Читать книгу Liebe, Wissenschaft und die Wiederverzauberung der Welt - Jeremy W. Hayward - Страница 12

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5. Brief

Die verzauberte Welt existiert jetzt


Liebe Vanessa,

gestern habe ich Dir ein bißchen über Geschichte geschrieben. Ich habe erzählt, wie uns die verzauberte Welt vergangener Zeiten verlorenging. Von Galilei, Newton und Descartes war die Rede, und wenn man jetzt all die erstaunlichen Dinge hinzunimmt, die die Wissenschaftler seit jener Zeit entdeckt haben, bist Du vielleicht ein wenig ratlos und fragst Dich: »Gibt es denn irgendwo in der Welt noch Platz für Geist, Bewußtsein, Gefühl oder Seele, für all das, was die Menschen einst empfunden haben und wovon sie sprachen? Haben Geister, Götter, Engel, Kami, Dralas und all die anderen Wesen noch einen Ort, an dem sie sein können?«

Laß mich Dir etwas Merkwürdiges erzählen, etwas, das ich heute morgen erlebt habe. Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht mit dem Gedanken, daß ich uns am Ende meines gestrigen Briefes vielleicht in die gleiche Falle geführt habe, in die auch unsere Gesellschaft getappt ist: zu vergessen, daß die Wissenschaft lediglich Geschichten erzählt, und am Ende die Geschichten zu glauben, die den Geist aus dem Universum zu verbannen scheinen. Ich schlief danach nicht allzu gut, denn mich beschäftigte die Frage, wie ich uns aus dieser Falle wieder herausbekomme. Beim Aufwachen heute morgen hatte ich immer noch dieses Gefühl.

Ich ging dann erst mal duschen, und als ich mir den Kopf gerade so richtig eingeseift hatte, wurde das Wasser ohne Vorwarnung plötzlich kalt. Ich habe mich schnell kalt abgespült, abgetrocknet, angezogen und dann Frühstück gemacht. Dabei überlegte ich, wie ich am besten erklären könnte, daß in der Welt, die die Wissenschaft hervorgebracht hat, ganz sicher noch Platz für Götter oder Drala-Energien ist. Zugleich ging mir aber der Gedanke nicht aus dem Kopf, weshalb das warme Wasser gerade an diesem Morgen ausgegangen war.

Und dann dachte ich: »Koinzidenz.« Und gleich war mir klar, daß Koinzidenz die Antwort auf beide Fragen ist. Der Platz der Dralas in dieser Welt hat etwas mit Koinzidenz zu tun, und das plötzliche Kaltwerden des Wassers war auch Koinzidenz – und zugleich bedeutungsvoll. Ich könnte sagen, es war eine Botschaft von den Dralas, die mir mitteilte, daß »bedeutsame Koinzidenz« die Antwort auf die Frage nach ihrem Ort in der jetzigen Welt enthält. Koinzidenz ereignet sich in einem bestimmten Augenblick, jetzt. Und Wissenschaftler haben absolut nichts über bestimmte Augenblicke zu sagen. Die Wissenschaft ist außerstande, etwas zu irgendeinem bestimmten realen Augenblick zu sagen.

Nun gibt es sicherlich eine ganz handfeste Ursache für das Ausfallen des warmen Wassers heute morgen – wahrscheinlich ist irgendwas mit der Heizanlage nicht in Ordnung. Wissenschaftlich wäre jedoch niemals zu erklären, wie und wieso ausgerechnet an diesem Morgen all die Faktoren zusammenkamen, die einen Ausfall des warmen Wassers bewirkten – an dem Morgen, an dem es so wichtig war, daß mir die Koinzidenz wieder einfiel. Verstehst Du? Da spielt noch etwas anderes mit.

Wie kommt es, daß in diesem bestimmten Augenblick eine bestimmte Erfahrung stattfindet? In dieser Frage ist die Idee der Zeit selbst angesprochen. Wir glauben, daß unser Leben entlang einer universalen Zeitlinie verläuft, die für jeden und überall im Universum die gleiche ist. Nehmen wir uns also einen Augenblick Zeit, um eben diese unser Leben so sehr beherrschende Zeit zu betrachten.

Um seine berühmten Bewegungsgesetze formulieren zu können, nach denen ein von einer Kraft angestoßener Materieklumpen sich bewegt oder die Planeten die Sonne umrunden, mußte Newton einiges voraussetzen. Er mußte voraussetzen, daß es einen feststehenden Hintergrund für alle Bewegungen gibt; er mußte auch annehmen, daß es überall im Universum stets denselben, fixen Hintergrund geben muß, vor dem und dem gegenüber sich alles bewegt. Diesen Hintergrund nannte er »absoluter Raum«. Dieser Raum war leer und passiv, und es gab keinerlei Interaktion zwischen ihm und seinen Inhalten. Er war wie die Bühne, auf der das Schauspiel des Universums spielt.

Außerdem mußte er sich eine universale Zeit vorstellen, die für alle Planeten und alles andere im Kosmos dieselbe war, die aber nicht an irgend etwas im Universum gebunden war. Er nannte sie die »absolute Zeit«.

Vergiß bitte nicht, daß Newton sich diesen Raum und diese Zeit lediglich vorstellte. Er sagte das auch selbst: »Das sind nur Hypothesen.«

Aber nach und nach glaubten die Menschen, Newtons absoluter Raum und die absolute Zeit seien der wirkliche Raum und die wirkliche Zeit der wirklichen Welt, in der wir wirklich leben. Dieser absolute Raum und die absolute Zeit, beide imaginär, sind der Raum und die Zeit, die Du unbewußt mit Dir herumträgst und durch die Du die Welt wahrnimmst – ganz so, wie Du die Welt durch die Fluchtlinien siehst, von denen ich Dir im zweiten Brief geschrieben habe. Dieser absolute Raum und die absolute Zeit bilden die Bühne, auf der, wie wir (und die Wissenschaftler) meinen und wie Newton meinte, die Welt spielt. Auf dieser Bühne, in diesem leeren Raumzeit-Behältnis, haben Wissenschaftler seit Newton ihre Modellwelt ersonnen und aufgebaut. Und sie haben uns eingeredet, dies sei die reale Welt unserer Erfahrung.

Wir reden und denken und wir organisieren unser Leben so, als gäbe es wirklich eine absolute Zeit. Wissenschaftler versuchen ihre Modellwelt so anzulegen, als läge die Zeit außerhalb der Ereignisse in der Welt. Wir haben zu glauben gelernt, daß die absolute Zeit auf einer einzigen geraden Linie von der unendlichen Vergangenheit in die unendliche Zukunft fließt – ohne Schleifen oder Verzweigungen und auch nicht als große Kreisbahn. Unser Leben ist nur ein kurzes Aufblitzen in dieser Zeit. Daran denken wir nicht häufig, denn es ist ein wenig deprimierend. Aber unser Leben ist vollkommen beherrscht von diesem Begriff der absoluten Zeit, die für jeden dieselbe und überall im Universum dieselbe ist. Die Zeit geht ohne uns weiter und wird weitergehen, wenn wir gestorben sind.

Wir empfinden die Zeit als Hintergrund zu allem, was wir tun, zu jedem Augenblick unseres Lebens, sie ist eine Art leeres Behältnis, in dem wir unser Leben unterzubringen suchen. Unsere vage Vorstellung von Zeit ist die einer Linie auf weißem Papier. Wir teilen sie in Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden ein. Die Sekunden ticken dahin, und die Zeit geht uns aus. Manche hasten umher und versuchen so viel wie nur eben möglich an Erinnerungen und Gedanken und Bilder unseres Lebens in die Zeit zu stopfen.

Was wir tun, erleben wir eigentlich nicht dann, wenn wir es tun. In jedem Augenblick ändert sich unser Leben, aber wir fühlen es nicht, wir empfinden die Qualität des Augenblicks nicht. Erst am Ende des Tages oder des Jahres blicken wir zurück und ziehen Bilanz, um zu sehen, wie erfolgreich wir waren. Als ich klein war, sagte meine Mutter bei allem, was Spaß machte, immer: »Also, das wird uns eine nette Erinnerung sein, nicht?« So sind wir immer mehr darauf aus, unserem Gedächtnis immer mehr Erinnerungen einzuverleiben – ohne sie wirklich zu erleben. All das ist sehr traurig.

Dabei gibt es in Wirklichkeit keine absolute Zeit außerhalb der wechselnden Ereignisse. Auf keinem Gebiet der Wissenschaft gibt es irgend etwas, das auf die tatsächliche Existenz einer linearen, universalen, objektiven Zeit hindeutete. Die Wissenschaft hat einfach angenommen, daß es diese Zeit gibt, und wir glauben inzwischen an sie und lassen unser Leben von ihr vorwärtspeitschen – häufig bis zum Zusammenbruch. Wir können uns ein Leben ohne sie nicht vorstellen.

Wenn Du jeden Augenblick Deiner sich ändernden Erfahrung einmal genau betrachtest, findest Du außerhalb der Veränderung als solcher nichts, was Zeit genannt werden könnte. Die Zeit ist nicht getrennt von den wechselnden Erscheinungen. Wir messen die Zeit ja sogar anhand von wechselnden Zahlen oder wandernden Zeigern. Auch bei den Atomuhren der Wissenschaftler beruht Zeitmessung auf Veränderung.

Vieles beeinflußt den gegenwärtigen Augenblick. Dabei können auch Einflüsse von außerhalb der geraden und schmalen Linie der absoluten Zeit kommen (die ja, um es zu wiederholen, imaginär ist, eine Erfindung). Und es gibt Phänomene, die dieser Auffassung von Zeit direkt widersprechen. Eines dieser Phänomene nennt man »bedeutsame Koinzidenz«; ein anderes ist die Präkognition, also das Vorherwissen zukünftiger Ereignisse.

Präkognition existiert zwar wie gesagt für die konservativen Wissenschaftskreise nicht, aber tatsächlich ist sie inzwischen durch ernstzunehmende wissenschaftliche Untersuchungen gut dokumentiert. In einem späteren Brief werde ich Dir von ein paar wissenschaftlichen Experimenten erzählen, mit denen sich die Präkognition nachweisen läßt. Hier will ich nur erwähnen, daß Statistiker 1989 die Resultate aller in den letzten fünfzig Jahren zum Thema Präkognition durchgeführten Experimente zusammengetragen und statistisch ausgewertet haben (man nennt das eine Meta-Analyse). Sie bezogen 309 Studien von zweiundsechzig Forschern ein; erfaßt wurden fast zwei Millionen Einzelversuche, an denen über fünfzigtausend Probanden teilgenommen hatten. Die Frage, ob die Präkognition damit alles in allem als nachgewiesen angesehen werden kann, wurde eindeutig mit Ja beantwortet. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Resultate all dieser Experimente durch Zufall zustande kamen, ist 1 zu 1024 (wobei 1024 eine 1 mit 24 Nullen ist).

Sehen wir uns jetzt aber mal ein paar Geschichten über Präkognition an.

Am 12. Oktober 1966 kam in der Grubenstadt Aberfan in Wales eine Kohlenhalde ins Rutschen und begrub eine Schule unter sich, wobei 128 Kinder und sechzehn Erwachsene ums Leben kamen. Am Abend des 20. Oktobers erzählte eine Frau sechs Bekannten von einem Wachtraum, den sie gehabt hatte: »Erst sah ich eine alte Schule in einem Tal, dann einen walisischen Kumpel und dann eine Kohlenlawine, die den Berg herunter kam …« Als sie dies träumte, befand sie sich mehr als dreihundert Kilometer von Aberfan entfernt. Eine andere Person sagte sieben Tage vor der Katastrophe zu zwei Freunden: »Ich hatte einen grauenhaften Traum von einer furchtbaren Katastrophe in einer kleinen Zechenstadt. Das war in einem Tal mit einem großen Gebäude voller Kinder. Berge von Kohle und Wasser kamen das Tal heruntergestürzt und begruben das Gebäude. Die Schreie der Kinder waren so echt, daß ich selber schrie.«

Es gibt noch mindestens zwei weitere derartige Berichte aus der Zeit vor der Katastrophe. Die traurigste Geschichte ist wohl die eines kleinen Mädchens, das an jenem Morgen zu ihrer Mutter sagte, sie sei im Traum in der Schule gewesen und plötzlich sei alles schwarz geworden. Das Mädchen flehte die Mutter an, sie nicht zur Schule zu schicken, aber diese hörte nicht auf sie.

In den sechziger Jahren kündigte der bekannte britische Autor J. B. Priestley im Fernsehen an, er wolle eine Untersuchung zu ungewöhnlichen Zeit-Erfahrungen durchführen. Die Zuschauer wurden aufgefordert, ihm zu schreiben, und er erhielt Tausende von Briefen. Er verfügte über ein Team von ausgebildeten und natürlich skeptischen Forschern, die diejenigen Berichte aussortieren sollten, die auf Betrug oder offensichtlichen Irrtümern beruhten oder auf »natürliche« Weise zu erklären waren. Es blieben Berichte übrig, auf die keine dieser Erklärungen anzuwenden war, und diese wurden als Buch veröffentlicht. Einer von Priestleys Berichten betraf den Luftwaffenpiloten Sir Victor Goddard, der sich 1934 bei Nebel und Regen über Schottland verflogen hatte. Dann sah er unter sich den Flugplatz von Drem. Goddard sah einen voll betriebsbereiten Landeplatz mit Mechanikern in blauen Overalls, die sich an vier gelben Maschinen zu schaffen machten und nicht die Reihe verwahrloster Hangars zwischen Feldern, die Drein damals tatsächlich war. Vier Jahre später entstand genau das, was Goddard gesehen hatte: Der Flugplatz wurde hergerichtet und wieder eröffnet; die Schulflugzeuge waren jetzt gelb (und nicht mehr silbern wie früher), und der blaue Overall war zur Standardbekleidung der Flugzeugmechaniker geworden.

Viele Menschen haben ähnliche Präkognitionen wie Goddard, können sie aber in der Welt, an die wir glauben, nirgendwo unterbringen. Also sagen sie sich, es sei wohl eine Täuschung gewesen, oder sie behalten ihre Erfahrungen für sich, damit niemand sie für verrückt hält. Wenn ich von solchen Dingen vor einer Gruppe spreche, ist häufig ein hörbares Seufzen der Erleichterung die Folge – und dann erzählen sie Geschichten, die sie immer für sich behalten haben, die ihnen aber unter die Haut gingen und zu den bedeutsamsten Dingen ihres Lebens zählen. Psychotherapeuten hören oft Geschichten von Präkognition; in der therapeutischen Situation haben die meisten wohl weniger Angst, daß man sie für ein bißchen verdreht hält, außerdem achten sie mehr auf Träume und flüchtige Bilder und sind eher bereit sich mitzuteilen. Was diese Berichte so glaubwürdig macht, ist, daß sie so gar nichts Spektakuläres an sich haben. Solche Erlebnisse kommen einfach, wir haben keinen Einfluß auf sie, und häufig sind sie ohne besondere Bedeutung.

Alle diese Geschichten zeigen, daß wir uns von dem Gefühl freimachen müssen, die Zeit sei außerhalb von uns. Wir müssen das Gefühl loswerden, daß die Zeitlinie absolut und das objektive Behältnis unserer gesamten Erfahrung ist.

Wissenschaftler jedoch entwerfen ein Weltbild, in dem die Zeit immer den Hintergrund bildet. Die Welt, von der sie reden, ist niemals die Welt dieses Augenblicks. Es ist eine allgemeine Welt mit allgemeinen Menschen, Tieren, Bäumen, die allgemeine Dinge tun. Daraus kann man natürlich nur allgemeine Gesetze ableiten. Wissenschaftlich läßt sich nichts aussagen über den bestimmten Menschen Vanessa in diesem besonderen Augenblick, nämlich am heutigen Tag und zu genau dieser Stunde und Minute.

Vielleicht ist Dir schon der neue Trend bei der Fernsehwerbung aufgefallen: Man zeigt keine richtigen Filme mehr, sondern Computeranimationen. Eine Bausparkasse beispielsweise zeigt nicht mehr richtige Menschen vor einem richtigen Eigenheim, sondern eine Computersimulation; und eine Autofirma zeigt ein computersimuliertes Auto bei der Fahrt auf einer computersimulierten Straße.

Als ich das zum ersten Mal sah, fiel mir die sonderbare Wirkung auf: Die Computerbilder schienen mir eindrücklicher als die eines herkömmlichen Films oder Fotos zu sein. Die Computerbilder von Häusern und Autos wirken irgendwie wirklicher als wirkliche Bilder. Ein reales Haus und seine Umgebung können nie so makellos und vollkommen dastehen wie eine Computerdarstellung. Die Bilder dringen besser ein, weil sie unserer Idealvorstellung von einem Haus oder Auto genauer entsprechen – und solche Vorstellungen sind für uns selbst anscheinend realer als ein bestimmtes wirkliches Haus oder Auto. Das Ganze hat etwas von der Welt, die die Wissenschaft entwirft.

Die Wissenschaft erzählt die Geschichte einer Idealwelt, einer imaginären Welt, einer allgemeinen Welt. Sie formuliert allgemeine Gesetze darüber, wie die Dinge sich im allgemeinen verhalten. Und das wirkt realer als die Welt, die wir tatsächlich erleben. Aber es ist eine gespenstische Welt, eine computersimulierte Welt. Es gibt in ihr kein Jetzt. Wissenschaftler können niemals genau sagen, wie die Dinge sich eben jetzt verhalten werden. Wenn Wolken aufziehen, können sie allenfalls sagen, daß es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit regnen wird, aber wann genau es regnen wird, falls überhaupt, das wissen sie nicht, und sie können es nicht wissen. Du weißt, daß das Wasser in der Dusche eines schönen Tages plötzlich kalt werden kann, aber welcher Tag genau das sein wird, weißt Du nicht. Du weißt, daß Du Dich irgendwann mal in einen anderen Menschen verlieben wirst, aber Wissenschaftler können Dir nicht sagen und werden Dir niemals sagen können, wann genau das sein wird.

Im April 1987 kam es in Halifax in Nova Scotia zu einem ungewöhnlichen Naturereignis, als Chögyam Trungpa Rinpoche, der große Lehrer des tibetischen Buddhismus, dort starb. Für ein paar Tage vor und nach seinem Tod trieben riesige Eisblöcke, richtige kleine Eisberge, in den Hafen von Halifax. Sie legten den gesamten Schiffsverkehr lahm, und das will bei der Größe des Hafens – Halifax besitzt den zweitgrößten natürlichen Hafen der Welt – einiges besagen. Dergleichen war seit Menschengedenken noch nie beobachtet worden und ist auch in den Jahren seither nie wieder beobachtet worden. Warum erschienen die Eisberge in dem Augenblick, in dem ein großer Lehrer starb, der sich mit beinahe übermenschlichem Einsatz um die Ansiedlung des Buddhismus im Westen, insbesondere in Nova Scotia, bemüht hatte? Bloßer Zufall? Oder bedeutsame Koinzidenz?

Bis vor ein paar Jahrzehnten haben Wissenschaftler an der Vorstellung festgehalten (sie verlieh ihnen einen gewissen Abglanz des Göttlichen), daß alles, jedes noch so kleine Ereignis, im Prinzip vorhersagbar sei. Sie dachten die erfolgreiche Anwendung der newtonschen Gesetze auf die Planetenbewegungen weiter und meinten, man werde früher oder später alles vorausberechnen können. Sogar heute geben sich viele Wissenschaftler noch dieser Illusion oder Arroganz hin. »Noch wissen wir es nicht …«, raunen sie und betonen das »noch«.

In den letzten zwanzig Jahren haben einige Wissenschaftler jedoch hochkomplexe Systeme wie etwa das Wettergeschehen untersucht und festgestellt, daß solche Systeme prinzipiell, das heißt auch theoretisch, in ihrem Verhalten nicht vorhersehbar sind. Ein so kompliziertes System wie das weltweite Wettergeschehen ist so empfindlich, daß eine winzige Veränderung hier woanders zu einem gewaltigen Wetterumschwung führen kann. Der Entdecker dieses Prinzips spricht hier vom »Schmetterlingseffekt«, um anzudeuten, daß etwas so Bedeutungsloses wie der Flügelschlag eines Schmetterlings in Südamerika einen Orkan über dem Nordatlantik auslösen kann. Natürlich ist das nur ein Bild, das man nicht zu wörtlich nehmen darf, denn zu viele Einflußgrößen spielen hier eine Rolle; aber das Prinzip gilt: Ein sehr kleines Ereignis kann von gewaltigem Einfluß auf ein großes System sein, und dadurch ist dieses System unberechenbar, sogar theoretisch.

Die reale Welt, in der wir leben, folgt einfach nicht den geradlinigen Ursache-Wirkung-Gesetzen, die Wissenschaftler für sie vorsehen. Zu viele Faktoren sind an jeder realen Situation beteiligt, und eine winzige Veränderung irgendwo kann an einer ganz anderen Stelle dramatische Auswirkungen haben.

Betrachten wir zum Beispiel die folgenden Worte José Matsuwas, eines Heilers vom Stamm der Huichol. Bei seinem zweiten Besuch in Kalifornien sagte er:

Letztes Mal, als ich in eurem Land war, haben wir eine Zeremonie gemacht. Ich habe mit meinem Herzen gesungen. Und nach der Zeremonie hat es mächtig geregnet. Ja, wir haben die ganze Nacht gefeiert und uns morgens am Meer gereinigt; dann zogen Wolken auf und ein paar Stunden später goß es in Strömen. Ihr hättet mir früher sagen sollen, daß ihr solche Schwierigkeiten habt. Dann wäre ich früher gekommen und hätte eine Zeremonie gemacht, um die Lage zu ändern.

• Widersprechen solche Aussagen den Gesetzen der Naturwissenschaft? Nein! Und zwar deshalb nicht, weil sie einen bestimmten Augenblick betreffen, ein Jetzt. Die Meteorologen können für einen bestimmten Tag ein paar Anhaltspunkte zum Wetter geben und ungefähr sagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit es regnen wird, aber wann genau es zu regnen anfängt, wissen sie nicht. Und wenn ein leichtes Flattern in Brasilien sich auf das Wetter über dem Atlantik auswirken kann, ist nicht einzusehen, weshalb ein Ritual, das aus der Erfahrung von Generationen erwächst, nicht in der Lage sein sollte, in Kalifornien Regen fallen zu lassen.

Um die Fülle jedes Augenblicks erleben zu können, müssen wir unsere Erfahrung dieses Augenblicks fühlen. Und da wir diesen Augenblick in unserem Körper erleben, müssen wir zusehen, daß wir Körper und Geist verbinden. Sobald wir den Fluß unserer von Augenblick zu Augenblick sich ändernden Erfahrung wieder spüren, werden wir eine Reichhaltigkeit und Tiefe entdecken, die generationenlang verschüttet war. Wir müssen nur aufhören, unsere Erfahrung in die dünne, gerade Röhre der objektiven Zeit zu pressen, dann werden wir die ganze Breite unserer pulsierenden und vielschichtigen Erfahrung wieder empfinden. Wir werden sehen, daß die reale, gelebte Zeit ihre Rhythmen und Qualitäten und sogar Diskontinuitäten oder Lücken hat. In diesen Lücken der Jetztheit können die Dinge – auf eine fast unheimliche Weise – zusammenfallen oder uns zufallen. Das ist die tiefere Bedeutung dessen, was wir gern »Zu-Fall« nennen, was aber treffender als Koinzidenz bezeichnet ist, weil wir es als bedeutsam empfinden. Wenn wir auf solche Koinzidenzen achten, können sie uns wachrütteln.

Jeder Augenblick unseres Lebens ist eine Koinzidenz, wörtlich ein »Zusammen-Fallen«. In jedem Augenblick fallen die Dinge zusammen, aber die Wissenschaft wird uns nie sagen können, welche Dinge eben jetzt zusammenfallen werden. Und nur jetzt können Resonanzempfindungen, Götter, Dralas Zugang finden.

Was eine Lücke in Deiner Erfahrung entstehen läßt, indem es Dich anhält und zum gegenwärtigen Augenblick zurückholt, kann Dir das Herz öffnen, so daß Du das Lied der Dralas hörst und fühlst. Und dieses Lied folgt häufig der Melodie der bedeutsamen Koinzidenz. Ich werde Dir in einem späteren Brief noch mehr über die bedeutsame Koinzidenz schreiben; einstweilen möchte ich vorschlagen, daß Du in den nächsten Tagen bei Deinen üblichen Beschäftigungen auf Koinzidenzen zu achten versuchst. Du wirst vielleicht überrascht sein, was da alles durch die Lücken in der linearen Zeit aufscheint. Manchmal kann eine Koinzidenz das ganze Leben verändern. Manchmal läßt sie Dich lächeln. Und oftmals hilft sie Dir bei einer anstehenden Entscheidung. Immer jedoch bringen Koinzidenzen Bedeutung und Fülle in Dein Leben, wenn Du sie nicht einfach als »Zufall« abtust. Koinzidenz hilft Dir nämlich, die Verbindung zur lebendigen Welt wiederherzustellen.

Liebe, Wissenschaft und die Wiederverzauberung der Welt

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