Читать книгу bOOk oF liFe - Jess Pedrielli - Страница 6

II.

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Zu aufgewühlt um einschlafen zu können, warf sich Mingus im Bett rastlos von einer Seite auf die andere. Nur noch eine Nacht. Eine e i n z i g e Nacht! Er konnte es kaum erwarten. Endlich S I E B E N! Am nächsten Morgen würde er tatsächlich sieben Jahre alt sein. Eine enorme Zahl, fand er. Warum wusste er nicht so genau, doch diese Zahl übte eine besondere Anziehungskraft auf ihn aus. Er wurde diese Vorahnung nicht los, dass sich mit ihr etwas ganz Entscheidendes für ihn verändern würde. Als würde etwas Wichtiges mit ihr beginnen. Eine Mission ihren Lauf nehmen. Oder irgend so etwas Ähnliches zumindest. Verändern würde sich auch zweifellos etwas, allein dadurch, dass er bald eingeschult wurde. Dieser Umstand bedeutete für Mingus vor allem Eines: Triumph. Triumph durch Wissen. Oder Ebenfalls-Wissen. Er würde endlich alles lernen, was sein älterer Bruder Rhun bereits wusste. Hah!

In ihrem ewigen brüderlichen Wettstreit war das seiner Meinung nach von unschätzbarem Vorteil. Einfache Worte und Sätze konnte er bereits lesen und schreiben. Das hatte er sich, zur Verwunderung seiner Eltern, vor einigen Jahren schon selbst beigebracht. Permanent verarbeitete er seine Erlebnisse kritzelnd, malend und schreibend auf Papier. Sein Bruder hatte im Alter von vier Jahren eine ähnliche Frühreife gezeigt und vorzeitig die Fähigkeit entwickelt, Additionen und Subtraktionen mit Zahlen bis zu 150 im Kopf sowie mit Hilfe seiner zehn Finger durchzuführen. Sie waren beide keine Genies, besaßen aber einen regen, neugierigen und wachen Intellekt, der sich früh bemerkbar machte.

Leider wussten ihre Eltern nichts damit anzufangen und so blieben diese Begabungen weitestgehend unbeachtet. Bei Mingus schien es ihnen ohnehin manchmal, als ob ein alter Mann den Körper eines Kindes bewohnte. Besonders, wenn man seinen Fragen lauschte. Fragen, die buchstäblich Gott und der Welt galten.

Sehr anstrengende Fragen waren das teilweise - und zwar sowohl für Mingus als auch für sein Umfeld. Dazu gesellte sich bei Mingus noch eine gehörige Portion Frustration über das beklagenswerte Unvermögen der Erwachsenenwelt, ihm befriedigende Antworten auf seine tiefschürfenden Fragen zu liefern. Im alltäglichen Lauf der Dinge bedeutete der Jüngste zu sein für ihn außerdem, ständig als letzter über alles informiert zu werden. Jeder schien bereits über das Meiste Bescheid zu wissen, das ihm neu und unbekannt oder fremd, unerklärlich sowie beängstigend vorkam. Das kränkte ihn in seinem Stolz. Was das Erlernen von Tätigkeiten wie das Binden von Schnürsenkeln oder die Handhabung eines Brotmessers betraf, waren die Erwachsenen brauchbare Erklärer. Aber wenn er etwas Wesentliches über das Leben oder diesen Unsinn mit dem Sterben in Erfahrung bringen wollte, taugten sie durch die Bank herzlich wenig, lautete sein ungnädiges Urteil.

Beim bloßen Gedanken an ihre Erklärungsversuche schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Sie hatten nicht den blassesten Schimmer, was die großen Dinge des Lebens anging. Das war ihm recht schnell klar geworden. Am meisten irritierte es ihn, dass er ihnen einfachste Grundlagenfragen stellte, auf die sie seltsamerweise dennoch keine Antwort wussten. Dabei hätte er schwören können, dass es sich bei seinen drängenden Fragen um eine Art elementares Basiswissen der Menschheit handeln musste. Hatte denn noch niemand jemals eine Gebrauchsanweisung für sein Leben als Mensch erhalten, worin stand, worauf die Angelegenheit eigentlich hinauslaufen sollte? Seine Rolle als Erdbewohner stellte ihn jedenfalls täglich vor größere und kleinere ungelöste Rätsel. Zum Beispiel leuchtete es ihm keineswegs ein, warum er überhaupt irgendetwas so tun sollte, wie man es ihm sagte. Umgeben von schlecht informierten Leuten, schien es ihm nicht besonders ratsam, ihren Anweisungen uneingeschränkt Folge zu leisten. Die sinnvollere Option bestand für ihn daher darin, prinzipiell erst einmal alles zu hinterfragen, was sich ihm in der Welt darbot. Er hoffte auf diese Weise, halbwegs unbeschadet durchs Leben zu kommen. So eine Existenz als Kind war kein Zuckerschlecken! Von allen Seiten forderten mit nur mäßigem Wissen ausgestattete Personen, die er zudem erst wenige Jahre kannte, eine Art blinden Gehorsam von ihm.

Er hätte eine ebenbürtigere Behandlung eher begrüßt. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie ihm zum Beispiel nachvollziehbare Sachverhalte oder Beweggründe mitgeteilt hätten, auf welche sich ihre ihm gegenüber angemaßte Befehlsgewalt überhaupt stützte. Mit Logik und einer vernünftigen Argumentationskette wäre durchaus an seine Kooperationsbereitschaft zu appellieren. Ganz besonders verabscheute er den Satz „Du machst das jetzt, weil ich es dir sage“. Das war eine würdelose Beleidigung seiner Intelligenz! Er war doch kein schwanzwedelnder Schoßhund, dem man Kommandos hinwarf wie Hundekuchen! Abgesehen davon, hegte er den leisen Verdacht, dass auch den Schoßhunden das mit dem Befehl und Gehorsam weniger gut gefiel als deren „Herrsch´chen“.

Mingus seufzte. Wo doch Gehorsam so gar nicht seine Sache war ... Er mochte es eben nicht sonderlich, wenn man ihn herablassend behandelte. Er wollte selbst mitentscheiden dürfen. Warum erläuterte einem niemand einfach die Wahlmöglichkeiten in einer gegebenen Situation inklusive deren jeweiliger Konsequenzen und überließ einem dann die Entscheidung? Auch wenn man noch ein Kind war. Na und? Hatte man denn da kein Mitspracherecht?

Bisher hatte sich auch noch nie jemand die Mühe gemacht, ihm den Maßstab zu erklären, an welchem sie sich in ihren Ansprüchen und Forderungen an ihn orientierten. Wie sollte er da entscheiden können, ob es sich lohnte, den Aufforderungen der Erwachsenen nachzukommen oder besser nicht? Schwimmflügel wie ein Baby tragen zu müssen, weil er sonst absoff, war in Ordnung. Einen Spielgefährten meiden zu müssen, weil die jeweiligen Eltern sich nicht ausstehen konnten – kam nicht in Frage. Wenn beide Anordnungen per „du machst das, weil ich dir das sage“ erteilt wurden, verstellte ihm das nur den Blick auf das Wesentliche. Also war die einzig angemessene Reaktion auf diesen Satz eine bockige Verweigerungshaltung. Und zwar prinzipiell. So war er wenigstens auf der sicheren Seite und bewahrte sich vor Fehleinschätzungen und gröbsten Fehlern, glaubte er.

So viel zu Mingus vorrangigsten Wünschen an sein Umfeld. Er hatte begriffen, dass bedingungsloser Gehorsam im Allgemeinen zwar zu zufriedenem Wohlwollen seitens der Erwachsenen führte, während die sofortige Leistungsverweigerung einem Hochverrat gleichkam, der ihm nur Missbilligung einbrachte, aber leider nicht seinem Wesen entsprach. Auch das dadurch thematisierte Hinterfragen von Autoritätspersonen sorgte nicht gerade für seine Popularität.

Dennoch blieb er standhaft. Er wollte sich selbst aussuchen, auf wen er hörte und wessen Aufforderungen er lieber ignorierte. Sein wichtigstes Auswahlkriterium dabei war, ob die jeweilige Person sich in ihrem Führungsanspruch als würdig, integer und kompetent erwiesen hatte. Er bevorzugte diejenigen, die ihn trotz seines zarten Alters ernst nahmen und auf ihn einzugehen bereit waren. Menschen, deren Meinung und Persönlichkeit Mingus schätzte, weil sie in sich ruhten, doch gleichzeitig konsequent Grenzen zu setzen wussten, wenn erforderlich. Ganz weit oben in seiner Gunst standen selbstverständlich die seltenen Exemplare, welche ihm obendrein auch noch die eine oder andere Antwort anbieten konnten, was die ganz großen Fragen über das Leben betraf.

Den untersten Rang seiner Wertschätzung belegte der Menschenschlag, welcher niemals nie und unter keinen Umständen jemals je über das Leben nachdachte. Unerhört fand er das. Wo käme die Menschheit denn hin, wenn alle einfach aufhörten, über den Sinn ihres Lebens nachzudenken!? Mingus geizte also mit seinem Respekt und beäugte die Menschen sehr genau und kritisch. Die meisten von ihnen beeindruckten ihn wenig, und er hatte kein Verlangen nach ihrer Gesellschaft, geschweige denn danach, von ihnen gesagt zu bekommen, was er zu tun und was zu lassen hatte. Trotz seiner durchaus umgänglichen Art war er in seinem tiefsten Inneren ein wählerisches Kerlchen.

Die meisten Anweisungen der Erwachsenen an Mingus führten daher häufig zur Ausführung der gegenteiligen Handlung. Dies geschah sozusagen im Dienst an der Wissenschaft. Fielen die Resultate seiner ersten grundsätzlichen Faktensammlung für seinen Geschmack zu dürftig aus, beendete er sein Bombardement aus

Wieso? Warum? Weshalb? Wozu? Und dann? Wer sagt das?,

indem er zur experimentellen Überprüfung fortschritt.

Wie sonst sollte er etwas über

Konsequenzen, Ursache und Wirkung der Dinge, in Erfahrung bringen? Als man ihm daher ohne weitere Erklärungen verboten hatte, mit Haarklammern an Steckdosen zu spielen, suchte er sich notgedrungen schnurstracks eine andere Haarklammer, um der Sache gleich auf den Grund zu gehen. Es beschäftigte ihn einfach, was es damit auf sich hatte. Nach seinem ersten elektrischen Schlag, wusste er dies zwar noch immer nicht so genau, doch zumindest war ihm in der Steckdose tatsächlich eine furchteinflößende Kraft begegnet, um die er zukünftig lieber einen weiten Bogen machte.

Sein Vorgehen führte erstaunlicherweise stets zu ein und demselben Resultat: tiefe Stoßseufzer auf Seiten der Erwachsenen, dicht gefolgt von tiefen Stoßseufzern auf Seiten von Mingus. Mit anschließendem Stirnrunzeln beider Parteien über die lästige Verbohrtheit des jeweils anderen. Mingus` ausgeprägtes Selbstwertgefühl sowie seine Neigung, alles in Frage zu stellen und ausloten zu müssen, ließen ihn selbst seiner Mutter insgeheim manchmal nicht ganz geheuer erscheinen. Er stand in dem zweifelhaften Ruf, ein kompliziertes, rebellisches Kind zu sein. Er galt als SCHWIERIG. Mingus vermutete jedoch, dass man nicht ihn schwierig fand, sondern sein permanentes Forschen nach für ihn essenziellen Axiomen. Er war schließlich neu in der Welt und wollte verstehen, worauf sie fußte.

Seit er sprechen konnte, betrieb er unermüdlich seine Grundlagenforschung, die für Ungeduld, Verdruss und Unbehagen in seiner Umgebung sorgte. Alles, was man allgemein von einem Kind erwartete, war, dass es anschmiegsam, brav, formbar und rundum pflegeleicht sein sollte. Ein besonderes Wunschkriterium im Anforderungskatalog der Eltern für die zu besetzende Position eines Kindes lautete außerdem, keinerlei lästige Fragen sowie unliebsame Widerworte in die Welt zu setzen und stattdessen vorzugsweise seinen Eltern sklavische Ehrerbietung zu bekunden. Mingus erfüllte keines dieser Kriterien. Doch konnte man wirklich ihm dafür die Schuld geben, dass sie das falsche Kind erhalten hatten, von dessen intensivem Wissensdurst sie sich überfordert fühlten? Letzten Endes musste er sich mit ihren Unzulänglichkeiten genauso abfinden und arrangieren, wie sie sich mit den seinen.

Und obwohl kein Mangel an gegenseitiger Liebe vorherrschte, lebten er und seine Familie in einem Zustand der Befremdung, was das innerste Wesen des anderen betraf. Irgendwo existierte eine unsichtbare Wand zwischen ihm und der überwiegenden Anzahl von Personen, denen er begegnete. Mingus konnte die Wand spüren, auch wenn er ihre Ursache nicht verstand. Noch nicht.

Er wusste nicht, wie er seinen Eltern begreiflich machen sollte, dass er n i c h t die physische Verlängerung ihres eigenen Körpers und Geistes war, sondern ein eigenständiges Wesen. Eines mit vielen Fragen. Fragen, von der Sorte, die sie sich anscheinend nicht stellen wollten. Es war ihm schleierhaft, woher manche Erwachsene ihr Überlegenheitsgefühl gegenüber einem Kind hernahmen, wie er es unterschwellig wahrnehmen konnte, wenn Leute mit ihm sprachen, als sei er nicht nur Ausländer, sondern obendrein schwerhörig sowie geistig zurückgeblieben. Das einzig Beruhigende war, dass sie diesen gönnerhaften Ton nicht nur ihm gegenüber anschlugen. Er nahm es nicht länger persönlich, seit er beim Einkaufen mit seiner Mutter eine Frau beobachtet hatte, welche sich über ein fremdes Baby gebeugt und sehr merkwürdige Laute ausgestoßen hatte. Nach fünf Minuten konzentrierter Aufmerksamkeit wussten weder er noch das Baby, was „Eieieigutschiputschipuh“ übersetzt bedeuten sollte. Sie hatten daraus gefolgert, dass die Frau wohl außerplanetarische Muttersprachlerin sein musste. Doch dann stellten sie zu ihrer Überraschung fest, dass die Frau zu einem flüssigen Dialog mit Mingus´ Mutter in der Lage war. Auf Erdisch!

Es ist nicht der Planet der Affen, sondern der Planet der Idioten, auf dem wir gelandet sind,

konnte er in dem resignierten Blick des Babys lesen, als dieses endlich von der Dame erlöst und an Mingus vorbeigeschoben worden war.

Jene Begegnung hatte Mingus sehr erleichtert, weil sie ihm bestätigt hatte, dass er kein Einzelfall war. Auch andere Kinder wunderten sich über das seltsame Verhalten der Erwachsenen, sobald sie auf ein Kind trafen. Man wurde nicht wirklich schlau aus ihnen und ihrer Welt, für die sie sich nur im Kleinen, aber nicht im Großen zu interessieren schienen.

Fakt blieb jedoch, dass diese Leute sich wesentlich länger auf diesem Planeten aufhielten als er und trotzdem keinerlei befriedigende Auskünfte darüber geben konnten, worum es sich bei dieser Sache genannt Leben handelte? Die hilflose Antwort, dass das so genau eben keiner wisse, machte es auch nicht besser. Ja, und?! Sollte ihn das etwa beruhigen?!

Empört schmiss sich Mingus erneut auf die andere Seite seines Betts. Wenn er in ihre Augen sah, beschlich ihn manchmal das gespenstische Gefühl, dass die anderen Menschen in Wirklichkeit gar keine Menschen, sondern Roboter waren, die sich bloß als Menschen getarnt hatten. Und er war der einzige übrig gebliebene echte Mensch aus Fleisch und Blut unter ihnen. Plötzlich war ihm einsam zumute. In seiner Vorstellung waren sie Mutanten, die sich zwar um ihn kümmerten als wären sie seine wirklichen Eltern, die aber nur nett zu ihm waren, um ihre wahre Identität weiterhin geheim zu halten.

Würde Mingus sie allerdings aufschneiden, würde er in ihrem Inneren sicherlich nur leblose Stahldrähte vorfinden. Oder so etwas Ähnliches. Jedes Mal, wenn dieser Gedanke ihn überkam, wurden sie ihm so unheimlich, dass er auf die Straße rennen und in den Himmel schreien wollte: „Holt mich ab hier, wo und wer auch immer ihr seid, aber kommt schnell und holt mich sofort ab, bitte! Mir gefällt es hier nicht. Überhaupt nicht! Hilfe!“

Er tat es nicht. Jahre später fand er Trost in der Begegnung mit einem Seelenverwandten, dem es ähnlich erging wie ihm. Jener sah zwar etwas verschrumpelter aus als er, besaß dafür jedoch einen leuchtenden, roten Finger, mit dem er nach Hause telefonieren konnte! Mingus hätte alles für so einen Finger gegeben. Doch ihm blieb nur, sich unruhig im Bett herumzuwälzen, während ein undefiniertes Leben als Mensch vor ihm lag, das mehr Geheimnisse als Erklärungen bereit hielt. Das Leben der anderen war angefüllt mit Dingen, die für ihn keine Bedeutung hatten und umgekehrt. Dabei beschäftigte ihn so vieles, das sie doch auch aufwühlen musste? Fragen wie: Wozu gab es Menschen? Was war eigentlich ein `Ich´? Was passierte mit dem Strom der Zeit, wenn keiner mehr da war, um ihn zu beobachten? Tickte die Zeit dann einfach weiter in die Unendlichkeit des Alls hinaus wie ein tropfender Wasserhahn, dem keiner mehr Beachtung schenkte?

Wie konnte man sicher sein, dass das Universum unendlich war? Es konnte doch genauso gut sein, dass nur noch niemand weit genug bis zu dessen Grenzen vorgedrungen war? Überhaupt diese Sache mit der Unendlichkeit – wie sollte man sich etwas vorstellen, dass keine Form, keinen Anfang und kein Ende besaß und somit das eigene Fassungsvermögen vollkommen sprengte? Und ausgerechnet in so einem Ding saß man fest? Mingus schwoll jedes Mal bedrohlich heiß der Kopf an und drohte zu explodieren, bei dem Versuch, sich gedanklich der Unendlichkeit anzunähern. Ihre Grenzenlosigkeit erschreckte ihn buchstäblich zu Tode. Denn trat er mit seinem Tod nicht zwangsläufig in sie ein, wenn es nichts außerhalb des Universums gab? Doch auch, wenn er sich nicht bemühte, dem unendlichen Universum mit seinem eigenen, menschlichen Zwergenhirn beizukommen, blieb immer noch die Frage, wer das Ding damals gepflanzt hatte? Und wozu?

Und dann war da auch noch diese Sache mit den Trillionen anderen Planeten im Weltraum. Wenn angeblich keiner darauf wohnte, wozu gab es die alle? Waren die zur Dekoration da? Diese Verschwendung schien ihm unlogisch. Gerade so, als ob man Trillionen von Häusern bauen würde, in die aber keiner einziehen durfte. Einer seiner gedanklichen Klassiker war auch: Was passierte später mit der Erde, wenn der Sonne ihr Feuer ausging? Man konnte doch die gesamte Geschichte der Erde sich nicht einfach so auf Nimmerwiedersehen im leeren Raum auflösen lassen, als habe sie nie existiert? Das wäre dann wiederum so, als würde man jahrelang an einem Haus bauen, um es am Tag der Fertigstellung in die Luft zu sprengen. Plopp. Aus und vorbei. Nichts und niemand übrig. Nicht einmal ein einziger Überlebender, der sich nach ihrem Verschwinden jemals wieder an die Erde erinnern könnte oder noch viel schockierender – an ihn! Mingus schauderte entsetzt.

Was beinhaltete Sterben überhaupt? Was sollte man sich darunter vorstellen? Was passierte dabei mit einem? Wo befand man sich anschließend? Denn irgendwo musste man im Anschluss ja enden, wenn man von hier wegging. Nur weil der Zuckerwürfel sich in der Teetasse auflöste, hieß das ja auch nicht, dass sich kein Zucker mehr darin befand. Demnach musste es auch einen Ort geben, an dem die Toten sich nach ihrer körperlichen Zersetzung aufhielten. Dauerte es lange, bis man dort war? Gab es da auch genug zu essen, um all die vielen Toten seit Anbeginn der Zeit zu füttern? Womit wurden sie gefüttert? Einen Körper zum Verdauen hatten sie ja nicht mehr. Oder woher bezogen die Toten dann ihre Energie, wenn nicht aus irgendeiner Form von Nahrung? Musste ja ein Riesenort sein, das Totenland. Und wenn man nach dem Tod bloß an den Ort zurückkehrte, von dem man ursprünglich hergekommen war, wie manche behaupteten, wieso war man nicht gleich dort geblieben? Wozu der Umweg?

Die Erwachsenen waren ihm hierbei keine Hilfe. Sie zuckten mit den Achseln und antworteten ihm, dass diese Dinge schlichtweg niemand beantworten konnte. Mingus kochte innerlich. WARUM nicht? Was hatten die denn alle in den Tausenden von Jahren vor seiner Ankunft getrieben, dass noch keiner Antworten gefunden hatte? Und was hatten die alle zu tun gehabt, das wichtiger gewesen sein konnte, als eben dies herauszufinden? Er fluchte leise.

Da war eindeutig etwas faul. Mingus kratzte sich verdrossen den Kopf. Das mit dem Leben war, als ob man plötzlich in ein Computerspiel hinein gebeamt worden sei, ohne die Regeln, das Ziel oder den Endgegner zu kennen. Und statt zu erkunden, wie man bloß in so eine missliche Lage hatte geraten können, um sie möglichst schnell wieder rückgängig zu machen, waren die anderen Spieler durchaus zufrieden damit, sich gegenseitig abzuknallen und das eigene Punktekonto zu füllen.

Mingus hingegen mutmaßte, dass es da weitere und ganz andere Level und Spielszenarien geben musste, die um einiges interessanter und spannender waren. Aber das war nur so eine vage Idee, dass irgendwo da draußen ein Mehr existierte. Ein Mehr von allem. Eines, das logisch aufgebaut war und klare Strukturen enthielt. Nicht zu vergleichen mit dem für ihn so dürftigen Weltbild, das kursierte. Wenn er durch die Straßen lief und die Menschen an ihm vorübereilten, die Leute ebenso wie die Bäume und Häuser an ihm vorbeizogen, wusste er, dass sie genau das waren, was sie waren - ein vorübergehendes Ereignis in der Welt. Sie alle waren nur vorüberziehende Erscheinungen. Nichts davon und niemanden von ihnen brauchte man ernst zu nehmen. Alles, was existierte, war ja nur einen flüchtigen Augenblick lang hier. Ein Fingerschnipsen der Ewigkeit waren sie alle. Denn irgendwann in der Zukunft würde fort sein, was ihn momentan umgab. Verschwunden in der Vergänglichkeit, als wäre es nie da gewesen. Wahrlich es lohnte kaum, es ernst zu nehmen. Es war doch fast schon wieder fort.

Wozu also all dies erst erschaffen? Mingus wälzte sich zum wiederholten Male im Bett herum, knüllte aufgebracht sein Kissen zurecht, drehte sich zur Wand und versuchte trotz des Ansturms an Gedanken in seinem Kopf einzuschlafen. Sein Gehirn erinnerte ihn manchmal an das Rad seines Ex-Hamsters. Ob er selbst auch eines Tages mit blutender Nase darunter eingequetscht aufgefunden werden würde? Er gab einen Seufzer von sich. Aus dem Leben sollte einer klug werden. Anderen erging das wohl nicht anders, aber im Gegensatz zu ihm störte sie das offenbar nicht. Sie verbrachten ihre Zeit auf der Autobahn, starrten den Tag über stundenlang auf den Monitor ihres PCs, fuhren danach wieder auf der Autobahn und verbrachten anschließend den Rest des Tages damit auf den Fernsehbildschirm zu schauen. Dort sahen sie fiktiven Charakteren beim Leben zu, statt selbst eines zu haben. Die Werbeblöcke halfen ihnen dabei, sich daran zu erinnern, wofür sie das jeden Tag taten: nämlich fürs Einkaufen all der vorgeführten Utensilien, ohne die das Leben nicht lebenswert sein durfte. Den Rest des Abends spülten sie dann mit Alkohol herunter, damit sie ordentlich betäubt und wohlig schlafwandelnd durchs Dunkel glitten. Mingus reichte das nicht. Er hatte ernsthafte Motivationsprobleme, sich an etwas zu beteiligen, über dessen Sinn und Zweck ihn niemand aufklären konnte. Erst recht, wenn es dabei um sein eigenes Leben ging!

Andererseits, was hatte er schon für eine Wahl? Er steckte ja bereits mittendrin. War alles, was einem übrig blieb die Flucht nach vorn? Augen zu und durch? War es das, was die Erwachsenen taten? Hatten sie sich einfach nur ihrer unerklärlichen Situation ergeben? Hm. Konnte das genug Motivation darstellen? Aber wer sagte denn, dass die Situation tatsächlich unerklärlich bleiben musste? Vielleicht gab es durchaus Antworten, wenn man sich gründlich genug auf die Suche nach ihnen begab? Und vielleicht lebte es sich mit diesen Antworten leichter? Sollte das nicht, einen Versuch wert sein? Zumindest könnte man dann zur Abwechslung mal beruhigt einschlafen, erhoffte sich Mingus.

Erneut dachte er an seinen bevorstehenden Geburtstag am nächsten Tag. Es war schon merkwürdig: Man ging zu Bett und sobald man das nächste Mal aufwachte, war man in nur einer Nacht, plötzlich ein Jahr älter. Fast sieben Jahre befand er sich nun an diesem Ort Erde. Wie viele Geburtstage würde er wohl insgesamt hier verbringen? Wie viel Zeit hatte er zur Verfügung, um Antworten zu finden? Oder hatten die anderen recht? War es ein unmögliches und viel zu vermessenes Unterfangen, dieses enorme Mysterium auch nur ansatzweise lösen zu wollen? War das Leben einfach eine zu große Nummer für so ein limitiertes Menschenhirn? Sein Hirn, so begrenzt es auch sein mochte, war hartnäckig und hatte sich in nichts Geringerem als der Suche nach dem Sinn des Lebens festgebissen.

Er stöhnte auf. Was stimmte nicht mit ihm, warum tat er sich so viel schwerer als der Rest? War er einfach nicht begabt fürs Leben? Oder war er bloß unterzuckert? Er knipste die Nachttischlampe an und griff sich die Schachtel mit Minzplättchen, die dort stand. Hungrig stopfte er sich zwei auf einmal in den Mund. Während er kaute, fiel sein Blick auf die Schachtel.

After Eight

hieß es dort

. Er stutzte und sah erstaunt auf die Uhr. Doch es war längst nach acht Uhr. Beruhigt kaute er weiter.

Ihm fiel auf, dass diese Nacht einzigartig war. Immerhin würde sie morgen für immer vorbei sein und so nie wiederkommen. Ebenso wie der Tag gestern und der Tag morgen beide nur ein einziges Mal auf genau diese Weise ablaufen würden. Einmal bloß waren sie in ihrer Einzigartigkeit in der Welt vorhanden, gingen vorüber und waren auf alle Zeit verloren. Jeder neue Tag war wie eine Blume, die nur einmal blühte und dann für immer in die Unendlichkeit verschwand. Aufgefressen von jenem Malstrom der Zeit, der sich alle Tage der Menschheit gierig in seinen Schlund schob als seien es … Minzplättchen. Und diese dann nie wieder auf dieselbe Weise ausspuckte. War das Leben nichts weiter als eine Art Wettlauf mit einem tödlichen Zeitmonster, das mit seinem schwarzen Riesenmaul unentrinnbar auf ihn und alle anderen zuraste, um sie ebenso zu verschlingen, wie es sich bereits die verlorenen Tage und Welten der Vergangenheit einverleibt hatte?

Mingus wurde es heiß und übel bei der Vorstellung, und er würgte das letzte Minzplättchen wieder hervor. Würde er sich im Abgrund der Ewigkeit in ein vergessenes Nichts verwandeln? Als sei er nichts weiter als ein Furz im Wind? Sein Leben ein zu winziger Augenblick, um überhaupt von der Ewigkeit bemerkt zu werden? Die Ewigkeit konnte er ebenso wenig leiden wie die Unendlichkeit. War er dazu verdammt mit jedem Atemzug, dem Rachen des Allesfressers näherzukommen, der sämtliches Leben irgendwann verschlingen würde? Gab es einen achten Tag, an dem Gott die Klospülung drückte, von dem ihm nur keiner erzählen wollte?

Was für eine grausame und sardinische (oder wie das nochmal hieß) Angelegenheit wäre das Leben dann? Der kalte Angstschweiß brach ihm aus. Er vergrub sein mit Schokolade verschmiertes Gesicht in seinen Händen. Nein, nein und nochmals nein! Es ergab doch gar keinen Sinn! Er musste etwas übersehen haben, etwas Wesentliches. Einen Hinweis, ein Indiz für Logik im scheinbar Unsinnigen. Sicher sah er nur den Wald vor lauter Bäum- … plötzlich saß er wie vom Donner gerührt im Bett. Konnte es ...? War es eventuell möglich ... ? Mingus fixierte mit offenem Mund den leeren Raum vor sich.

Eine Erinnerung war jäh aufgetaucht. Die Erinnerung an seine ehemalige Kindergärtnerin. Unter einem Baum hatte sie den Kleinen in ihrer Obhut einst den Wechsel der Jahreszeiten beschrieben. Von ihr hatte er zum ersten Mal vom wundersamen Kreislauf der Natur gehört und fand ihn fast ein bisschen unheimlich in seiner bestechenden Perfektion. Er war ihm wie Magie erschienen und ehrfürchtig hatte er den Ausführungen gelauscht, mit welchen ihm die endlose Wandlung des Baumes erklärt wurde. Ein Baum, der stets am selben Ort verharrte und ein und derselbe Baum blieb, obwohl er viele Verwandlungen durchlief. Diese Wandlungen vollzogen sich außerdem in Einklang mit der Umgebung des Baumes, die in den Prozess eingebunden war: Das herabfallende Laub wurde Teil des Erdbodens, nährte die Pilze und das Gras, welche wiederum durch die Wurzeln, den Baum nährten und für neues Laub sorgten. Überrascht und ungläubig hatte er diese neuen Informationen aufgenommen, die sowohl von verblüffender Klugheit als auch beruhigender Zweckmäßigkeit in der Natur zeugten. So ein Leben als Baum war nach einem klaren und ausgewogenen Plan ausgerichtet, obwohl es sich nur um einen Baum handelte. Der Schlüssel zum Leben lag irgendwo in der Nähe dieses Baumes, der einem Zyklus folgte. Mingus beschloss, sich in den nächsten Tagen eingehender mit Bäumen zu befassen.

Aufgeregt sprang er auf und rannte ins Badezimmer, wo er sich sorgfältig die Hände und den Mund abwusch. Auf Zähneputzen hatte er keine Lust. Wer konnte sich schon mit Zähneputzen aufhalten, während er in einem unendlich expandierenden Universum lebte? Seine Zeit darin war immerhin begrenzt. Er musste sorgsam mit ihr umgehen und Prioritäten setzen, wofür er sie nutzen wollte! Zähneputzen konnte auch mal ausfallen, beschloss er. Mingus gähnte herzhaft, marschierte dann zielstrebig zurück in sein Zimmer, legte sich hin und knipste das Licht aus. Als er sich sich für mehr Bequemlichkeit die Bettdecke zwischen die Knie stopfte, stieß er ungeschickt mit dem Kopf an die Wand. Er rieb sich die schmerzende Stelle. Auch das noch. Wo ihm sein Kopf doch sowieso schon weh tat vom vielen Grübeln. Denken ist einfach zu anstrengend, entschied er. Genug gedacht für heute. Bald darauf war ihm der Schlaf endlich gnädig und kroch zu ihm ins Bett.

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