicht.

Mit der Entdeckung der Schwerkraft kam ein regelrechtes Fieber auf, weitere »Gesetze der Natur« zu entdecken. Es fiel auch auf, daß Newton bei der Erklärung der Planetenbewegungen ganz ohne Rückgriff auf Geist, Gefühl oder Seele ausgekommen war. Fortan suchte man nach Gesetzen, die alles Weitere, auch das menschliche Verhalten, ebenso erklären konnten.

Schließlich verloren die Menschen nicht nur den Glauben an planetenschiebende Engel, sondern den Glauben an Geister, Korrespondenzen, Resonanzen überhaupt. Und da man an dergleichen nicht mehr glaubte, sah man es auch nicht mehr.

Aus »Wie oben, so auch unten« wurde »Oben ist oben und unten ist unten, und für immer seien sie getrennt«. Und da es bei all dem um Herrschaft ging und das »oben« dabei nur störend wirken konnte, wurde aller Glaube an Höheres schließlich zum »Aberglauben« erklärt. Und Du weißt ja, was »Aberglaube« im heutigen Sprachgebrauch bedeutet: Unsinn.

Newton selbst betrachtete seine Erklärung der Planetenbewegungen eher als Nebensache und widmete sich anschließend bis zu seinem Lebensende der Alchimie – das wird in den Lehrbüchern nicht gerade häufig erwähnt. Er hielt die Alchimie für soviel wichtiger als seine Gravitationstheorie, daß er keines seiner alchimistischen Werke veröffentlichte; er fand, sie seien zu gefährlich für die Öffentlichkeit (das heißt die lesende Öffentlichkeit, und das waren damals nicht sehr viele). Der Veröffentlichung seines Werkes über die Schwerkraft stimmte er dagegen zu, da er es für weniger bedeutend und weniger gefährlich hielt.

Interessanterweise entstand ungefähr in dieser Zeit auch der Begriff des Wahnsinns: Wahnsinn ist das Sehen von Entsprechungen, die nach allgemeiner Auffassung nicht existieren. Wer wahnsinnig ist, hat »den Verstand verloren«, und dieser treibt sich dann irgendwo außerhalb herum, reicht über die Grenze des Körpers hinaus bis zu den Dingen hin, so daß keine Trennung mehr besteht. In anderen Kulturen gab und gibt es einen sehr sinnvollen Platz für das, was wir Wahnsinn nennen. Seltsames Verhalten, »Halluzinationen«, werden häufig als ein Zeichen der sich entwickelnden spirituellen und schamanischen Kraft betrachtet. Aber in der Zeit, von der wir gerade sprechen, ging es nur darum, sich eine bequeme Deutung unkonventioneller Verhaltensweisen zurechtzulegen, damit man Visionäre oder Stimmen hörende Menschen einsperren konnte – diejenigen also, deren Erfahrung nicht in die neue pragmatische und herrschaftsorientierte Philosophie hineinpaßte. Auch Newton sagen einige Wissenschaftshistoriker nach, er sei gegen Ende seines Lebens wahnsinnig geworden oder seine Nerven hätten versagt. Und warum meinen sie das? Weil ihm das Studium der Alchimie wichtiger als alles andere war.

• In diesem Brief, Vanessa, ging es mir darum zu zeigen, wie eine Handvoll Europäer, jeder für sich und doch gemeinsam, ein Denken vorantrieben, das Geist, Bewußtsein und Gefühl aus dem Universum verbannte. Das ist nun unser Universum geworden, die moderne Welt. Die Verbannung des Geistes aus der Welt hatte nur zum geringsten Teil direkte wissenschaftliche Beobachtung zur Grundlage. Die Kirche war in dieser Zeit immer noch fast allmächtig – nach wie vor konnte man für ketzerische Ansichten auf der Folterbank oder dem Scheiterhaufen landen. Die Naturwissenschaftler waren fein heraus, denn sie bestritten Geist und Seele ja nicht, sondern hatten ihnen lediglich einen Platz außerhalb der Natur zugewiesen und konnten sich jetzt über diese entseelte Natur hermachen, ohne den Zorn der Kirche fürchten zu müssen.

Kaum zu glauben, wie die radikalen Ideen einiger weniger ganze Kulturen verändern können, wie diese Ideen das widerspiegeln und aussprechen, was untergründig eigentlich schon in Gang ist und dann auch in das Denken der breiten Masse einfließt. Natürlich ließe sich diese Geschichte viel komplexer erzählen, mit mehr Darstellern und Nebenhandlungen. Aber ich habe Dir die wichtigsten Handlungsstränge dargestellt. Und wenn wir sie verknüpfen beziehungsweise in ihrer Verknüpfung sehen, haben wir die Saat der modernen Welt.

Descartes, Galilei und Newton waren hervorragende Köpfe. Versteh mich also nicht falsch: Ich sage nicht, sie wären Dummköpfe gewesen oder hätten aus schlechten Motiven heraus gehandelt. Mit ihrer Klarheit und Verstandeskraft räumten sie überholte Glaubenssätze beiseite, die von nichts als starrem Autoritätsdenken und der Weigerung hinzusehen getragen waren. So konnten sie einer autoritären Kirche, der alle echte Spiritualität längst verlorengegangen war, die Macht nach und nach entreißen.

Nur bahnten sie eben auch einen Weg, der dazu führte, daß die Welt als gänzlich von mechanischen Gesetzen wie dem der Schwerkraft beherrscht angesehen wurde. Die Sphären und Intelligenzen Thomas von Aquins brauchte man nicht mehr, weil Newtons Gesetze für die Erklärung der Planetenbewegungen ausreichten. Und mit diesen alten »vorwissenschaftlichen« Erklärungen erübrigten sich auch die Prinzipien des Sympathiezaubers, der Korrespondenzen zwischen Körper und Natur, des geistigen Heilens und so weiter. Man verwarf sie nicht, weil Newton oder irgendwer bewiesen hätte, daß sie nicht existieren, sondern weil sie in der neuen mechanischen Welt, von der die Wissenschaftler träumten, irgendwie störten.

In dem Jahrhundert nach Newton dehnte man den mechanistischen Gedanken auf sämtliche Bereiche des Lebens aus – Geschichte, Ökonomie, Politik, Gesellschaftstheorie, Psychologie, Biologie, Physik, Medizin, Architektur, Religion und so weiter. Die Menschen glaubten – oder hofften zumindest –, man werde früher oder später für alle Bereiche des menschlichen Lebens Gesetze ähnlich den newtonschen Gesetzen der Schwerkraft entdecken. Dieses Denken beherrscht uns auch heute noch weitgehend.

Das Universum war jetzt kein lebendiger, vollständiger Organismus mehr, sondern wurde ein lebloses Vakuum mit Klumpen lebloser Materie darin. In dem uns erfahrbaren Universum gab es nirgendwo Geist, und in dieser neuen und aufregenden, aber furchtbar verarmten Sicht der Welt bedurfte es auch keines Geistes mehr.

Dem Leiter eines großen deutschen kernphysikalischen Instituts habe ich einmal ein paar Befunde der Präkognitionsforschung geschildert (von denen ich Dir in einem späteren Brief noch erzählen werde). Ich hatte den Eindruck, daß diese Experimente besonders sauber durchgeführt worden waren und verläßliche Resultate erbracht hatten. Im Gespräch mit diesem Wissenschaftler fragte ich mich nun laut, welche Wege die Physik wohl gehen müsse, um auch solche Beobachtungen erfassen zu können. Er war ein freundlicher, netter Mann, der sich auch für Meditation interessierte, weil sie, wie er sagte, »der experimentellen Methode folgt: schau hin und überzeuge dich selbst«. Die Antwort, die er mir jetzt gab, überraschte mich daher: »Von ein paar Dingen wissen wir einfach, daß es sie nicht gibt, und Präkognition ist eins von ihnen. Deshalb ist experimentelle Beobachtung in diesem Fall gegenstandslos.« Anstatt also seine Annahmen vom Beobachteten beeinflussen zu lassen, benutzte er seine Annahmen, um das Beobachtete zu verneinen.

Auch sogenannte »Fakten« sind letztlich kein Maßstab für Realität. Ob eine Gruppe von Wissenschaftlern etwas als Fakt akzeptiert, hängt von der Gruppenentscheidung des Clubs der Wissenschaftler ab, und die wiederum beruht auf der Theorie, an die sie gegenwärtig gerade glauben. Sie sind zu Mitgliedern dieses Clubs ausgebildet worden und wissen ganz einfach, was als Fakt zu akzeptieren und was als Fiktion zurückzuweisen ist. Auch hier kann wieder eine Beobachtung zum Phänomen der Präkognition als Beispiel dienen. Solche Beobachtungen werden gar nicht erst als physikalische oder neurowissenschaftliche Fragen zugelassen. Sie gelten nicht als Fakten, und zwar deshalb, weil Physiker und Neurowissenschaftler die Abmachung getroffen haben, daß es Präkognition nicht geben kann und man deshalb gar nicht erst hinsehen muß.

Wissenschaftler neigen genauso wie andere Menschen dazu, in ihre Beobachtungen all die Vorurteile einfließen zu lassen, mit denen sie groß geworden sind – die Vorurteile, die wir in diesen Briefen untersuchen. Ohne es selbst zu merken, wählen sie ihre Beobachtungen so aus, daß ihre Vorurteile weiter verstärkt werden. Was für Theorien sie formulieren, was für Beobachtungen sie zur Untermauerung dieser Theorien anstreben und wie sie diese Beobachtungen interpretieren – all das ist von ihren unbewußten Annahmen bestimmt. Unbewußte Annahmen beeinflussen uns sehr weitgehend, auch wenn wir wissenschaftlich ausgebildet wurden.

Heute empfinden wir das mechanistische Weltbild als normal. Dennoch ist es eigentlich nicht schwierig, sich beispielsweise die Erde als lebendigen Organismus vorzustellen – nicht schwieriger als die Vorstellung, sie sei ein toter Gegenstand, den man ausbeuten kann. Die Durchsetzung dieser logischen Ordnung schließt eine ganze Welt aus der Rechnung aus, die Welt der inneren Wirklichkeit und der Intuition. Harmonie und das Leben in einer heiligen Welt sind möglich. Wir sind keine rein logischen und rationalen, keine emotionslosen Wesen, die alles durch objektive Analyse verstehen können. Unser Leben ist voller Widersprüche – wir kennen die Haßliebe, und manchmal befreit uns gerade das, was uns am meisten schreckt. Unsere tiefsten und bedeutsamsten Erfahrungen haben etwas mit dem Empfinden einer lebendigen, unsichtbaren Tiefe und mit Resonanzen aus dieser Tiefe zu tun.

Die Entzauberung der Welt ist sehr traurig und der Grund dafür, daß unser Leben uns manchmal so trostlos und tot vorkommt. Aber wir können auch nicht in die vortechnische Welt des Mittelalters zurück. Es nützt auch nichts, die zwar begrenzten, aber doch gültigen Entdeckungen der Naturwissenschaft oder die Kraft des logischen Denkens zu leugnen. Aber wir können über unsere eigenen finsteren Zeiten hinausgehen und die verzauberte Welt wiederentdecken, ohne die positiven, pragmatischen Seiten der Wissenschaft abzulehnen, die sich unserer Denk- und Betrachtungsweise mitgeteilt haben.

Liebe, Wissenschaft und die Wiederverzauberung der Welt

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