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Kapitel 1

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Der Vollmond steht groß und rund am schwarzen Nachthimmel. Als Kayla endlich nach Hause gefunden hat, ist es bereits nach Mitternacht, aber sie ist hellwach. Das Adrenalin in ihrem Blut wirkt immer noch. Trotzdem versucht sie wenigstens ein paar Stunden zu schlafen, aber es will ihr einfach nicht gelingen. Im Bett wälzt sie sich unruhig von Seite zu Seite. Kayla fühlt sich hundeelend. Ständig denkt sie über das Gespräch mit Sam und den Toten auf dem Parkplatz der Bank nach.

Da sie nun offiziell eine Killerin ist und ihre Vergangenheit sie damit eingeholt hat, wird sich ihr ganzes Leben grundlegend verändern müssen. Aussteigen geht nicht mehr und das ist erst der Anfang einer grausamen Karriereleiter. Viel schlimmer aber ist, dass niemand davon erfahren darf. Kayla hat ein wenig Angst, Angst vor den Dingen, die kommen, aber unvermeidbar sind. Egal was passiert, sie darf sich nichts anmerken lassen, besonders ihrem Bruder und ihren Freunden gegenüber nicht. Aber wie soll man einen derartigen Job verbergen? Und da ist noch etwas: Morgen ist Freitag und dann wird nicht nur ihr kleiner Bruder Kai Parker, sondern auch er wieder nach Santa Barbara kommen: Raymond Heragi, kurz Ray. Sie haben sich vor drei Jahren kennengelernt. Er ist gerade mal fünfzehn gewesen und sie selbst 21. Ray hat von Anfang an eine Schwäche für Kayla gehabt. Er hat alles getan, um in ihrer Nähe zu sein, bis sie den Kontakt plötzlich abgebrochen hat. Jetzt, da sie an Ray, ihren Bruder und ihren neuen Job denkt, krampft sich ihr Magen schlagartig zusammen. Als sie auf ihren Wecker schaut, ist es bereits 4:30 Uhr, aber sie ist immer noch hellwach.

Am nächsten Morgen fährt Kayla unausgeschlafen zur Arbeit, auch wenn sie heute am liebsten blaumachen würde. Sie rechnet fest damit, bei ihrer Ankunft auf dem Parkplatz, von einem riesen Polizeiaufgebot empfangen zu werden, mit einer stundenlangen Vernehmung, einem Kreuzverhör und allem was dazugehört. In ihrem Magen fährt ihr spärliches Frühstück Achterbahn. Doch als sie auf den Parkplatz zusteuert, ist alles still. Keine Absperrung, kein einziges Blaulicht und vor allem keine Leiche. Kayla ist verwirrt. Sie ist viel zu früh dran und fast alleine hier. Wie im Zeitlupentempo parkt sie, steigt aus und sieht sich angespannt noch einmal genau um. Hier irgendwo muss doch noch zumindest das Messer von diesem Kerl liegen.

„Guten Morgen Kayla! Wie siehst du denn aus?“, fragt ihre Kollegin hinter ihr. Kayla schreckt zusammen, dreht sich rasch um und atmet auf. Der Schock von letzter Nacht steckt ihr noch in den Knochen.

„Oh, du bist das Nikki. Ich habe letzte Nacht nicht geschlafen. Vollmond“, entgegnet sie seufzend.

„Ah ja, mein Freund hat auch Probleme mit dem Vollmond. Komm, ich mache uns gleich einen vernünftigen Kaffee, damit du über den Tag kommst“, meint Nikki, legt ihren Arm um Kaylas Schultern und begleitet sie zum Personaleingang. Sie atmet tief durch und blickt noch einmal auf den friedlichen Parkplatz zurück, bevor sie das Gebäude betritt.


Während Kayla versucht sich von den Ereignissen der vergangenen Nacht mit Arbeit abzulenken, fährt am späten Nachmittag ein Taxi vor ihrem Haus vor. Ein Junge steigt aus und schaut sich prüfend um. Es ist Kai. Auch ein kleiner rundlicher Taxifahrer krabbelt aus dem Taxi, stiefelt um den Wagen herum und hievt Kais spärliches Gepäck schnaufend aus dem Kofferraum auf die Straße.

„Das macht 80 Dollar“, prustet er, die Hand aufhaltend. Kai zieht etwas mühsam sein Portmonee aus der rechten Gesäßtasche, holt ein paar Scheine heraus und sagt: „Stimmt so.“

„Danke“, entgegnet der Taxifahrer, tupft sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn, steckt seine Einnahmen weg und lässt sich auf den Fahrersitz plumpsen, um schnell weiterzufahren. Kai bleibt alleine zurück. Er ist sehr froh wieder hier sein zu können, blinzelt in den blauen Sommerhimmel und seufzt erleichtert, bevor er sein dünnes Schlüsselbund aus der Hosentasche zieht und mit zufriedenem Lächeln seine Reisetasche schultert. Im oberen Stockwerk hat er schließlich seine eigenen vier Wände erreicht. Die Tasche bleibt im Flur liegen, als Kai sich in seinem Schlafzimmer auf das gemütliche Bett fallen lässt.

„Endlich ein vernünftiges Bett“, murmelt er leise und schließt dankbar die Augen. Die Sonne scheint noch wohlig warm, durch das große Dachfenster und lässt seine Gedanken in die Ferne schweifen. Eigentlich hätte er nach Washington D. C., zu Großvater, fliegen müssen, aber wenn man die Wahl hat? Warum sollte er in eine stinkende, laute Großstadt fliegen, wenn er doch Sommer, Sonne, Strand und viel Ruhe haben kann? Außerdem ist Großvater äußerst autoritär und einfach ätzend. Kayla hingegen ist zwar auch in mancher Hinsicht streng, aber noch lange nicht so wie Großvater. Hier kann er sein Wochenende wirklich in vollen Zügen genießen und darauf zählen, dass Kayla in jeder Situation für ihn da ist.

Wenig später schwingt Kai sich frisch geduscht und umgezogen auf sein brandneues Mountainbike, welches Kayla ihm letzten Sommer gekauft hat, um runter, an den Strand zu fahren, auch wenn es nicht gleich um die Ecke ist. Dabei streift ihn der Wind erfrischend über seine braungebrannten Arme sowie das Gesicht und zerzaust das dunkelblonde Haar. Die Sonne Arizonas sorgt dafür, dass er zu jeder Jahreszeit wie ein Sunnyboy aussieht, was ihn besonders für die Mädchen äußerst attraktiv macht. Allerdings ist bisher nicht die Richtige dabei gewesen.

Kurze Zeit später hält Kai bei einer kleinen Tauchschule, schließt sein Fahrrad an einer Straßenlaterne an und betritt einen kleinen, aber hellen Vorraum.

„Ah Kai. Schön dich wiederzusehen. Wie geht es dir?“, fragt der Tauchlehrer, ein schlanker Kerl mit freundlichem Lächeln.

„Ganz gut. Bin gerade erst angekommen“, entgegnet er und begrüßt den Mann per Handschlag. Sein Name ist Tom, weiter weiß Kai auch nicht. Er hat ihn damals, als er zum ersten Mal ganz allein nach Santa Barbara gekommen ist, in seine Obhut genommen. Seitdem sind sie irgendwie Freunde. Kai kommt oft her, um zu helfen oder um einfach etwas in Gesellschaft zu sein, wenn er nicht gerade mit seinen Freunden zusammen ist.

„Gut, sehr gut. Hast du Lust, gleich mit Shelly und mir rauszufahren? Wir wollen uns die Seelöwen ansehen“, fragt Tom.

„Ich weiß nicht. Ich würde gerne erst am Strand nach ein paar Freunden suchen und ein bisschen Volleyball spielen, solange es noch hell ist“, entgegnet Kai etwas verlegen. Bei dem Gedanken, dass Toms hübsche Tochter Shelly dabei sein würde, geraten seine Gedanken etwas aus dem Konzept. Schließlich ist sie bildschön und beginnt im nächsten Jahr in Los Angeles irgendein Studium.

„Schon gut, geh nur. Falls du es dir anders überlegen solltest, weißt du ja, wo du mich findest. Ach, bevor du gehst, kannst du dein Fahrrad hinters Haus stellen und deiner Schwester später schöne Grüße von uns ausrichten, ja?“, entgegnet Tom lächelnd.

„Mach ich. Ciao“, murmelt Kai und wendet sich zum Gehen, als plötzlich die Tür aufgeht und Shelly hereinkommt.

„Hallo Kai. Wolltest du schon wieder gehen?“, sagt sie und blickt ihn fragend, ja fast etwas enttäuscht an.

„Hi Shelly. Ja, ich wollte Volleyball spielen“, entgegnet er verlegen.

„Oh. Na ja, viel Spaß“, sagt sie mit einem vergnügten Lächeln und verschwindet, elegant, so als würde sie über dem Boden schweben, in einem Nebenraum.


Als Kai wenig später am Volleyballfeld ankommt, herrscht hier noch immer reges Treiben.

Unauffällig mischt er sich unter die Zuschauer, in der Hoffnung ein bekanntes Gesicht zu finden, und kämpft sich so bis an den Spielfeldrand vor. Plötzlich steht eine junge Dame in knappen Hotpants und Bikini neben ihm und reicht ihm eine ungeöff­nete Dose Cola.

„Hi, ich bin Natalie. Kommst du von hier?“, fragt sie in akzentfreiem Englisch. Kai vermutet, dass sie aus Deutschland oder so kommt.

„Danke. Ähm, nicht direkt. Ich verbringe nur das Wochenende hier“, entgegnet Kai.

Auf einmal ruft jemand: „Mensch Parker, warum fragst du die Kleine nicht gleich, ob sie mit dir kurz verschwinden will!“

„Weil ich nicht Hanson heiße“, entgegnet Kai, lässt das Mädchen unbeachtet stehen und begrüßt Rob Hanson, einen seiner besten Freunde, per Handschlag. Auch die beiden kennen sich schon, seit Kai das erste Mal nach Santa Barbara gekommen ist. Das Mädchen bleibt mit ihrer Cola alleine zurück.

„Das ist auch gut so. Schön dich wieder hier zu haben. Wie sieht´s aus? Willst du ins Spiel einsteigen? Wir könnten einen besseren Verteidiger gebrauchen“, meint Rob und dreht den sandigen Volleyball in den Händen.

„Hey Rob, Mann! Können wir weitermachen?“, ruft ein anderer Spieler herüber. Kai und Rob tauschen kurz fragende Blicke aus.

„Klar“, antwortet Kai nur und nimmt sofort seine Stammposition am Netz ein.

„Prima. Jetzt seid ihr fällig da drüben“, ruft Rob und geht ebenfalls zum Spielfeld zurück.


Nachdem Kayla gestern Überstunden gemacht hat, darf sie heute gnädiger Weise ein paar Minuten früher gehen. Trotzdem sitzt sie nach Feierabend noch ein paar Minuten lang an ihrem Arbeitsplatz, das Gesicht in den Händen vergraben und versucht ihre konfusen Gedanken zu ordnen. Einerseits ist sie froh darüber, nicht im Dunkeln zu ihrem Auto gehen zu müssen, aber wenn sie daran denkt, dass sie auf dem Parkplatz wieder allein sein wird, bekommt sie etwas weiche Knie.

„Reiß dich zusammen“, ermahnt sie sich leise, richtet sich wieder in ihrem Bürostuhl auf und beginnt ihren Schreibtisch aufzuräumen. Dabei lässt sie sich allerdings sehr viel Zeit. Ihr PC ist bereits heruntergefahren. Auch beim Anziehen ihrer leichten Sommerjacke lässt sie sich nicht hetzen. Auf dem Flur ermahnt sie sich nochmals und gibt sich alle Mühe ein gut gelauntes, strahlendes Lächeln aufzusetzen, das so natürlich wie nur möglich aussieht. Mit Erfolg. Ihre Kollegen, die ihr auf den Fluren entgegenkommen, merken nichts.

„Schönen Feierabend Kay“, sagt einer von ihnen lächelnd im Vorbeigehen.

„Danke. Dir auch“, entgegnet sie nur. Aus Angst, jemand könnte sie wieder am Personalzugang abfangen, verlässt Kayla das Bankgebäude durch den Haupteingang. Niemand scheint es zu bemerken.

Draußen, auf dem Parkplatz der Mitarbeiter, hinter dem Gebäude, ist alles still und friedlich. Trotzdem stellen sich ihr die Nackenhaare auf, obwohl es angenehm warm ist. Zögerlich zieht Kayla ihren Schlüsselbund aus der Jackentasche, legt sich den Zündschlüssel bereit, atmet tief durch und marschiert zielstrebig zu ihrem Wagen, den sie leider dicht am Personaleingang geparkt hat, stets dazu bereit ihr Leben zu verteidigen. Doch es passiert nichts. Auch als sie hastig die Türen entriegelt, dieselben aufreißt und sich regelrecht ins Auto stürzt, als wenn der Teufel persönlich hinter ihr her wäre, ist alles ruhig. Angespannt verriegelt sie die Türen von innen, fährt sich mit beiden Händen durchs Haar und beginnt zu lachen bis ihr die Tränen kommen. Ihr eigenes Verhalten kommt ihr auf einmal extrem lächerlich vor. Schließlich soll sie schon bald als Killerin arbeiten, auch wenn sie sich das nicht wirklich vorstellen kann. Als sie den Zündschlüssel im Schloß herumdreht wischt sie sich mit dem Ärmel über die Augen, lässt den Motor an und fährt heim.

Als Kai gegen 20:00 Uhr nach Hause kommt, sitzt Kayla völlig gedankenverloren am Küchentisch, das Kinn auf die gefalteten Hände gelegt und starrt auf eine kleine Eieruhr, die munter tickend vor ihr auf dem Tisch steht. Als die Haustür hinter ihrem Bruder ins Schloss fällt, schreckt sie zusammen und stößt die Eieruhr um, die im selben Augenblick zu schellen beginnt.

„Hi Kayla. Schön dich zu sehen“, sagt Kai, als er kurz darauf die Küche betritt.

„Hallo Kai. Schön dich wieder hier zu haben. Wie war dein Flug?“, entgegnet sie, sammelt die Eieruhr auf und stellt zwei Teller auf den Tisch. Ihre Sorgen sind ihr nicht mehr anzumerken.

„Ruhig und kurz. Also wie immer. Hast du Großvater schon angerufen?“, möchte Kai wissen.

„Nein, dazu habe ich noch keine Zeit gefunden. Das kann ich auch noch morgen machen. Komm erst mal her. Willkommen zu Hause“, entgegnet Kayla und nimmt ihren kleinen Bruder herzlich in die Arme.

„Danke “, murmelt Kai seufzend.

„Hast du Hunger?“, fragt seine Schwester.

„Und wie“, entgegnet er und setzt sich an den Tisch, ohne zu fragen, was es überhaupt zu essen gibt. Riechen tut es jedenfalls köstlich. Kayla hat ein neues Rezept ausprobiert. Diese scheint ihr auch ganz gut gelungen zu sein. Beim Verteilen der Portionen ist sie wie immer recht großzügig, allerdings nur bei ihrem Bruder. Ihr eigener Teller bleibt fast leer. Während er also ordentlich zulangt, stochert sie nur wählerisch auf ihrem Teller herum, bevor sie ihn nach ein paar Bissen ganz beiseiteschiebt. Kai sieht sie trotzdem fragend an.

„Alles okay?“, fragt er.

„Ja ja, ich denke nur an jemanden“, antwortet sie.

Er zieht misstrauisch eine Augenbraue hoch und meint: „Aha.“

„ Hast du was dagegen, wenn ich noch einmal weggehe?“, fragt Kayla hastig um das Thema zu wechseln. „ Nein, geh ruhig. Ich räume hier schon auf“, entgegnet Kai gelassen.

Kayla springt auf, stellt ihren Teller neben die Spüle und verschwindet aus der Küche.

Ein paar Augenblicke später fährt Kayla aus der Garage und dreht die Musik auf. Sie fährt hinunter an den Strand. Ihre Augen starren auf die Straße, aber scheinen keine Einzelheiten wahrzunehmen. Auf einem Parkplatz hält sie schließlich. Die Fahrt ist ihr sehr kurz vorgekommen. Kayla lässt noch einen Moment die Musik laufen, ohne sie leiser zu drehen, und lehnt ihre Stirn ans Lenkrad. Nur sie und die Musik. Kayla versucht verzweifelt die verworrenen Gedanken zu verdrängen, aber es will ihr einfach nicht gelingen. Also richtet sie sich wieder auf, schaltet das Radio aus und verlässt das Fahrzeug, um zu Fuß zum Strand hinunter zu gehen. In ihrem Kopf herrscht das perfekte Chaos. Schon von Weitem dringt das Rauschen der Wellen zu ihr herüber.

Ihr Weg führt sie zu einer Seebrücke am Strand, die einige Meter ins Meer hinausragt. Langsam geht sie auf den dicken Holzdielen entlang bis zum Ende. Ein massiver Zaun soll davor bewahren ins Wasser zu fallen. Zögernd stützt sie sich mit ihren Ellenbogen auf die Absperrung, blickt auf das Meer hinaus und lauscht dem Rauschen der langsam heranrollenden Wellen. Die Sonne ist noch nicht verschwunden. Orange-rot hängt sie tief, dem Untergang verpflichtet, am Abendhimmel, um am nächsten Morgen wieder aufzugehen. Die Wolken um sie herum zeigen sich in einem zarten Rosa.

Während Kayla in ihren Gedanken versunken am Zaun lehnt, bemerkt sie nicht, dass sie Gesellschaft bekommt. Es ist Ray. Auch er ist mit seinen Gedanken nicht wirklich bei der Sache und bemerkt Kayla erst, als er schon fast vor ihr steht. Sie, die Frau, die er liebt, da so plötzlich stehen zu sehen, verunsichert ihn. Gerne würde er einfach zu ihr gehen und mit ihr sprechen, so wie früher, aber er wagt es nicht. Da dreht Kayla sich plötzlich um und starrt ihn wie vom Blitz getroffen an.

Ihr ist zum Weglaufen zumute, sie schluckt schwer und murmelt leise: „Hi.“

Er glaubt sich verhört zu haben und kann es kaum glauben.

„Hallo Kayla“, antwortet er vorsichtig und wagt einen Schritt auf sie zu. Sie glaubt, ihr Herz macht einen Aussetzer, als er sich bewegt. Völlig verkrampft steht sie da. Vor ihr der Typ, den sie erst mal nicht mehr sehen wollte und hinter ihr das Meer, mit seinen tückischen Strömungen. Es ist, als ob keiner von beiden wüsste, wie ein man eine solche Situation aufweichen kann, um ins Gespräch zu kommen. Und so wird das Schweigen langsam zu einer peinlichen Stille. „Reiß dich zusammen“, ermahnt sie sich wieder. Endlich bricht Ray die unangenehme Stille mit der Frage: „Darf ich zu dir kommen?“

Kayla nickt mit betretener Miene. Langsam kommt er zu ihr hinüber, seine Schritte klingen dumpf auf den Holzbohlen bei jedem Schritt. Neben ihr lehnt er sich gegen den Zaun. Niemand sagt etwas.

„Warum wolltest du mich damals nicht mehr sehen? Hab ich etwas Falsches gesagt oder getan?“, platzt es nach einer Weile aus ihm heraus.

Kayla verkrampft sich noch ein bisschen mehr, sieht ihn erstaunt an und meint hastig: „N-nein, wie kommst du denn darauf? Weder das eine noch das andere.“

Ihre offene Art und Weise ist ihr im nächsten Augenblick schon fast peinlich. Unangenehm krampft sich ihr Magen zusammen.

„Alles in Ordnung?“, fragt Ray.

Kayla antwortet nicht, sie nickt nur. Ray richtet seine Aufmerksamkeit, mit ratlosem Gesichtsausdruck, auf das Wasser.

„Es liegt an mir. Ich habe gemerkt, dass du mich liebst und da habe ich Angst bekommen“, murmelt Kayla, die sich wieder entspannt, mehr zu sich selbst als zu Ray, der sie jetzt erstaunt ansieht. Die Frage, die ihn über zwei Jahre hinweg beschäftigt hat, ist nun geklärt, aber gleichzeitig ist eine neue Fragen dazugekommen: Warum hat sie Angst vor der Liebe?

„Wovor hast du Angst?“, fragt er.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich einfach zu oft enttäuscht worden“, lügt sie. Ray sieht sie mit sanften Augen an, Augen, in die sie sich sofort verliebt hat, aber sich bis heute dagegen wehrt. Nun, da sie ihn sehr lange nicht mehr gesehen hat, fällt ihr auf, dass er um einiges erwachsener wirkt als noch vor drei Jahren. Und auch Ray gewinnt langsam einen ganz anderen Eindruck von Kayla. Damals kam sie ihm immer selbstbewusst, nervenstark und unbeirrbar vor. Doch heute Abend sieht alles ganz anders aus. Sie sucht wahrscheinlich einfach echte Liebe und Geborgenheit. Er vermutet, dass sie in der letzten Zeit vielleicht die eine oder andere Affäre gehabt hat, aber nicht das, wonach sie sich wirklich sehnt. Wie gerne möchte er ihr all das geben, was sie braucht. Wieder tritt eine drückende Stille ein. Ihre letzten Worte hängen noch in der Abendluft, die Wellen rauschen und ein lauer Wind weht. Ray mustert sie eingehend, um eventuell zu erfahren, was gerade in ihr vorgeht, als sie ihm plötzlich einen ernsten Seitenblick zuwirft. Verlegen blickt Ray wieder auf das Meer zu seinen Füßen. Er glaubt, sie verletzt oder verärgert zu haben und denkt bereits fieberhaft darüber nach, was er als Entschuldigung sagen könne, doch da meint Kayla plötzlich: „So hat mich schon lange keiner angesehen.“

„Wirklich nicht?“, entgegnet Ray mit hoffnungsvollem Unterton in der Stimme, wobei er ihr das erste Mal wieder direkt in ihre wunderschönen blau-grünen Augen sieht. Dieses Mal weicht sie seinem Blick nicht aus und lächelt sogar ein wenig.

„Es ist schön zu wissen, dass sich noch jemand dafür interessiert, wie es in meiner Seele aussieht und nicht unter …, na ja, du weißt was ich meine“, entgegnet Kayla mit einem nervösen Flackern in den Augen. Ray versteht schon, was sie damit sagen will. Lange Minuten des Schweigens folgen. Seite an Seite lehnen die beiden am Zaun und beobachten die Wellen. Entschlossen rückt Ray noch ein Stück dichter an ihre Seite. Kayla reagiert nicht. Sie ist viel zu sehr damit beschäftigt ihre inneren Konflikte zu lösen. Es ist eben nicht leicht, wenn die Gefühle und der Verstand nicht der gleichen Meinung sind. Er fragt sich, woran sie wohl gerade denken mag, weil sie noch immer etwas verkrampft wirkt. Auch Kayla würde gerne wissen, was ihn gerade beschäftigt. Allerdings sagt keiner von beiden etwas. Einen Moment lang wollte Ray seinen Arm um ihre Schultern legen, aber er traut sich nicht. Also schiebt er nur seine Hand vorsichtig auf ihren Arm. Sie spürt seine sanfte Berührung auf ihrer Haut und blickt etwas erstaunt zuerst auf seine Hand, die auf ihrem Arm ruht, dann hebt sie langsam ihren Blick. Als sich ihre Blicke treffen, zieht Ray seine Hand hastig weg.

„`tschuldigung“, murmelt er.

„Ist schon okay“, entgegnet Kayla leise. Die beiden sehen sich einen Moment lang schweigend an, bis Ray seinen ganzen Mut zusammennimmt und ihr zögerlich einen zärtlichen Kuss gibt. Kayla ist erst erschrocken, aber dann ist der Bann gebrochen und Kayla kann nicht länger gegen ihre Gefühle ankämpfen. Ray scheint dies zu spüren und zieht sie langsam zu sich in den Arm. Kayla geht ein wohliger Schauder durch den Körper. Sie will mehr, sie will nicht nur geküsst, sondern auch berührt und geliebt werden. Doch sie muss sich noch zurückhalten.

Lovely Hunter

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