Читать книгу bOOk oF liFe - Jess Pedrielli - Страница 7

III.

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In der Nacht vor seinem siebten Geburtstag träumte Mingus von einem Krokodil, das eindeutig nicht alle Tassen im Schrank hatte. Es rannte ständig mit dem Kopf gegen eine Wand, unterbrach diese Aktion dann, um sich kurz zu schütteln und sofort wieder kopfüber in die Wand zu krachen. Dicke Beulen zeichneten sich bereits um den Schädel herum ab. Das Krokodil ließ sich davon nicht beirren und nahm weiter Anlauf um Anlauf. Traum-Mingus sah ihm eine Weile erstaunt zu. Schließlich fragte er:

„Hast du sie nicht mehr alle?“

Überrascht fuhr das Krokodil herum. Es blickte hinter sich und deutete dann fragend auf seine Brust.

„Wer? Ich?“

Mingus nickte.

„Ja, du. Oder siehst Du hier noch einen anderen Irren?“

Das Reptil warf einen misstrauischen Blick über seine Schulter, dann schüttelte es erleichtert den Kopf.

„Nur dich..“

Mingus rollte mit den Augen.

„Was um alles in der Welt treibst du da nur an der Wand?"

Das Krokodil sah ihn verblüfft an.

„Das liegt doch wohl auf der Hand?! Nein? Na gut. Also, ich bin besessen. Ich kann nicht anders. Ein zwanghafter, unkontrollierbarer Impuls überkommt mich von Zeit zu Zeit, mir den Kopf zu zerbrechen. Geht dir das denn nie so?"

Das Krokodil warf ihm einen betont unschuldigen Augenaufschlag zu. Mingus gab keine Antwort und das Krokodil machte einen Schritt auf ihn zu.

„Nein? In diesem Fall helfen auch ein paar leichte Schläge auf den Hinterkopf, die können Wunder wirken und für ganz neue Denkanstöße sorgen", versicherte es und machte eine einladende Geste mit seiner Pranke.

Mingus wich erschrocken vor dem verrückten Krokodil zurück. Das ließ die Pranke wieder sinken und wandte sich mit einem Schulterzucken von ihm ab. Als habe es gänzlich das Interesse an der Unterhaltung und an Mingus verloren, stand es da, stemmte die Arme - oder waren es Vorderbeine? - in die Seiten und betrachtete interessiert die Gegend. Nur gab es da rein gar nichts zu sehen. Sie waren in einem Traum,

Mingus` Traum, in welchem nichts weiter vorhanden war als sie beide, eine Wand und aus irgendeinem unerfindlichen Grund - ein Stein. Das Krokodil fixierte konzentriert den Horizont, furzte unerwartet genüßlich und grunzte anschließend erleichtert auf.

Mingus trieb es peinlich berührt die Schamesröte ins Gesicht. Dem Krokodil war das ziemlich egal.

„Uuäh!“, entfuhr es Mingus plötzlich.

Der Anschlag hatte ihn unvorbereitet getroffen und erforderte den sofortigen Übergang in den Notfallmodus: Er begab sich in den Atemstillstand. Hastig wedelte er mit beiden Händen die schädlichen Abgase von sich fort, die begonnen hatten, sich vom Krokodil her unerbittlich in Mingus` Richtung auszubreiten. Mingus hasste es, wenn man ihn anfurzte. Auch im Traum machte er da keine Ausnahme.

„Du musst dringend zum Arzt, so wie du stinkst. Da ist sicher etwas nicht in Ordnung bei dir. Vielleicht hast du sogar die Pest? Wegen der Beulen, meine ich", rief er dem Krokodil mit erstickter Stimme zu, während er vorsichtig durch den Stoff seines Hemdärmels ein- und ausatmete.

Leider schaffte das keine wirkliche Abhilfe. Der Gestank war unerträglich.

„Uah, ich glaube, ich muss kotzen", murmelte er. „Wie kann ein Traum nur so stinken?“, beschwerte er sich.

„Frag mich nicht, du bist der Träumer! Ich bin nur das ausführende Organ", antwortete das Krokodil gleichmütig.

Nachdem die Luftqualität wieder einigermaßen passabel geworden war, setzte sich Mingus auf den Stein und sagte ernst zu dem Krokodil:

„Du hast meine Nase fast blind gemacht! Tue das nie, niemals wieder, hörst du?!“

Doch das Krokodil gähnte bloß gelangweilt. Diese Unverfrorenheit verschlug Mingus kurz die Sprache. Dann fragte er resigniert:

„Also, wieso genau bist du in meinem Traum, oh großer, übler Duftspender?"

„Na, du wolltest doch unbedingt wissen, wer und was du bist, aus welchem Stoff das Leben gemacht ist und allgemein die ganz großen Fragen klären, … et cetera, bla bla. Und ich bin hier, um dir alles zu zeigen, was du wissen willst.“

Es zwinkerte ihm zu.

„So von Besessenem zu Besessenem."

„Ich bin kein Besessener! Und bestimmt nicht so durchgeknallt wie du!", entrüstete sich Mingus.

Den Vergleich mit einem geistesgestörten Stinker mit schuppiger Haut wollte er nicht auf sich sitzen lassen.

„Aber sicher doch“, widersprach ihm das Reptil entschieden.

„Du bist vollkommen besessen vom Leben. Nichts auf der Welt bedeutet dir mehr. Seltsam, nicht wahr? Dabei zählst du zu den Menschen, deren Leben erst beginnt, wenn sie abends die Augen schließen", gluckste das Krokodil vergnügt.

Es machte eine Bewegung, die Mingus alarmierte. Er befürchtete sogleich, dass ein neues Hochdruckgebiet in unmittelbarem Anmarsch war. Er brauchte dringend einen Notfallplan, falls der nächste Gasangriff nicht mehr allzu lange auf sich warten ließ. Mingus kniff das Gesicht nachdenklich zusammen und schob die Unterlippe vor. Das war sein Denkergesicht. Oder vielmehr eines davon. Prompt kam ihm die rettende Idee! Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und er stand auf, lief zu einem Schrank, der sich just in diesem Moment im Raum materialisierte, und zog aus diesem eine Giftgasmaske hervor.

Erfreut zog er sie über und setzte sich so gewappnet auf den Stein zurück. Das Krokodil schüttelte sich vor Lachen.

„Ich bin gern vorbereitet“, gab Mingus mit dumpfer Stimme von sich.

„Und da du mich für besessen hältst und Giftgasattacken deine Form von Exorzismus zu sein scheinen ...“ , er ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen.

Das Krokodil kugelte vor Lachen auf dem Boden.

„Steht dir! Du siehst viel besser aus als vorher,“ sagte es, als es sich wieder beruhigt hatte.

Mingus gab ein Schnauben von sich.

„Ich bin nicht der Exorzist – ich bin hier FÜR dich, um dir zu helfen, Antworten zu finden, Darth Vader Junior“, setzte das Krokodil hinzu.

„Deshalb träume ich dich?“, fragte Mingus verwundert.

Das Krokodil stützte den Kopf in die Pranke und grinste breit.

„Sag mal, findest du es eigentlich normal, sich im Traum des Träumens bewusst zu sein wie du gerade? Du weißt, dass wir beide uns in deinem Traum befinden und wunderst dich kein bisschen, dass das im Grunde recht ungewöhnlich ist?“

Mingus zuckte mit der Schulter. Nein, es wunderte ihn nicht wirklich. Er hätte nicht sagen können warum nicht. Für ihn war dieser Umstand ein Bestandteil seines Träumens, seit er sich erinnern konnte. Allerdings hatte er gehört, dass das nicht allen Menschen so ging.

„Diese Fähigkeit den Traum als solchen zu durchschauen ist der Anfang eines Weges, deines Weges“, klärte das Krokodil ihn lächelnd auf.

„Diese Fähigkeit ist wie ein Muskel, den jeder besitzt, aber nicht jeder trainiert. Du hast vor sehr langer Zeit begonnen diesen Muskel zu trainieren und das war eine Menge Arbeit, kann ich dir versichern! Woran du dich wahrscheinlich kaum erinnern wirst, oder?!“, fragte das Krokodil neugierig.

Mingus schüttelte verneinend den Kopf. Er hatte keine Erinnerungen an irgendein langes Muskeltraining.

„Man nennt diese Form auch luzides Träumen, wenn man sich während des Traums bewusst ist, dass man träumt. Das luzide Träumen erlaubt einem auch den Trauminhalt nach Belieben zu steuern und zu verändern. Mit dem Erwerb dieser Fähigkeit beginnt der Aufbruch in unbekanntes Neuland. Hier beginnt der Wirkungskreis der magischen Kräfte des Lebens, die nichts anderes sind als die Wissenschaft von morgen.“

Die Augen des Krokodils leuchteten auf. Es setzte sich auf.

„Dadurch werden Erfahrungen möglich, die Grenzen sprengen und vieles in Frage stellen oder sogar gänzlich über den Haufen werfen, was du im Wachzustand als Wirklichkeit erlebst, weil sie im Widerspruch zu ihr stehen können."

Es schaute Mingus begeistert an.

„Im Grunde gibt es keine Wirklichkeit, verstehst du, sondern nur Wahrnehmung. Alles existiert in einem grenzenlosen Feld von Möglichkeiten, das entdeckt und erschaffen werden will. Aber bis du das begreifen wirst, ist es noch ein gutes Stück Arbeit. Allerdings eine Arbeit, die heute Nacht für dich beginnen kann, wenn du möchtest - reicht dir das als Begründung für meine Anwesenheit in deinem Traum?“

Das Krokodil rieb seine Pranken aneinander und warf Mingus einen erwartungsvollen Blick zu. Mingus tat, was er am besten konnte und grübelte über die Worte des Krokodils in Ruhe nach. Wie zuverlässig konnten die Aussagen eines furzenden Krokodils schon sein? überlegte er argwöhnisch.

„Heute ist die Nacht, in der du eine spannende Reise beginnen kannst, wenn du tatsächlich bereit dafür bist. Es hängt nur davon ab, wie viel du wirklich über das Leben wissen möchtest.“

Das war leicht zu beantworten.

„Alles“, erwiderte Mingus ohne zu zögern.

Das Krokodil wiegte sachte seinen verbeulten Kopf von Seite zu Seite.

„Na schön, ich sollte ehrlich zu dir sein. Überlege es dir gut, worauf du dich da einlässt! Das wird nämlich kein Spaziergang, Mingus. Das Unternehmen ist auch nicht ganz ungefährlich. Du bist im Körper eines Kindes. Dieser Weg wird dich mit Angst und Verwirrung konfrontieren, mit Schmerz, mit Verlorenheit, mit harten Zeiten und schwierigen Herausforderungen, mit Verlusten und Isolationsgefühlen. Dies alles könnte dich überfordern.“

Das Krokodil hielt inne.

„Andererseits könntest du auch daran wachsen. Je mehr du erfährst, desto mehr wird dieses Wissen dich von Ängsten befreien, aber dich auch von anderen Menschen trennen. Die eifrigsten Schüler bekommen die schwierigsten Aufgaben, sagt man, aber ob das immer so eine Gunst ist? Ich will, dass du weißt, was dich erwartet und du keine leichtfertige Entscheidung triffst. Denn es ist ein relativ einsamer Weg durch einen unbekannten Dschungel“, gab das Krokodil zu bedenken.

Mingus bemerkte den besorgten Tonfall des Krokodils.

„Aber ich habe doch so viele quälende Fragen in mir, die mich in den Wahnsinn treiben und wenn du Antworten darauf hast, dann ist das meine einzige Chance. Was habe ich denn sonst für eine Alternative? Niemand, den ich kenne, weiß etwas über diese Dinge.“

Das Krokodil nickte bedächtig. Es wirkte trotz seiner Sorge insgeheim erfreut.

„Du hältst dich also an deine Vereinbarung und bestätigst deinen Lebensentwurf?"

Es wartete erst gar keine Antwort ab.

„Wunderbar! Ich bin froh, dass ich nicht umsonst gekommen bin. Es hätte ja sein können, dass du es dir in der Zwischenzeit anders überlegt hast.“

„Heh? Meinen Entwurf?“, wiederholte Mingus verwirrt.

„Was soll das denn sein?"

Er setzte die Maske ab, um besser zuhören zu können. Außerdem wurde ihm unter dem Gummi allmählich heiß. Vom Krokodil schien momentan keine Gefahr auszugehen.

„Ausgezeichnet, ausgezeichnet! Schon sind wir mittendrin!“, rief das Krokodil zufrieden aus. Flink sprang es auf und ließ sich neben Mingus nieder.

„Ich werde dir heute Nacht eines der ersten Geheimnisse des Lebens verraten. Es ist im Übrigen nur deshalb ein Geheimnis, weil du dich nicht mehr daran erinnern kannst, nicht weil es geheim ist. Aber eben dies ist meine Aufgabe, dir zu helfen, dich zu erinnern und zwar an alles. Aber fangen wir am Anfang an.“

Das Reptil räusperte sich ausgiebig. Dann legte es los.

„Also, alle Menschen in dieser Welt haben eine besondere Aufgabe vor sich. Sie liegt darin, herauszufinden, wer sie in Wirklichkeit sind. Oder vielmehr was. Denn sie sind sehr viel mehr als sie ahnen. Diese Suche nach ihrem wahren Wesen gilt für jede einzelne ihrer zahllosen Existenzen, die sie hier verbringen.“

Mit einem Seitenblick auf Mingus sagte es:

„Du hast schon tausende von Leben hinter dir und noch Millionen von Leben vor dir, genau wie die anderen auch. Mal warst du einer von den Guten, mal warst du einer von den sogenannten Bösen. Du hast andere getötet und du wurdest getötet. Ganz so wie jeder der anderen um dich ebenfalls. Das macht euch alle gleich.“

Mingus dachte spontan an den Zyklus des Baums und seine Augen glänzten.

„Also, das ist es, nicht wahr? Wir leben nicht nur einmal? Wir verwandeln uns in einem Kreislauf wie ein Baum auch?“

„Die Natur der Welt, in der du lebst, und alles in ihr unterliegt einem perfektem Kreislaufsystem von Werden und Vergehen, wie du bereits ganz richtig spekuliert hast. Warum sollte ausgerechnet der Mensch als einziger Bestandteil davon ausgenommen sein? Das ist es, was du gespürt hast, als du damals vor jenem Baum standest. Nur hattest du keine Worte, um es so zu formulieren."

Mingus nickte heftig und hing an jedem Wort des Krokodils, welches ihm mehr und mehr zu gefallen begann.

„Im Übrigen gibt es etliche Berichte und Untersuchungen zu diesem Thema. Ich werde in den nächsten Jahren deiner Grundausbildung dafür sorgen, dass sie dich zur richtigen Zeit finden. Du wirst sie später lesen und sie werden dir helfen, dich tiefer auf diesen Gedanken einzulassen. Am Bedeutsamsten jedoch bleiben immer deine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen mit diesem Körper, um das, was ich dir mitteile, zu prüfen. Das ist generell für jeglichen Erkenntnisprozess in jedem deiner Leben von Gültigkeit.“

Mingus sperrte die Ohren auf. Jahre? Grundausbildung? Jedem Leben? Dieser Körper? Das Krokodil redete mit einer Selbstverständlichkeit über Dinge, die sonst kaum jemand, den Mingus kannte, zur Sprache brachte. Alles klang so neu und trotzdem uralt und vertraut. "Entschuldige, könntest du mir bitte kurz ein Taschentuch träumen?“, bat das Krokodil. „Mir läuft die Nase." Ohne mit der Wimper zu zucken, griff Mingus direkt in den leeren Raum neben sich, wo sogleich ein Taschentuch erschien, und reichte es dem Krokodil. Das Krokodil schmunzelte. Nachdem es sich geschneuzt hatte, bedankte es sich höflich und sprach weiter. „Jedes einzelne gelebte Leben dient einer bestimmten übergeordneten Zielsetzung und geht einher mit einem besonderen Auftrag, den sich jeder Mensch selbst gestellt hat - in Absprache mit allen anderen natürlich. Dieser Plan für ein Leben ist das, was ich mit ´Entwurf` meinte. Ein Lebensentwurf ist eine Regelung mit dem ´großen Ganzen`. Als würde ein Farbklecks auf einem Gemälde mit dem Rest des Bildes seine Einbettung in das Werk absprechen, um es damit zu vervollständigen.“ „Dem großen Ganzen?", krächzte Mingus heiser vor Aufregung. Das Krokodil nickte. „Mit ´das große Ganze` ist die Einheit gemeint, die dem Leben zugrunde liegt. Alles ist eins. Ein einziges enormes Feld voller Möglichkeiten, aus dem alles hervorgeht und worin es eingespeichert und zeitlebens eingebunden bleibt. Es ist die ursprüngliche Quelle, die Seele des Lebens. Die Kraft, der alles Seiende entspringt und zu der alles, was lebt, zurückkehrt - mit mehr Wissen, mehr Erfahrung, mehr Bewusstsein. Möglichkeiten werden darin ausgelebt und führen zu neuen Ideen für zahllose weitere, noch unausgelebte Optionen. Nenne es, wie du willst. Ich nenne es das ´das große Ganze` oder einfach das Leben. Andere nennen es Gott. Aber das ist kein neutraler Begriff, deshalb lassen wir ihn lieber weg." Verschmitzt flüsternd beugte sich das Krokodil zu Mingus: „Auch wenn es sich letztlich genau um ihn dreht. Der Name spielt keine Rolle, von mir aus kannst du das Leben auch Hugo oder Stuart nennen, wenn dir danach ist.“ Das Krokodil gab ein leises Lachen von sich. Dann strich es sich gedankenverloren übers Maul. „In diesem gigantischen Bettlaken von einem Multiversum, von welchem die Erde vielleicht als ein Trillionstel eines Nanomillimeters gelten könnte und du selbst nur eine von sieben Milliarden Sub-Einheiten auf der Benutzeroberfläche dieses extrem winzigen Bruchteils an in unendlichem Raum schwebender Materie bist - und wo man bei diesen Größenordnungen schon mal den Überblick verlieren kann - verfügt dennoch jeder Einzelne über eine besondere Aufgabe, die er zu erfüllen wünscht", sprach das Krokodil. Es blickte Mingus tief in die Augen. „Was glotzt du mich denn so an?“, fragte Mingus. „Na, ist das nicht phänomenal, dass trotz dieser Größenverhältnisse noch das winzigste Teilchen eine Funktion und Aufgabe besitzt?! Es ist wie bei einem Computerbild, das sich aus unzähligen, einzelnen Pixeln zusammensetzt. So fügt sich auch das Gewebe des Lebens aus unzähligen, einzelnen Existenzen zusammen. Und erst die Summe aller Teile ergibt dann das große Ganze.“ Das war schon ganz schön imposant, fand Mingus. Sein eigener Traum verlangte ihm allmählich einiges ab. Dabei war das erst der Anfang vom Anfang, denn das Krokodil war noch lange nicht mit ihm fertig. „Jeder Mensch besitzt ein einzigartiges Talent, das er mitbringt. Eine Begabung, die niemand auf der Welt auf dieselbe Weise zum Ausdruck bringt wie er. Dieses Talent auszuleben, ist Teil seines Lebensplans. Du musst bloß herausfinden, was du liebst und besonders gut kannst, besser als alles andere, dann weißt du, worin deine einzigartige Begabung besteht. Lebe sie aus, entwickele sie! Sie ist sozusagen dein kreativer Anteil am Gesamtkunstwerk. Dein höchstes Potenzial. Manchmal sind es auch mehrere Begabungen. Wichtig ist, sie zu erkennen und zu fördern, um dein ureigenes Selbst damit lebendig werden zu lassen, weil du nur dann und gerade dadurch, auch anderen etwas Echtes zu geben hast.“ „Und wenn ich jetzt ein besonders begabter Massenmörder wäre?“, hakte Mingus trocken nach. Die Frage war nicht unberechtigt. „Dann würde ich dir empfehlen, Dexter anzusehen, eine tolle Serie! Kommt in ein paar Jahren ins Fernsehen.“ „Du schaust fern?“ „Nein, ich schaue Serien – die richtig guten. Natürlich nur in Originalversion, da bin ich Purist.“ „Aha.“ „Können wir weitermachen oder möchtest du noch mehr über meine Hobbys wissen? Nein? Gut! Also, es ist eine Win-Win Situation für alle Beteiligten und kein Egoismus, wenn du deinen Talenten folgst, verstanden?! Suche das Beste in Dir. Es ist dein Geschenk zurück an das Leben und an die Welt. Indem jeder Mensch seine besondere Fähigkeit zum Ausdruck bringt, dient er sich selbst und anderen am meisten und erfüllt ganz nebenbei damit seinen geplanten Lebensentwurf. Völlig frei von irgendeinem Leistungsdruck! Es geht darum Freude am Leben zu haben durch das, was man tut. Das sorgt für zufriedene, glückliche Menschen. Und zufriedene, glückliche Menschen fügen weder sich noch ihrer Umwelt Schaden zu. Das vollbringen nur die Unzufriedenen, Unglücklichen, die mit sich und dem Leben im Argen liegen. Womit wir wieder bei deinen Massenmördern angelangt wären." Mingus hörte aufmerksam zu. Es klang soweit ganz vernünftig. Das Krokodil lächelte. „Damit will ich dir sagen, dass du nicht nur jedes Recht der Welt hast, genau der zu sein, der du bist, sondern gerade dadurch deinen ureigensten Verpflichtungen gegenüber dem Leben nachkommst. Wenn jeder Mensch er selbst ist, dann ist er echt und was er zu geben hat, ist nicht nur eine leere Geste. Wenn jeder sein höchstes Potenzial an Begabung und Fähigkeiten verwirklicht, ist allen damit gedient. Niemand muss an sich selbst vorbeileben, um zu überleben. Denn ein Leben zu führen, das deinem Wesen überhaupt nicht entspricht, dir deine Lebenskraft und Freude nimmt, ist kein Leben. Es ist eher ein Krankheit.“ Das leuchtete Mingus ein. „Eine Gemeinschaft von deprimierten Wesen, die wie Automaten sinnentleerten Handlungen nachgehen, zu denen sie sich verpflichtet oder durch die Umstände gezwungen fühlen, ist eine Gemeinschaft von … von Zombies! Wozu soll das gut sein? Wenn es im Leben um nichts als den Lebensunterhalt, Pflichterfüllung, Leistung, Nachwuchszeugung, Absicherung und den Besitz irgendwelcher Dinge ginge, die ohnehin keiner von euch mitnehmen kann, wenn er von hier fortgeht, dann würden anstelle von Babys gleich Automaten geboren werden, die könnten all dies wesentlich wirkungsvoller erledigen. Wozu sollte das Leben Wesen kreieren mit eigenem Gehirn, mit Gefühlen, Begabungen, Leidenschaften, Sehnsüchten und der Fähigkeit, zu träumen und Neues zu erschaffen? Das wären überflüssige Zusatzfunktionen, für die eine allein auf Leistung ausgerichtete Menschheit im Grunde doch gar keinen Bedarf hätte. Dieser überflüssige Kram würde den Ablauf der Leistungsprozesse mehr stören als fördern.“ Mingus dachte über das Wort Leistungsprozesse nach. Ganz schön viele schwierige Wörter sausten da durch seinen Traum. Das Krokodil holte Atem und fuhr fort. „Gerade jene menschlichen Eigenschaften stellen aber den Schlüssel zum Leben dar. Einem tief empfundenen, bewusst gestalteten Leben mit allen Höhen und Tiefen, die zum Anwachsen des Erfahrungsschatzes führen, den das Universum in seiner Truhe hütet. Das Leben ist ganz anders gedacht, als es in deiner gegenwärtigen Lebenszeit noch gelebt wird. Nur Wahrhaftiges hat auf Dauer Bestand im Leben. Wie wahr dieser Satz ist, wirst du verstehen, wenn dir mal viel Unwahrhaftiges, also alles ohne echtes Fundament, zwischen den Fingern zerbröckelt ist. Das, wonach dein Inneres sich brennend sehnt, was dich beschwingt und mit Freude erfüllt, ist das wonach du streben solltest.“ Je länger das Krokodil redete, desto mehr verwandelte es sich in jemanden, der redete wie ein Buch. „Weißt du, was den wesentlichen Kern von Lebensenergie ausmacht? Nein? Es ist eben diese unbändige Freude an der eigenen Expansion. Leben will leben aus Freude am Lebendigsein. Es sucht sich verschiedene Arten von Ausdrucksformen, immer und immer wieder, um sich selbst zu erkunden in seiner Vielfältigkeit. Wahres Leben tut nicht weh. Es tut gut. Es ist wichtig, dass du das verinnerlichst", betonte das Krokdodil. „Manchmal mag der Weg, bis es guttut zwar ein bisschen sehr steinig sein, aber was die Krisen unterwegs deinem Wesen wiederum an Wachstum bringen, wirst du in vollem Ausmaß spätestens dann begreifen, wenn du die menschliche Perspektive aufgegeben hast.“ Das Krokodil fuhr sich mit der flachen Pranke am Hals entlang. Oder zumindest an jenem Teil, den es noch am ehesten für seinen Hals hielt. Es war mit seiner Anatomie offenbar nicht so recht vertraut. Um sicherzugehen, dass Mingus ihn verstanden hatte, ließ es sich mit einem Röcheln zu Boden fallen, bäumte sich kurz theatralisch auf und blieb dann totenstill liegen. Mingus besah sich das Spektakel mit stoischem Blick. „Schon klar, wir kapieren beim Krepieren“, sagte er. Das Krokodil kicherte. „Treffender hätte ich es selbst nicht formulieren können. Vielleicht sollten wir die Rollen tauschen?“ Mingus gab keine Antwort. Die Welt und das Leben in ihr schienen ein erstrebenswerter Ort zu sein, wenn man sie mit den Augen des Krokodils betrachtete. Er mochte das. Nachdenklich saß er auf seinem Stein. Er begriff, was ihm das Krokodil zu sagen versuchte. Es waren nicht allein die Worte, die zu ihm vordrangen. Es gab in den Worten etwas, das in seinem Inneren auf einen Widerhall traf. Es war nichts Neues, sondern etwas sehr Altes, das das Gesagte in ihm wachrief. Die Worte des Krokodils drangen ungehindert in seine Seele ein und keinerlei Widerstand hielt sie auf ihrem Weg dorthin auf. Im Gegenteil, sein Inneres hob sich ihnen wie von selbst entgegen, empfing sie wie etwas Vertrautes. Er hatte den Eindruck, er könne plötzlich tiefer und freier atmen als je zuvor. Als hätte jemand einen verklebten Teil seiner Lungen aufgestochen. Er wusste es noch nicht, doch eben dieses spezielle Gefühl würde ihn sein Leben lang begleiten und ihm als emotionaler Detektor dabei helfen, Wahrheit von Täuschung, inklusive Selbsttäuschung, unterscheiden zu lernen. Er sann darüber nach, was wohl sein eigenes, einzigartiges Talent sein konnte? Doch er fand keine Antwort. „Ich glaube, ich bin noch zu klein, um zu wissen, was meine Begabungen sind“, seufzte er auf. Das Krokodil legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Was war daran so witzig?, dachte Mingus irritiert. „Es ist ungemein witzig", beantwortete sein Besucher Mingus` unausgesprochene Frage, der sich ihm verdutzt zugewandt hatte. Das Krokodil winkte lässig ab. „Natürlich kenne ich deine Gedanken. Wie sollte ich nicht? Ich bin schließlich selbst Teil davon. Du träumst mich doch, hm?! Und um auf die Frage nach deiner ganz persönlichen, besonderen Begabung zurückzukommen – ist die nicht offensichtlich?" Mit amüsiertem Blick machte das Krokodil eine ausladende Bewegung in den leeren Raum hinein. Mingus runzelte die Stirn. „Hm, doch nicht so schlau wie ich dachte", sagte das Krokodil und setzte sich auf. „Deine Neugier aufs Leben ist dein Motor! Du willst wissen, wie seine Gesetzmäßigkeiten funktionieren“, rief es und schlug die Pranken zusammen, als hätte es der Welt größten Trottel vor sich. Fragend sah Mingus zu ihm auf. „Das soll mein höchstes Potenzial sein? Und was soll ich damit bitte in der Welt anfangen? Das ist doch keine Begabung. Und erst recht kein Beruf?!“ Das Krokodil verdrehte die Augen. „Es ist viel mehr als das. Es ist eine Berufung. Was du damit in der Welt anfangen wirst, liegt ganz bei dir.“ „Hm.“ Mingus` Begeisterung hielt sich in Grenzen. Er zog die Nase kraus. Es klang nicht so, als ob man damit viel Geld verdienen würde. Dabei mochte er Geld sehr. Nicht primär, um es zu besitzen oder Dinge damit zu kaufen, sondern weil er verstanden hatte, dass Geldhaben echte Freiheit bedeutete. Man konnte damit die Sachen erleben, die man gern erleben wollte. Er hatte allerdings auch beobachtet, dass es Leute gab, die nicht ihr Geld besaßen, sondern das Geld besaß sie. Sie hatten ihre Träume aufgegeben und lebten nur noch dafür, ihren Besitz zu behalten und zu vermehren. Das war natürlich nicht so frei und musste um jeden Preis vermieden werden, hatte MIngus für sich entschieden. „So ist das Leben auch gemeint - genieße seine Schönheiten, aber verkaufe nicht deine Seele dafür", kommentierte das Krokodil erneut Mingus` stille Gedanken. „Mach dir keine Sorgen, dass du kein Geld haben wirst, wenn du deiner Berufung folgst. Das Problem existiert in Wahrheit nur in deinem Kopf. Wenn du kein Geld hast, dann weil du die Dynamik dahinter noch nicht richtig verstanden hast und bis dahin mag es Phasen geben, in denen du dich vom Geldfluss abgeschnitten fühlst. Oder du hast gerade andere Prioritäten im Leben, die du verfolgst. Du kannst immer haben, was du brauchst. Und so viel davon, wie du zu empfangen bereit bist. Das Leben folgt seiner eigenen Weisheit und will für dich sorgen, wenn du es lässt. Im Gegenzug gibst du ihm dafür, das Beste von dir zurück, was du zu bieten hast.“ „Und dieses Beste in mir, was zum Teufel soll das sein?“, hakte Mingus ungeduldig nach. Das Krokodil gab einen leisen Seufzer von sich. „Herrje, findest du gar nichts Außergewöhnliches daran, in einem Traum auf ein Krokodil zu treffen und dabei ein in sich logisches Gespräch zu führen?! Statt von chaotischen, abgebrochenen Traumfetzen zu träumen, die völlig zusammenhangslos erscheinen und sich wahllos aneinanderreihen, wie gewöhnliche Träume eben häufig so ablaufen? Und dies alles in vollem Bewusstsein darüber, dass du eigentlich gerade schläfst und dich in deinem eigenen Traum befindest?“ Das Krokodil starrte ihn herausfordernd an. „Ich habe zwar nichts anderes von dir erwartet, aber hast du nicht auch den Verdacht, dass mit dir etwas Fundamentales nicht stimmt? An deiner Stelle ginge ich mal zum Neurologen!" „Im Ernst, bin ich etwa krank?“, fragte Mingus erschrocken. „Borderline-wahnsinnig befürchte ich“, lachte das Reptil und amüsierte sich köstlich. Dann wurde es ernst. „Nein, natürlich nicht. Du bist nur nicht normal, was auch immer das heißen mag. Also pass auf, wenn du in der Lage bist, dein Bewusstsein im Traum so stark aufrecht zu erhalten, wie du es gerade tust, sodass du den Traum nicht mehr unbewusst, sondern bewusst erschaffst, ist das ein ganz entscheidender Unterschied! Es ist ein Übergang zu einer neuen Bewusstseinsstufe." Es warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Es bedeutet, dass du fähig bist, die Schleier zwischen den Welten zu teilen. Damit stehst du auf der Schwelle zwischen beiden Welten: der sichtbaren und der unsichtbaren, derjenigen der Körper und Formen und derjenigen aus Energie und Gedanken. Du bist in der Lage, diesen Vorhang zwischen den verschiedenen Daseinsebenen zu lüften, der ansonsten die eine Ebene vor der anderen verbirgt. Diese Fähigkeit zu besitzen bedeutet, dass das Bewusstsein eine bestimmte innere Barriere überwunden hat. Es begibt sich auf die Suche nach der nächsten Stufe. Diesen Zustand nennt man l u z i d e oder auch erwachten Zustand beziehungsweise den ´zweiten Zustand`.“ „Ich bin wach, obwohl ich schlafe?“, forschte Mingus nach. Das Krokodil nickte. „Dein Bewusstsein ist nun nicht mehr länger nur auf der ersten Ebene, der des Wachzustands im physischen Leben, sondern auch im Schlaf voll aktiv und ´wach`. Das heißt, dein Bewusstsein ist sich seiner selbst auch auf der Ebene des Schlafes bewusst darüber, dass es sich in einer Schlafphase befindet. Es driftet nicht ab ins Unbewusste. Das ist ein Durchbruch und eine Erweiterung deines Lebens um eine zusätzliche Dimension, mein Lieber. Definitiv ein Schritt in ein größeres, umfassenderes Leben. Dein Bewusstsein operiert nun auf zwei und nicht mehr nur auf einer Ebene. Verstehst du das?“, fragte das Krokodil mit durchdringendem Blick. „Mhm“, murmelte Mingus unbehaglich. Der Traum verkomplizierte die Dinge zunehmend. Kein Geld, dafür Schleier und zusätzliche Wachebenen. Großartig, exakt was er sich zum Geburtstag gewünscht hatte, grummelte er ungnädig. Das hatte er mit Sicherheit nicht bestellt! Entwurf hin oder her. „Wer sagte, es würde einfach? Ich habe dich gewarnt.“ Das Krokodil verschränkte die Pranken hinter dem Kopf und schloss für einen Moment entspannt seine Glupschaugen. Für Mingus stand jetzt endgültig fest, dass Gedanken in diesem, wie auch immer genannten Zustand, so transparent waren wie weiße Kleider nach einem Regenguss. Er fügte sich in sein Schicksal, in mentaler Nacktheit vor dem Krokodil zu sitzen. Immerhin erhielt er im Austausch dafür ganz erstaunliche Erklärungen auf dringlichste Fragen. Das Krokodil beendete seine Entspannungsübung und öffnete wieder die Augen. „Gut, kommen wir zu einem weiteren Geheimnis des Lebens. Damit du deine Lektion über den luziden Zustand und deine besondere Begabung besser verstehen kannst. Versuche dich zu erinnern“, bat es. „Ich weiß, es ist nicht leicht, aber du hast es selbst so früh für dich geplant. Ich erfülle dir nur deinen Wunsch." „Dabei siehst du gar nicht aus wie Aladin?! Kein Turban, keine Wunderlampe und ich bezweifle auch, dass du in eine hineinpassen würdest. Hast du das falsche Kostüm erwischt oder was war los?“, spottete Mingus. Das Krokodil grunzte gutmütig, ging jedoch nicht weiter darauf ein. „Nun denn! Jede Lebensform hat zwei Körper. Im Grunde steckt mehr dahinter als nur das, aber belassen wir es fürs Erste bei dieser vereinfachten Unterteilung in einen sichtbaren Körper aus Materie und einen unsichtbaren Körper aus Energie. Der unsichtbare Körper ist ein feinstoffliches Energiefeld und das optische Abbild des sichtbaren, materiellen Körpers – sozusagen die durchsichtigere Variante davon. Da Materie nichts anderes ist als Energie in verdichteter Form, hinkt diese Unterscheidung etwas, weil letzten Endes somit auch der materielle Körper aus nichts anderem als Energie besteht. Die Vereinfachung hierbei hilft uns im Augenblick aber, das Sichtbare und das Unsichtbare voneinander abzugrenzen. Die Welt der materiellen Formen ist das Sichtbare, die Welt der rein energetischen Formen bildet die für das bloße Auge meistens unsichtbare Seite der Dinge. Soweit verständlich?", unterbrach sich das Krokodil. Mingus bejahte die Frage und es fuhr fort. „Der Unterschied zwischen den beiden Welten liegt darin, dass sie andere Schwingungsfrequenzen aufweisen. Trotzdem durchdringen sie sich gegenseitig. Der unsichtbare Energiekörper besteht aus einem winzigen, konzentrierten Kern in der Nähe des Herzens und den sich von dort ausbreitenden, immer feiner werdenden energetischen Schichten. Eine silberne Schnur verbindet den unsichtbaren Energiekörper mit dem sichtbaren Materiekörper. Doch diese Dinge ändern sich an deinem Punkt der Zeitachse gerade erheblich, sodass Schnur und auch die Energiezentren, die man in Indien Chakren nennt, sich wandeln, weil die Welt im Begriff ist, eine zusätzliche Dimension zu integrieren. Dinge, die früher einen Zweck und eine Funktion hatten, haben sich überholt. Sie sind überflüssig geworden in der neu entstehenden Ordnung und lösen sich auf, um etwas Neues aufzubauen.“ „Das klingt irgendwie spannend“, fiel Mingus ihm ins Wort. „Oh, das ist es! Das ist es. Nun denn - der Energiekörper ist zuerst vorhanden. Er entstammt dem großen Ganzen, dem Feld aller Möglichkeiten, und bildet die energetische Schablone für die Ausformung des materiellen Körpers. Dies geschieht, indem sich das energetische Feld mehr und mehr zusammenzieht und verdichtet, bis sich die materielle Form darin bildet. Als würden die gasförmigen Wasserstoffatome in der Luft eines Raums sich mehr und mehr an einem bestimmten Punkt sammeln, sich verflüssigen und die Form eines Tropfens annehmen. Oder diesen Tropfen über noch mehr Verdichtung zu Eis gefrieren lassen. Plato hatte Recht: erst existiert die Idee, dann die Form." Die Augen des Krokodils glänzten, während es sprach. Wer war dieser komische Plato, von dem es geredet hatte?, wunderte sich Mingus. Er kannte nur Pluto, den Hund von Goofy. Doch diesen hatte das Krokodil sicherlich nicht gemeint. „Das große Feld aller Möglichkeiten im Universum, von welchem der Energiekörper ein Teil ist und an welches er permanent angebunden bleibt, umgibt den Materiekörper für immer. Da es ihn aus sich selbst heraus erschaffen hat, umhüllt es ihn auch weiterhin. Dieses große Energiefeld aller Möglichkeiten trägt sämtliche physischen Körper und Formen in sich eingebettet. Du kannst dir das vorstellen wie die Bildung von Pickeln aus dem großen Gewebe deiner Haut: Die Pickel werden zu einer eigenständigen Einheit, die sich aus dem Hautgewebe materialisieren, aber gleichzeitig immer mit dem Rest des Hautgewebes verbunden sind, aus dem sie einst hervorgingen.“ Mingus gab ein unbeabsichtigtes Kichern von sich. Sich die Planeten und Menschen als Pickel auf der Haut des Universums vorzustellen, fiel ihm leicht. Das Krokodil gefiel ihm zunehmend besser. „Der Energiekörper ist nicht für alle Wesen unsichtbar. Für den überwiegenden Teil der Menschen ist er allerdings nicht auf Anhieb zu sehen. Zumindest noch nicht. Deshalb nenne ich ihn den „unsichtbaren“ Körper. Er besteht aus Farben, Vibrationen und Tönen in einer jeweils einzigartigen Ausprägung, sodass kein energetischer Körper dem anderen gleicht.“ „Du meinst wie bei den Schneeflocken? Kein Muster wiederholt sich?“, fragte Mingus stolz darauf, eine Parallele entdeckt zu haben. Das Krokodil nickte beifällig. Mingus kaute auf seiner Unterlippe. So faszinierend dies alles war, es waren eine Menge Informationen, die da auf ihn einprasselten. Doch das Krokodil ließ sich nicht beirren und Mingus war zu neugierig, um es zu stoppen. „Nun kommt der beste Teil!", rief das Krokodil strahlend. „Der sichtbare Körper aus Materie löst sich irgendwann auf, zerfällt in ständig kleinere Teile, bis er wieder zu Staub, Molekül, Atom, Quanten - also reine Energie, Information und Schwingung wird. Der feste Körper zerfällt wieder in seine Ursprungsform und kehrt zurück zu dem, was sein unsichtbares Pendant auch ist: Energie. Die ehemals festen Formen aus Materie verschmelzen also wieder mit dem großen Ganzen, dem reinen Energiefeld aller Möglichkeiten, aus dem sie hervorgegangen sind. Der Tod des sichtbaren Körpers ist wie der Tod eines Eiswürfels, der stirbt, indem er in einem Wasserglas schmilzt. So stirbt der Materiekörper zurück in seinen unsichtbaren Energiekörper, von dem er zeitlebens umgeben bleibt und der sich in das Energiefeld des Universums hinaus erstreckt.“ Das Krokodil strahlte stolz. Es war begeistert von diesen Vorgängen, wie es schien. Auch Mingus zeigte sich beeindruckt. „Dann sollte es gar nicht ´Asche zu Asche, Staub zu Staub` heißen, sondern ´Energie zu Energie`?“, überlegt er laut. „Es wäre zumindest eine sinnvolle Ergänzung, warum nicht?!“, lachte das Krokodil, bevor es weitersprach. „Der Tod ist nicht mehr, als ein energetischer Wechsel. Da der unsichtbare Körper ausschließlich aus Energie besteht, ist er im Kern unzerstörbar. Energie kann nicht sterben. Laut Energieerhaltungssatz ist sie stets in gleichbleibender Gesamtmenge vorhanden. Sie kann nicht verloren gehen, sondern sich nur von einer Energieform in eine andere umwandeln. Tatsächlich gibt es einen Energiestrom, der durch mehr als dieses Universum fließt, sodass die Energie durch das System eines Multiversums anstelle eines einzigen Universums zirkuliert. Das Multiversum bildet das isolierte System, auf welches sich die Erhaltungsgröße bezieht. Es ist also ein wirklich enormer Energiekreislauf, um den es hier geht. Das ist auch der Grund dafür, dass das Universum sich in seiner Expansion beschleunigt, statt zu entschleunigen. Aber darüber reden wir vielleicht ein anderes Mal. Ich befürchte, ich habe mich eben etwas zu sehr mitreißen lassen und dir mehr zugemutet, als du begreifen kannst. Entschuldige, bitte!“ Mingus saß gespannt auf seinem Platz. Das war alles ganz, … ganz außerordentlich! Das Krokodil schmunzelte. „Allerdings ist es das! Und es kommt noch besser: Alle Erfahrungen, Gedanken, Gefühle, Taten, Lernprozesse, die in der sichtbaren, menschlichen Form gemacht werden, sind energetische Freisetzungen, die ebenfalls zurückfließen in das große Energiefeld. Leben und Sterben in menschlicher Form ist, wie ein Glas Wasser aus dem Meer zu schöpfen und es auf eine Reise zu schicken, um es an anderer Stelle wieder ins Meer zurückzuschütten. Angereichert mit allen neuen Substanzen, also Erfahrungen und Einblicken, denen es unterwegs ausgesetzt war, begreifst du? Nichts, gar nichts an Energie oder Information geht jemals verloren. Das große Energiefeld trägt alle Informationen und alles Bewusstsein in sich. Für immer.“ Mingus gefiel die Vorstellung. Und sie passte überdies zu der Sache mit dem Baum. Sein neuer Freund griff seinen Gedanken sogleich auf. „Wie du bemerkt hast, liebt die Natur Kreislaufsysteme, daher ist dieser gesamte Entstehungs- und Zerfallsvorgang fester Materieformen beliebig oft wiederholbar. Es gibt deswegen unzählige von Lebensentwürfen, die aufeinanderfolgen und an ein und demselben Ort oder an verschiedenen Orten stattfinden. Denn es gibt viele weitere, ganz unterschiedliche Lebensformen an anderen Orten außerhalb der Erde und zwar sowohl in körperlicher als auch in rein mentaler Form. Da draußen gibt es zahlreiche, dir noch unbekannte Welten und Universen mit weit mehr als nur drei Dimensionen.“ Mingus sperrte die Ohren auf. „Leben will leben und sucht sich Ausdrucksformen, um sich selbst immer wieder neu zu erfinden und neu zu entdecken. Die Möglichkeiten dazu sind unbegrenzt und es gibt stets eine weitere, noch nicht ausprobierte Möglichkeit, die ausgelebt werden will. Egal, zu welchem Zeitpunkt, es gibt immer noch eine weitere, neue Option. Und noch eine. Und noch eine. Es ist nicht ganz so stupide, wie es sich anhören mag. Es ist ein ausgesprochen kreativer, aufregender Prozess und es gibt noch einiges mehr dazu zu sagen, aber ich wollte es zunächst bei einem kleinen Überblick belassen." Das Krokodil gähnte herzhaft und reckte sich. Einen k l e i n e n Überblick? Mingus sprang aufgeregt vom Stein auf. „D-d-das i-ist ... ", stotterte er. „… phänomenal?", eilte ihm das Krokodil zu Hilfe. Mingus nickte heftig und ließ sich wieder auf den Stein fallen. Das Krokodil hatte von mehreren Universen und Dimensionen gesprochen. Mehr als ein unendliches Universum existierte also. Wie er da jemals drüber wegkommen sollte, war ihm ein Rätsel. Das eine unendliche Universum überforderte ihn schon. Ihm wurde ein kleines Bisschen schwindlig. Das Krokodil packte ihn unerwartet an den Schultern. „Fassen wir also zusammen: Die Energiekörper aller Menschen, sogar aller Lebewesen und auch Gegenstände, sind zu jedem Zeitpunkt miteinander verbunden. Sie sind alle eingewebt in dasselbe riesige Laken aus Energie. Dieses Feld an Lebensenergie besitzt ein erschaffendes Bewusstsein, das eine Welt fester Formen aus sich hervorbringt, um sich selbst darin zu spiegeln und auszuprobieren. Wie ein Netz ziehen sich Energiefäden von einem Lebewesen zum anderen, aber auch zu allen Dingen, die sie umgeben. Alles was ist, entstammt demselben Urstoff, derselben Quelle und bleibt auch in scheinbar separater Form miteinander verbunden. Wie bei einem Webteppich, der aus derselben Wollte stammt, jedoch verschiedene Farbfäden, Muster und Motive besitzt. Und warum nicht den Teppich aufdröseln und mit seiner Wolle, neue, kreative Ideen zu Farbspiel und Musterung umsetzen?!“ Das Krokodil ließ Mingus wieder los. „So entfaltet das Leben in einem unaufhörlichen Zyklus seine unendliche Vielzahl an kreativen Möglichkeiten. Alte Formen, Gestalten und Muster machen Platz für neue, verbesserte Modelle. Ihr Aussterben ist kein Drama, sondern beabsichtigt. Die Lebensenergie ist permanent in Bewegung, weil es allzeit eine noch nicht manifestierte Idee gibt, die verwirklicht werden will. Aber nichts, was einmal existiert hat, geht tatsächlich komplett verloren! Alles ist aufgehoben in jenem einen, großen Bewusstsein, aus dem es sich ableitet und worin es sich wandelt. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede Tat und jede einzelne Existenz jeden Geschöpfs sind unauslöschlich darin eingebrannt. Energie wird zu Materie und Materie wieder zu Energie.“ „Wiederhole das doch nicht so oft, ich bin doch kein Idiot!“, beschwerte sich Mingus. „Und du bist dir da auch ganz sicher?“, grinste das Krokodil unverschämt. Mingus warf ihm einen mörderischen Blick zu. „Durch das Wiederholen zementieren wir das Fundament für unser nächstes Stockwerk in deinem neuen Gedankengebäude, auf das D U schließlich so scharf bist, wenn ich kurz daran erinnern dürfte.“ „Wieso sind Krokodile eigentlich immer so empfindlich?“, erwiderte Mingus mit betont unschuldiger Miene. „Immer? Wie viele kennst du denn, bitte?! Als ob deine Träume unter der Last einer Invasion ganzer Krokodilsarmeen zusammenzubrechen drohten!“, schnaubte das Krokodil mit gespielter Verachtung. „Na ja, es fühlt sich zwischendurch schon so an“, raunte Mingus kaum hörbar. „Du bist viel zu frech für dein Alter, hat dir das schon mal jemand gesagt!?“ „Andauernd“, seufzte Mingus. „Nun dann setze deine gute Arbeit fort!“, lachte das Krokodil. „So wie ich hier die meine: Der energetische Impuls eines Gedankens wird zu einer Form, geht durch diese Form hindurch und verlässt sie wieder, um sich als neuer Impuls in eine neue Form zu begeben. Und alles ist ein großes, wunderbares, in sich selbst ruhendes Spiel der Formen, das keine Zeit kennt, sich an sich selbst und seiner unerschöpflichen Lebendigkeit erfreut und sich mit jedem vollendeten Zyklus weiter aufschwingt - zu mehr Wissen, mehr Erfahrung, mehr Erleben und mehr Bewusstsein.“ „Das war es?“, fragte Mingus. „Das war es,“ antwortete das Krokodil und versetzte Mingus einen aufmunternden Klaps auf den Rücken, bevor es ihn sich selbst überließ. Das war auch nötig, denn Mingus hatte einiges zu verarbeiten. Er wartete still, bis der kleine Mann in seinem Kopf alle hereinstürmenden Neuigkeiten, hastig in entsprechende Schubladen einsortiert hatte. Das Problem war, die Schubladen waren zu schmal. Der kleine Mann riss sie wieder auf, leerte die zu großen Inhaltsbrocken auf den Boden und starrte ratlos darauf. Schließlich verstaute er das Gedankengut nach groben Kategorien und häufte den Rest zu kleineren Stapeln auf. Als die geistige Anspannung endlich nachließ, fühlte sich Mingus zwar etwas überwältigt, doch gleichzeitig auch wie elektrisiert. Obschon er den Ausführungen des Krokodils nicht vollständig folgen konnte - was für eine schöne Sicht auf das Leben! Da konnte man fast Lust bekommen, daran teilzunehmen. Und endlich, ENDLICH hatte er gefunden, wonach er sich mehr als alles andere förmlich verzehrt hatte: jemanden mit Antworten! Zugegeben, es war nur ein furzendes Krokodil und damit nicht gerade ein wahr gewordener Traum, aber irgendwie eben doch. Mingus war nicht mehr allein mit einem riesigen, unlösbaren Puzzle! Er hatte jemanden, der sein Wesen verstand und ihm das wahre Leben, das Konzept dahinter, zeigte. Er hatte einen Lehrer! Die Art von Lehrer, die er sich aus tiefstem Herzen gewünscht hatte. Einen, der ihn im Fach ´Leben und Sterben` unterrichtete. Ungeachtet der Tatsache, dass Herr Lehrer optisch und vor allem olfaktorisch nicht ganz seinen Erwartungen entsprach, pochte Mingus das Herz vor Aufregung, Freude und Erleichterung. Zu seiner Überraschung legte das Krokodil ihm eine Pranke auf den Kopf und strich ihm übers Haar. „Das Meiste kann ich dir erst später besser erklären. Wichtig ist vorerst, dass dir klar ist, dass die Dinge nicht so sind wie sie scheinen. Sowohl das Leben, das du führst, als auch dessen Realität sind sehr viel vielschichtiger als du bisher ahnst. Nach und nach werde ich dir die anderen Ebenen zeigen, die es umfasst. Man muss die Dinge selbst erleben, Schritt für Schritt, um die Vorgänge wirklich begreifen zu können." Es blinzelte ihm mit einem Auge zu. „Was sonst soll man mit ungeprüften Wahrheiten anderer Leute sonst anfangen, als sie auf die Probe zu stellen? Es geht nicht darum, mir zu glauben oder nicht zu glauben, sondern darum, dir dabei zu helfen, den Weg zu der Wahrheit zu finden, die du suchst. Hinterfrage mich, experimentiere mit den neuen Gedanken und übernimm nicht einfach das von mir Gesagte - oder das von jemand anderem. Übernimm auch nichts, nur weil es die Mehrheit für richtig hält, hörst du?! Die Mehrheit hat nicht automatisch recht, bloß weil sie in der Mehrheit ist. Denke an Kolumbus oder an Kepler.“ „Kenne ich nicht“, meinte Mingus. Das Krokodil zuckte mit der Schulter. „Benutze einfach deinen eigenen Verstand, deine eigenen Sinne, um die Welt und das Leben in ihr zu erkunden. Aus diesem Grund hat jeder sein eigenes Gehirn bekommen und muss sich nicht eines mit den anderen teilen. Versuch alle Türen in deinem Kopf weit offen zu halten“, empfahl ihm das Krokodil schlicht. Mingus blickte still vor sich hin. „Wenn das stimmt, was du sagst, dann bedeutet das doch, dass alles, was existiert, nicht wirklich sterben, nicht verloren gehen kann, weil es aus Energie besteht, die immer da ist. Dann gibt es nur das Leben und überhaupt keinen Tod?“, fragte er. „Alles ist e i n Sein und bleibt für immer ein Sein. Und es hat keinen Anfangs- und Endpunkt. Es ist zeitlos. Was für dich ein linearer Zeitablauf ist, geschieht in Wirklichkeit gleichzeitig, weil alles bereits in dem einen Sein aufgehoben ist. Leben bedeutet Bewegung, also verändert es sich ständig. Da es aber auch zeitlos ist, ruht es gleichzeitig in sich selbst“, erläuterte das Krokodil. Mingus dachte angestrengt nach. „Warum verschwinden auch die Gedanken und Gefühle nie daraus?“ „Alles, was ist, ist für immer. Was einmal da war, hinterlässt seinen Abdruck und bleibt gespeichert. Ein Gedanke oder ein Gefühl sind ebenso energetische Freisetzungen wie ein ganzes menschliches Leben. Gedanken und Gefühle entsprechen einem kleinen Energiefeld, das in das große Energiefeld integriert ist. Dort bleiben sie als Information abrufbar, während der Rest des Bewusstseins, das sie einmal gedacht oder gefühlt hat, sich wieder in eine neue Form begeben hat. Es gibt Menschen, die sensibel genug sind, solche Informationen abzurufen. Sie spüren, was an einem Ort vor vielen Jahren passiert ist oder eines Tages passieren wird. Oder kommunizieren mit Verstorbenen“, erklärte das Krokodil geduldig. „Gedanken sind mächtig, weil sie jedem Schöpfungsprozess in materieller Form vorausgehen. Sie reisen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit von einem Punkt zum anderen, weil sie sich bereits an jedem möglichen Punkt zugleich befinden. Falls du dir das nicht richtig vorstellen kannst, macht das nichts. Es ist schwer und auch den Quantenphysikern macht diese Erkenntnis Schwierigkeiten. Einstein glaubte, dass es nichts gäbe, was sich schneller bewege als Licht mit einer Geschwindigkeit von 1080 Millionen km/h. Allerdings besitzt Licht nicht immer und überall dieselbe Geschwindigkeit. Sie ist veränderlich. Andernorts.“ Mingus brummte der Schädel. Es strengte ihn an, diese außergewöhnlichen Einblicke zu verarbeiten. Wer war Einstein? War das nicht der schlaue Mann, der nie zum Friseur ging? Und gern seine Zunge zeigte, obwohl er nicht beim Arzt war? Mingus musste sich eingestehen, dass er genug für heute hatte. Seine Gehirnzellen stießen sicherlich bereits dicke Rauchschwaden aus. Es war ihm, als könne er den kleinen Mann in seinem Kopf husten hören. „Ich bin erst sieben! Ich bin nicht mehr aufnahmefähig!", rief er mit erhobenen Händen aus. „Ja schon. Andererseits bist du wie gesagt nicht ganz normal", erinnerte ihn das Krokodil unbeeindruckt. „Mit allen Vor- und Nachteilen, die so ein Status außerhalb der Norm mit sich bringt,“ setzte es hinzu. „Meine Festplatte ist voll“, antwortete Mingus und ließ seinen beladenen Kopf zwischen den Knien baumeln. Das Teil war viel zu schwer geworden, als dass er es noch länger aus eigener Kraft auf den Schultern hätte halten können. „Die höchste Beladekapazität dieses Transporters wurde überschritten. Achtung, Achtung! Ich wiederhole ...“, tönte es dumpf zwischen Mingus` Beinen hervor. „Sei doch froh, dass endlich etwas drin ist, Weichei“, brummte das Krokodil gutmütig. Mingus hob empört den Kopf. „Hast du mich gerade ein Weichei genannt?“ „Nö. Vergiss aber nicht, dass DU mich träumst. Du gestaltest diesen Traum und seinen Inhalt, nicht ich. Es ist dein Bewusstsein, das mich hierhergeführt hat. Und was im Traum gilt, das gilt im Übrigen auch im Wachzustand: Dein Bewusstsein, deine Sehnsüchte, deine Gedanken erschaffen sowohl deine Träume als auch dein Leben. Je bewusster du auf allen Ebenen bleibst, desto größer deine Fähigkeit, es zu gestalten und zu verändern. Die Traumebene ist dein Übungsfeld, weil sie eine reine Gedankenwelt ist, die nur über Energie funktioniert. Daher ist sie leichter und schneller veränderbar, weil die energetischen Impulse deines Denkens umgehender umgesetzt werden können. Energie reagiert und interagiert unmittelbarer mit Energie als mit Materie. Materie ist träger, dichter. Trotzdem gilt dasselbe Prinzip ebenso auf der Ebene der festen Formen. Du kannst alles erschaffen und verändern, auch feste Materie. Aufgrund ihrer Schwerfälligkeit dauert der Prozess nur länger. Also, überlege dir gut, woran du den ganzen Tag über so denkst … mit der nötigen Intensität dahinter, könnte es wahr werden!“ Mingus fiel plötzlich eine Postkarte ein, die er einmal in einem Souvenirladen in England betrachtet hatte. Sein Bruder Rhun musste sie ihm übersetzen - Mind over matter. If you don´t mind, it doesn´t matter! „Actually, it is the other way around. What you mind becomes a matter“, grinste das Krokodil. „Was du im Kopf hast, worauf du dich fokussierst, erst gedanklich, dann emotional, wird schließlich zu deinem Leben. Du ziehst es hinein. Manchmal innerhalb einer Sekunde, manchmal innerhalb von zehn Jahren. Je höher die Frequenz des menschlichen Bewusstseins und die Intensität deiner Absicht, desto höher die Geschwindigkeit mit der sich die Dinge verwirklichen. Ich werde dich in alldem weiter unterrichten, aber wir warten noch auf deinen Bruder. Er hat denselben Weg wie du, doch er hat noch mit mehr Angst zu kämpfen.“ Das verblüffte Mingus. Sein Bruder hatte denselben Weg? Wirklich? Das mit der Angst stimmte zumindest. Seit Mingus sich erinnern konnte, schwebte über Rhun eine Wolke grauer Lebensangst, die er zu verbergen suchte. Mingus kannte die Geschichte von Rhuns Geburt aus den Erzählungen ihrer Mutter. Ursprünglich war sie mit Zwillingen schwanger gewesen, doch hatte Rhuns Zwilling die Geburt nicht überlebt. Rhun selbst mussten die Ärzte mit einer Saugglocke in die Welt befördern. Irgendwo steckte in seinem Bruder eine Panik vor dem Leben, eine Ablehnung seiner Existenz, die Mingus früh wahrnahm. Von klein auf hatte Rhun sich von anderen abgesondert, hing seinen eigenen Gedanken nach und spann sich in einen Kokon aus Rückzugs- und Verweigerungsstrategien ein, der ihn von der Welt abschirmen sollte. Erst als zehn Jahre später Mingus zur Welt kam, schien sich Rhun zu entspannen. Zumindest behaupteten das ihre Eltern. Dennoch blieb Rhun ein Einzelgänger, der niemandem leicht sein Vertrauen schenkte. „Na schön, dein Wunsch ist mir Befehl und für heute reicht es“, unterbrach das Krokodil Mingus` Gedankengang. Es stand auf, reckte sich noch einmal ausgiebig und trottete dann in Richtung einer Nebelbank davon, die aus dem Nichts aufgetaucht war. Im nächsten Augenblick verschwand es bereits grußlos und ohne ein weiteres Wort des Abschieds darin. Es sei denn, ein noch aus dem Nebel nachhallender, ohrenbetäubender Furz galt in Krokodilskreisen als allgemeine Begrüßungs- und Abschiedsformel. Mingus hatte diesbezüglich jedoch seine Zweifel. Als der Schall des Furzes ihn erreichte, brüllte er dem Krokodil wütend hinterher:

"Ich habe dir doch gesagt, du sollst das NIE, niemals wieder tun!“

Erbost stampfte er auf der Gasmaske herum. Er hätte sie nicht abnehmen dürfen! Nicht für eine Sekunde!

„Ich hasse schlechte Luft! Du bist ein stinkender Lügner! Es können ganz bestimmt nicht meine Gedanken allein sein, die diesen Traum erschaffen! Ich stelle mir dich absolut furzlos und wohlriechend vor! Damit das ein für allemal klar ist!", brüllte er aus Leibeskräften ins Leere.

An dem Traum war etwas faul, das roch er genau.

Ob der Geist seines verstorbenen Großvaters vielleicht etwas mit dieser seltsamen Begegnung zu tun haben konnte? Gab es Särge mit Wurmlöchern, die direkt aus dem Jenseits in die Traumwelt ahnungsloser Enkel führten? Sein Großvater war nämlich passionierter Furzer gewesen. Er hatte sogar ein Buch besessen mit dem schönen, hochintellektuellen Titel ´

Die Geschichte des Furzes - von den Römern bis heute`.

Als Mingus das Buch im Schrank entdeckt hatte, hatte es ihn sehr erstaunt, dass es Menschen gab, die das Furzen für eine so große Kunst hielten, dass diese einer eingehenden Studie bedurfte. Wussten die alle nicht, wie es ging? Oder warum musste es ihnen erst einer ausführlich erklären? Kein Wunder, dass er bisher von den Erwachsenen keine Anhaltspunkte zum Sinn des Lebens in Erfahrung bringen konnte, wenn sie noch immer nicht weiter als bis zur Untersuchung des Furzes gekommen waren. Doch so verblüffend die Ähnlichkeit zwischen seinem Großvater und dem Krokodil in mancherlei Hinsicht auch sein mochte - was es ihm erzählt hatte, zeugte von mehr Verstand, als er von seinem Großvater gewohnt war. Dessen geistiges Vermächtnis an ihn bestand aus so poetischen Versen wie

´Mach das Fenster auf, lass Luft herein! Wer anderen in der Nase gräbt, ist selbst ein Schwein`.

Seine Ehefrau nannte der Mann zeitlebens ´

Grasmutti

`. Nicht etwa, weil sie sich in der Küche eine Tüte nach der anderen reingezogen hätte, wie Mingus das von den Partys seiner Eltern her kannte, sondern weil sie Vegetarierin gewesen war. Seinen Kindern wiederum hatte Mingus` Großvater erklärt, Gott sei ein Pfannkuchen, der durch den Weltraum sauste. Mingus` Genpool ließ fraglos zu wünschen übrig.

Er hatte ohnedies keine andere Wahl, als bis zum nächsten Traum abzuwarten, um mehr über die Herkunft und Identität des Krokodils herauszufinden. Und ganz gleich, was jenes behauptet hatte, Mingus war sich sicher, dass er den Traum dieser Nacht nicht allein zu verantworten hatte. Da steckte noch jemand dahinter. Er wusste nur nicht wer ...

bOOk oF liFe

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