Читать книгу DJATLOV PASS - Die Rückkehr zum Berg des Todes - J.H. Moncrieff - Страница 10

Kapitel 4

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Die frostige Luft war nichts im Vergleich zu der eisigen Atmosphäre, die in der Gruppe herrschte. Scheiße. Nat hatte gehofft, dass eine erholsame Nacht etwas von dem fröhlichen Optimismus, der vor Stevens Ausbruch existiert hatte, wiederherstellen würde, aber es stellte sich bald heraus, dass dem nicht so war.

Sie hatte seit der letzten Präsidentschaftswahl nicht mehr so viele betrübte Gesichter gesehen. Nur Igor schien einigermaßen gut drauf zu sein, aber selbst er machte um den Bergsteiger einen weiten Bogen, als ob Stevens Sorgen ansteckend wären. Und Steven war besorgt – daran bestand kein Zweifel. Nat glaubte nicht, dass er absichtlich versuchte, ein launisches Arschloch zu sein.

Der Mann hatte Angst.

»Andrew.« Sie stieß ihn mit dem Ellbogen an und nickte in die Richtung, in der Steven abseits der Gruppe stand. Zumindest ihr Produzent würde McDreamy Gesellschaft leisten, auch wenn der Job nicht annähernd so reizvoll war, wie er ursprünglich gehofft hatte.

»Ich weiß«, flüsterte er. »Aber keiner von uns wird in der Lage sein, mit ihm Schritt zu halten.«

Er hatte recht. Sobald Wasili bereit war, schob Steven sich an die Spitze neben den Mansen, wo sie wortlos nebeneinander hergingen. Es war nicht unbedingt kameradschaftlich, aber wenigstens auch nicht feindselig.

»Was denkst du?«

Nat wusste, was Andrew meinte. Was war Stevens Problem? Er hatte sich die Teilnahme an dieser Exkursion hart erkämpft, was sollte also das Gerede über Wertschätzung? Was hatte ihn dazu bewogen, sich einen Platz im Team zu ergattern? Es konnte nicht nur der Podcast sein. Da musste es noch etwas anderes geben.

»Bin mir nicht sicher«, sagte sie. »Aber ich krieg’s raus. Irgendwas stimmt nicht mit dem Typen.«

Ein Teil von ihr dachte, dass Steven nicht ganz unrecht hatte, egal, wie schlecht er das herübergebracht hatte. Sie ermittelten die Schicksale von neun jungen Menschen, die immerhin in der Blüte ihres Lebens umgekommen waren. Das Ereignis erforderte etwas Ernst. Sie wollte nicht auf Gräbern tanzen.

Der Himmel war verhangen und grau, passend zu Nats Laune. Sie sehnte sich nach etwas Sonnenschein, wusste aber, dass niedrige Temperaturen damit einhergingen. Das war ein weiterer Punkt, den sie der Djatlov-Gruppe voraushatten. Es war wärmer als damals, als die jungen Russen sich auf die Reise begeben hatten, und kein Sturm in Sicht.

Der Wanderweg begann schon sehr steil und stieg kontinuierlich an. Nats Wadenmuskeln begannen bald zu schmerzen und sie wünschte, sie hätte sich vor der Abreise aus den Staaten die Zeit für eine ordentliche Massage genommen. Zu bemerken, dass die Gespräche in der Gruppe abgeflaut waren, als sich alle darauf konzentrierten, einen Fuß vor den anderen zu setzen, war tröstlich. Nur Wasili und Steven, den anderen weit voraus, schien die Anstrengung nichts auszumachen. Anubha und Joe hatten sich für Schneeschuhe statt Ski entschieden und selbst ihr energisches Tempo hatte sich verlangsamt. Nat hoffte, dass niemand ihr Keuchen hören konnte.

Sie fokussierte Anubhas kobaltblauen Parka, bis ihre Augen tränten. Links, rechts. Immer weiter voran. Rechts, links. Atmen (keuch). Links, rechts. Nat blinzelte, verwundert, dass ein grelles Pink das Kobaltblau ersetzt hatte.

»Wie läuft’s?« Lanas Tonfall war unbekümmert, aber Nat konnte das Mitgefühl in ihren Augen sehen. Für einen kurzen Moment machte sich Unmut in ihr breit.

»Prima.« Es erforderte übermenschliche Anstrengung, nicht zu schnaufen. »Und selbst?«

»Oh, großartig. Ich verdanke es euch beiden, dass ich wieder in der Wildnis sein kann. Das tut mir richtig gut. Ich hab mich nach den Spielen ziemlich gehen lassen. Depression, weißt du?«

Nat konnte sich die kesse Frau nicht depressiv vorstellen. Sie fragte sich erneut, ob dieses fröhliche Gemüt eine Rolle war, in die sie wie in ihren Schneeanzug hineinschlüpfte. »Gern geschehen.«

»Du musst verstehen, das ist für mich so selbstverständlich wie atmen. Ich habe einen Großteil meines Lebens auf Skiern verbracht. Für einen Freizeit-Skiläufer ist das was ganz anderes, selbst für einen, der fit ist. Sicher, dass ihr beide in Ordnung seid?«

Die Art, wie Lana ihre Frage an sie und jemanden hinter ihr richtete, verriet ihr, dass Andrew immer noch da war. Gut. Während der letzten Meile war sie zu erschöpft gewesen, um nachzusehen.

»Eine … Pause … wäre … nett«, keuchte Andrew, der noch ausgelaugter klang, als nach einer nächtlichen Aufnahme-Session. Was, wenn er oder jemand anderes hier draußen einen Herzinfarkt bekam? Besaß einer von ihnen mehr als rudimentäre Erste-Hilfe-Kenntnisse? Das war etwas, woran sie nicht gedacht hatte.

»Ich glaube, es ist bald Zeit für die Mittagspause. Ich bin mir sicher, den anderen geht es ähnlich. Ich spreche mal mit Wasili.« Und mit diesen Worten glitt sie davon, mühelos an Anubha, Joe und Igor vorbei.

»Bei ihr … sieht es … so einfach … aus.«

»Spar dir den Atem. Du wirst ihn … noch brauchen.« Es kostete sie alle Kraft, wieder Geschwindigkeit aufzunehmen, nachdem sie langsam genug gefahren war, um mit Lana zu reden. Sie konnte ihr Keuchen nicht länger unterdrücken. Schweiß lief an ihrer Nase herunter und benetzte ihre Lippen mit Salz.

»Alle Mann aufgepasst.«

Erschöpft zwang sich Nat dazu, bis zur Spitze des Trupps zu sehen, wo Steven mit den Armen wedelte. Seine Stimme klang klar und selbstbewusst, gut verständlich. »Auf der Kuppe machen wir eine Mittagspause. Sollte nicht länger als zwanzig Minuten dauern.«

Andrew stöhnte.

»Halte durch, mein Freund. Immer einen Fuß vor den anderen.«

»Ich … kündige.«

Nat lachte, auch wenn sie sich den Energieaufwand nicht erlauben konnte. »Du kannst jetzt nicht kündigen. Wie willst du denn nach Hause kommen?«

»Mir … würde … was … einfallen.«

Sie riskierte einen Blick hinter sich und musste feststellen, wie erbärmlich ihr Produzent aussah. Seine Mütze und sein Schal waren mit Eis verkrustet und seine Augen tränten, was rote Streifen auf der entblößten Gesichtshaut hinterließ. »Wenn du keine zwanzig Minuten durchhältst, wie willst du dann zurück nach Wischai kommen?«

»Ich … hasse … dich.«

»Hör auf, mich zum Lachen zum bringen. Ich krieg’ so schon kaum Luft.«

»Und … wessen … Schuld … ist … das?«

»Deine.« Sie glitt davon, bevor er zu ihr aufschließen konnte, und wartete auf den Schneeball, der sie jeden Moment am Kopf treffen sollte. Lächelnd ging sie den Aufstieg mit neuem Elan an. Andrew hatte immer diese Wirkung auf sie. Sie scherzte oft, dass er die Liebe ihres Lebens war, aber es war eigentlich kein Witz. Dem heterosexuellen Mann, mit dem sie sich so gut verstand, war sie noch nicht begegnet.

Ihr kurzer Wortwechsel hatte ihren Abstand zum Rest der Gruppe noch vergrößert. Nat konnte Wasili oder Steven nicht mehr sehen und sogar Anubha und Joe waren verschwommen. Igor hatte auf sie gewartet, und als ihr Blick auf ihn fiel, scheuchte er sie weiter.

»Andy? Wir müssen uns beeilen. Wir halten alle auf.«

Im Nachhinein betrachtet war es dumm gewesen, die Langsamsten hinten laufen zu lassen. Falls die anderen nicht bemerkt hätten, dass sie zurückgefallen waren, hätte aus dem Spaß schnell Todernst werden können. Sie nahm sich vor, beim Mittagessen die Gruppenformation anzusprechen. Vielleicht konnte Igor die Nachhut übernehmen.

Anstatt angefressen zu sein, als sie ihn endlich eingeholt hatte, grinste der Russe und klopfte ihr so kräftig auf die Schulter, dass sie stolperte. Er hielt sie am Ellbogen fest, bevor sie fallen konnte. »Keine Sorge«, sagte er. »Schwerer Aufstieg, ja? Aber wir sind fast da. Du bald kannst dich ausruhen.«

»Das wäre gut.«

»Er ist okay?« Igors Brauen zogen sich zusammen, als er Andrew betrachtete. Nat war bestürzt darüber, wie weit er zurücklag.

»Das wird schon. Wir haben hierfür trainiert, aber, na ja, ein Fitnesscenter in Kalifornien ist eben kein Ersatz für das Ural-Gebirge.«

»Ja, dieser Berg, das schon was sein. Aber keine Sorge. Wir warten auf deinen Freund und dann wir was essen. Ja?«

Außer Atem schaffte Nat nur ein Nicken, darauf hoffend, dass Igor die Kälte für ihre roten Wangen verantwortlich machte. Scheiße, war das peinlich. Sie hätten sich ein ganzes Jahr Zeit nehmen sollen, mit erheblich mehr Training. Was hatten sie sich bloß dabei gedacht, mit Bergsteigern und Olympia-Sportlern mithalten zu wollen?

Eine Minute später kam Andrew an, sein Gesicht mit einem erschreckenden Lila-Ton. »Sorry«, keuchte er.

»Keine Sorge, mein Freund. Kannst du noch?«

Was, wenn Andrew es nicht weiterschaffte? Sie wusste nicht, was schlimmer war – auszuhecken, wie man ihren Produzenten auf sichere Art zurück zum Dorf bringen konnte, oder irgendwo im Nirgendwo mit dieser zänkischen Gruppe festzuhocken. Igor, Lana und das Inuit-Pärchen waren ziemlich nett, aber Steven und Wasili – nein, danke. Sie würde keine ganze Woche ohne ihren besten Freund überstehen.

Glücklicherweise kam Andrew nach einer kurzen Verschnaufpause wieder zu Atem und sie folgten Igors gezügeltem Tempo. Als sie den Hügelkamm erreichten, saß der Rest der Gruppe um ein bereits prasselndes Feuer. Lana, Joe und Anubha klatschten, als sie ankamen.

»Hurra, wir sind komplett. Dann können wir ja essen«, sagte Joe. »Die gute Nachricht ist, dass wir an diesem Punkt der Tour noch die volle Auswahl haben. Rindereintopf, Chili, Gulasch, Spaghetti mit Fleischbällchen …«

»Ooh, ich hatte noch nie Camping-Spaghetti, nehmen wir das.« Lanas Augen funkelten, als sie die Gruppe anstrahlte. Entweder wirkte die wilde Natur wirklich belebend auf sie oder sie liebte Spaghetti über alle Maßen.

»Wie kann das sein? Das ist ein Klassiker«, sagte Igor.

Joe holte die silbernen Verpackungen aus seinem Rucksack, während Anubha Schnee für Kochwasser einsammelte.

»Sicher, dass das nicht gefährlich ist?«, fragte Steven und Nat bemerkte, wie jeder bei seiner Frage innehielt. Sie wünschte, er hätte für ein Weilchen den Mund gehalten, um der Gruppe eine Chance zu geben, zu vergessen, was für ein pessimistisches Arschloch er war.

»Das was nicht gefährlich ist? Spaghetti?« Joes Stimme war gelassen, aber seine Körpersprache veränderte sich, als ob er sich zum Kampf rüstete, Rücken gespannt, Schultern straff. »Ja, ziemlich sicher.«

»Ich rede nicht von dem prozessierten Müll. Ich meine das, was sie da macht.« Steven zeigte auf Anubha, die den Bergsteiger nur wütend anfunkelte.

»Mein Name ist Anubha und der Schnee ist total in Ordnung. Absolut rein.«

»Was ist mit dem, das du nicht sehen kannst?«

Andrew stöhnte, ließ sich neben Lana auf einen schneebedeckten Baumstamm fallen und streckte seine Hände dem Feuer entgegen. Nat hoffte, Steven würde die Reaktion ihres Produzenten nicht persönlich nehmen, aber als sie ihm einen Blick zuwarf, starrte er immer noch auf Anubha. Er hatte Andrew nicht einmal bemerkt.

»Wovon redest du eigentlich?«, fragte Joe.

»Bin ich der Einzige, der die Details kennt? Damals, als die Djatlov-Gruppe gefunden wurde, waren wahnsinnig hohe Strahlungswerte gemessen worden.«

Joe schüttelte den Kopf und sein schwarzes Haar rutschte ihm über ein Auge. »Das war in den Sechzigern. Ich weiß nicht, ob du’s mitbekommen hast, aber der Kalte Krieg ist vorbei.«

»Es war übrigens 1959, aber egal. Schon mal was von Tschernobyl gehört? Das bleibt noch zwanzigtausend Jahre lang gefährlich.«

»Das ist hier wohl kaum Tschernobyl.« Andrew konnte Spielverderber nicht leiden, solche Leute, die ein Talent dafür hatten, einfach alles mies zu machen. Er war bereits davon überzeugt, dass Steven ein Spielverderber erster Klasse war.

»Ich glaube, er ist nur mitgefahren, um allen die Woche zu vermiesen«, hatte er letzte Nacht nach dem Essen gemeckert. So viel zu den leuchtend blauen Augen und dem hübschen Gesicht. Gutes Aussehen war für Andy eben doch nicht alles.

»Das muss es auch nicht sein. Selbst, wenn die Strahlung hier nur hundert Jahre anhält, reicht das schon.«

Andrew seufzte. »Hast du den Strahlungsmesser zur Hand, Nat?«

»Ja, gleich hier.« Sie wühlte durch die Deckeltasche ihres Rucksacks und zog den Geigerzähler heraus. Nat wollte ihn ihrem Produzenten reichen, aber der schüttelte den Kopf.

»Gib’s ihm«, sagte er und wies auf Steven. »Er ist derjenige, der so besorgt ist.«

»Hey, ich will das nur gescheit angehen. Ich weiß, dass ich eine Riesennervensäge bin, aber Sicherheit geht vor. Ich gehe davon aus, dass sich niemand eine Strahlenvergiftung einfangen will.«

»Du bist keine Nervensäge, Steven«, sagte Lana, deren Stimme so süß war, dass sie klebte.

Anubha schnaubte. »Doch, ist er. Aber in diesem Fall hat er nicht unrecht.«

»Danke.« Steven machte ein paar Schritte in Anubhas Richtung und hielt das Gerät nahe an den Schnee, den sie sammelte. Während er die Messskala genau im Auge behielt, gab das Gerät ein leises Klickgeräusch von sich, aber kein Piepsen. Schließlich richtete er sich auf. »Sieht okay aus.«

»Dann bringen wir den Schnee mal zum Kochen, Babe. Wir liegen im Zeitplan zurück.« Joe warf einen besorgten Blick in den Himmel, aber Nat konnte nichts Beunruhigendes erkennen. Nur das immer gleiche Grau, Grau und noch mehr Grau.

»Ich dachte, ihr zwei wolltet uns frisches Fleisch besorgen. War das nicht so abgemacht?«

Nat konnte Stevens Unverfrorenheit kaum fassen. Die beiden Kanadier wollten freiwillig für alle kochen und der Bergsteiger war immer noch am Meckern. Unglaublich.

Anubha ignorierte ihn, aber ihr Ehemann schien die Bemerkung locker wegzustecken. »Nicht jetzt. Der Aufwand lohnt sich nicht, wenn wir nur für eine Stunde hier sind.«

»Es macht sicherlich keine große Mühe, ein Kaninchen oder Eichhörnchen zu fangen«, sagte Steven. »Seht euch den Jungen doch an.« Er zeigte auf Andrew, der in seinem Parka zusammenschrumpfte. »Er pfeift auf dem letzten Loch. Er braucht die Proteine.«

»Es ist reichlich Protein in diesen Mahlzeiten. Sie sind für Wanderer konzipiert.« Joe nahm den Topf voller Schnee, den Anubha ihm reichte, und stellte ihn auf das Feuer.

»Die sind fürs Camping gemacht, da gibt’s einen Unterschied. Und es ist keine richtige Nahrung.«

»Es geht mir gut, wirklich. Ich bin Vegetarier«, sagte Andrew, was nicht der Wahrheit entsprach, aber Nat hoffte, dass es Steven von seiner Tirade ablenkte. Was war nur los mit dem Kerl? Das Dümmste, was man tun konnte, war es, die Leute gegen sich aufzuhetzen, die für die eigene Verpflegung verantwortlich waren.

Das zog Joes Aufmerksamkeit auf sich. »Kannst du das denn essen?«

»Ja, damit komm ich klar. Ich mag es lieber, wenn man nicht sehen kann, dass es mal ein Tier war, wenn du weißt, was ich meine.«

»Verständlich.« Joe verlagerte den Topf, damit er mehr Hitze erhielt.

»Warum ist das verständlich? Das ist Bullshit. Was für ein Vegetarier macht eine Tour wie diese? Eine vegetarische Ernährung hat niemals genug Protein und Fett für diese Art von Anstrengung. Weißt du, wie viele Kalorien du allein durchs Zittern verbrauchst?« Steven starrte Andrew an. Nat war sich sicher, dass ihr Produzent seine Wahl an diesem Punkt bereits bereute. Gutes Aussehen war ganz bestimmt nicht alles.

»Das stimmt übrigens nicht«, sagte Lana. »Wenn man weiß, was man tut, liefert eine vegetarische Ernährung mehr als genug Proteine.«

Steven grunzte abfällig. »Sicher, wenn er vorhat, stundenlang hier rumzusitzen und Nüsse zu futtern, aber wir haben nicht die Zeit dafür. Ich versteh’ nicht, warum er mitgekommen ist, wenn er nichts weiter als das schwächste Glied ist.«

Andrew brachte plötzlich mehr Energie auf, als Nat für möglich gehalten hätte, und sprang auf. »Hey, ich hab wirklich die Nase voll von dir. Ich bin immer noch der Produzent und ich kann dich heute noch zurück in die Staaten schicken, zusammen mit einer saftigen Rechnung für alle deine Reisekosten.«

»Andy …« Nat hoffte, einschreiten zu können, bevor sie einen Punkt erreichten, von dem es kein Zurück mehr gab, aber vielleicht war es schon zu spät.

»Nein, Nat. Ich weiß, wie gutmütig du bist, aber seien wir doch ehrlich – es war mein Fehler, diesen Typen an Bord zu bringen, und von Anfang an hat er sich als Arschloch erwiesen. So jemanden brauchen wir nicht im Team.«

»Ich habe mehr Recht darauf, in diesem Team zu sein, als du. Was hast du bisher beigetragen, abgesehen von verlorener Zeit und Gejammere?«

Nats Mund klappte auf. Sie war ja schon einigen Vollpfosten begegnet, aber noch niemandem, der so entschlossen war, sich unbeliebt zu machen. »Ich lasse nicht zu, dass du so mit meinem Produzenten redest, Steven. Ohne ihn wären wir nicht einmal hier. Du kannst dich entweder entschuldigen und aufhören, Stunk zu machen, oder du gehst nach Hause. Deine Entscheidung.«

»Du kannst mich nicht zwingen, zu gehen.« Steven kniff die Augen zusammen.

»Vielleicht nicht ich persönlich, aber Igor vermutlich schon, sollte es dazu kommen.«

Igor hob beschwichtigend die Hände. »Alle ganz ruhig bleiben. Was sind wir, Kinder?«

»Ich sehe das wie Nat. Steven sollte sich bei Andrew entschuldigen.« Lana wandte sich dem Bergsteiger zu: »Was du gesagt hast, war gemein und unangebracht. Niemand ist das schwächste Glied. Wir alle haben etwas beizutragen.«

Nat rechnete fest damit, dass Steven auf stur schaltete und wirklich fies wurde, aber wieder einmal war er für eine Überraschung gut. »Du hast recht, es war nicht richtig, das zu sagen. Es tut mir leid, Andrew. Und ich entschuldige mich auch bei den anderen. Es liegt nicht in meiner Absicht, ein Arschloch zu sein. Ich stehe unter enormem Stress und habe es an euch ausgelassen. Bitte verzeiht mir.«

Alle schauten zu Andrew mit der Ansicht, dass es seine Entscheidung war, die Entschuldigung zu akzeptieren oder nicht. Selbst Nat, die ihn am besten kannte, war sich nicht sicher, wie ihr Freund reagieren würde. Er war erschöpft und hatte vermutlich auch Schmerzen. Zu behaupten, dass er nicht in Bestform sei, war die Untertreibung des Jahres.

Andrew schwieg für einen Moment und lächelte schließlich. »Entschuldigung angenommen. Das hier ist schon hart genug, ohne dass wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen. Und du bist tatsächlich ein wertvolles Mitglied des Teams, solange du aufhören kannst, ein Arschloch zu sein.«

Nat hielt den Atem an, aber Steven trat vor, um Andrews Hand zu schütteln. »Abgemacht. Und ich war ernsthaft besorgt um dich, auch wenn es nicht ganz so rüberkam. Wir sollten sichergehen, dass du die nötigen Nährstoffe bekommst. Sonst kann das bei den Temperaturen und der Höhenlage ziemlich gefährlich für dich werden.«

»Schon okay. Ich bin nicht wirklich Vegetarier. Ich hab das nur gesagt, damit du Joe und Anubha in Ruhe lässt.«

»Wow, ich war wohl wirklich ein Arschloch.«

Igor klopfte dem Bergsteiger auf die Schulter und Nat fiel auf, dass Steven sich kein Stück dabei rührte. Zum Glück war es nicht zu physischer Auseinandersetzung gekommen. Sie war sich nicht mehr sicher, ob der Russe gewonnen hätte. »Ja, das warst du, aber das ist vorbei. Jetzt wir essen Plastik-Nudeln, ja?«

Die Gruppe lachte und Nat beobachtete, wie sich die gespannte Atmosphäre auflöste wie eine Wolke, die sich über sie gelegt hatte. Sie nahm sich vor, beim Essen neben Steven zu sitzen und herauszubekommen, was ihn so unter Druck setzte. Auch wenn er ihr nicht ganz geheuer war, war es doch ihr Job, sich um solche Dinge zu kümmern.

Lana war jedoch schneller als sie. »Was beschäftigt dich, Steven? Können wir irgendwie helfen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ihr lacht mich nur aus, wenn ich’s sage.«

»Nein, werden wir nicht.« Lanas Beharrlichkeit wurde vom beipflichtenden Murmeln der anderen begleitet. »Was ist los?«

»Wie viel wisst ihr eigentlich über die Djatlov-Gruppe? Ich meine, was wisst ihr wirklich?« Steven schritt neben dem Feuer auf und ab, sah jeden von ihnen an.

Joe zuckte mit den Schultern. »Ich kenne die wesentlichen Fakten. Neun russische Skifahrer sind hier verloren gegangen und ein Suchteam hat ein oder zwei Wochen später die Leichen gefunden. Bis heute weiß niemand genau, wie sie gestorben sind, manche glauben, es war eine Lawine.«

»Die Lawinentheorie macht überhaupt keinen Sinn. Es war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort dafür. Außerdem gab es keine Spuren einer Lawine, wie sie am Zelt oder Lagerplatz zu erwarten gewesen wären«, sagte Lana.

Steven nickte. »Sie hat recht. Kennt jemand ein paar der anderen Theorien?«

»Für uns Russen das sein eine große Sache. Ich glaube, ich sie alle gehört haben.« Igor zählte sie an seinen Fingern ab. »Waffentests, Regierungsverschwörung, UFOs, Wildtiere, der Wind um den Berg hat sie verrückt spielen lassen, die Mansen …« Er senkte seinen Kopf in Wasilis Richtung, der ausdruckslos zuhörte. »Entschuldige.«

»Gar nicht schlecht. Aber du hast eine vergessen. Fällt dir ein, welche es ist?«

»War das nicht Bigfoot oder so was?«, fragte Anubha und Igor kicherte.

»Oh ja, Bigfoot. Den ich habe vergessen.«

»Dicht dran. Nicht Bigfoot, sondern der Yeti. Auch als Schneemensch bekannt.« Von allen war Steven der Einzige, der nicht schmunzelte, aber Nat war das bereits gewohnt.

»So lächerlich.« Anubha rollte mit den Augen. »Aliens? Bigfoot? Sorry, Yetis. Wer soll das glauben?«

»Ich zum Beispiel«, sagte Steven. In der darauffolgenden Stille hätte man eine Schneeflocke fallen hören können.

»Du machst Witze, oder?«, fragte Joe, aber Nat wusste, dass dem nicht so war. Das Gesicht des Bergsteigers war so ernst, es hätte in Stein gemeißelt sein können.

»Ich hab ja gesagt, dass ihr lachen würdet.«

»Wir lachen nicht, Steven. Es ist unerwartet, das ist alles. Du wirkst sonst so …« Lana verstummte.

»Was, vernünftig? Zurechnungsfähig?«

»Ernst ist, was ich sagen wollte.«

»Ich meine es ernst. Was ich glaube, schließt das nicht aus.«

»Also, an was glaubst du? UFOs, Yetis oder alles zusammen?«, fragte Andrew.

»Zu UFOs kann ich nichts sagen, aber ich finde, es ist ziemlich egozentrisch von uns, zu glauben, dass es keine anderen Planeten mit intelligentem Leben gibt – und ich benutze intelligent sehr großzügig an dieser Stelle. Aber das ist ja nicht anders zu erwarten, nicht wahr? Menschen sind nun mal sehr ich-bezogen. Wir haben nur uns selbst im Sinn.«

Und mit einem Mal war Steven wieder die gute, alte Frohnatur, die sie kennen und lieben gelernt hatten. »Was für ein aufmunternder Gedanke.«

Er nagelte sie mit seinem verstörend intensiven Blick fest. »Nein, Nat, es ist total deprimierend. Aber es ist deswegen nicht weniger wahr.«

»Also Yetis. Daran glaubst du?«, fragte Igor.

»Ja, aber lasst mich ausreden. Ich habe meine Gründe. Vor ein paar Jahren war ich im Six Rivers National Forest wandern, an der Grenze zu Oregon. Wie üblich war ich allein, was mich nicht stört. Tatsächlich ist mir das sogar lieber.«

Es war schwer, nicht die Augen zu verdrehen. Was für eine Überraschung.

»Na, zumindest brauchte ich nicht lange, um festzustellen, dass ich nicht allein war. Irgendetwas verfolgte mich. Zuerst habe ich gedacht, es wäre ein Tier, aber es schien zu intelligent zu sein. Was auch immer mich verfolgt hat, konnte kritisch denken. Und es hatte Daumen.«

»Was?«, rief Lana. »Wie hast du das denn rausbekommen?«

»Ich habe nachts meine Vorräte in die Bäume gehängt, in einem Netz, und als ich aufgewacht bin, war mein Rucksack durchwühlt und sämtliches Essen, das nicht in Dosen war, war weg. Hier kommt der eigenartige Teil – was auch immer mein Zeug durchwühlte, hat das Netz losgebunden und meinen Rucksack geöffnet, ohne ihn zu beschädigen oder mich wachzumachen. Welches wilde Tier ist zu so etwas fähig?«

»Also war es ein Mensch«, sagte Andrew und äußerte dabei Nats eigene Gedanken.

»Das hatte ich auch gedacht, also habe ich in der nächsten Nacht eine Kamera aufgestellt. Und glaubt mir, was am nächsten Morgen zu sehen war … war kein Mensch.«

Nat lief ein Schauer über den Rücken. Arschloch oder nicht, der Mann konnte Geschichten erzählen.

»Willst du sagen damit, du hast Bigfoot auf Video?«, fragte Igor, dessen Augenbrauen unter seiner Fleece-Mütze verschwanden.

»In der Tat. Ich vermutete einen Schwindel, irgendein Scherzkeks im Affenkostüm, der die Wanderer beklaut, also hab ich die Aufnahmen ein paar Videoproduktionstypen gezeigt, die ich kannte. Dann hab ich sie Zoologen vorgeführt. Sie haben es alle bestätigt. Kein Schwindel.«

»Aber wenn du echte Aufnahmen von Bigfoot hast, das wäre unbezahlbar«, sagte Nat. »Du könntest berühmt sein.«

»Diese Art von Ruhm möchte ich nicht.«

»Und was hast du mit dem Video gemacht?«, fragte Anubha. »In irgendeine Schublade gesteckt?«

»Nein, dafür ist es viel zu kostbar. Sagen wir einfach, es ist an einem sicheren Ort, wo es keiner je finden wird.«

»Aber warum? Diese Art von Beweismaterial, falls es existiert, würde alles verändern.« Andrew hob eine Augenbraue, als er Nat ansah. Sie konnte sich denken, was in seinem Kopf vorging. Wenn sie Steven nur davon überzeugen könnten, an die Öffentlichkeit zu gehen, was für einen Podcast würde das abgeben? Der daraus resultierende Ruhm könnte zu sehr viel mehr als nur einer Gehaltserhöhung führen.

»Oh, es existiert. Aber die Art und Weise, wie es die Dinge verändern würde, ist genau das, was ich nicht will.«

»Was meinst du?«, fragte Lana, aber Nat war sich ziemlich sicher, worauf Steven hinauswollte. Es lag an seinem Kommentar über die zerstörerische Natur ihrer Spezies.

»Denk doch mal nach. Sobald ich die Beweise veröffentliche, würden die Leute über den Wald herfallen, um ihn zu sichten. Dabei würden sie einen der schönsten Naturräume zerstören, die wir noch haben. Und falls sie die Kreatur finden? Dann würden sie die auch zerstören, alles im Namen der Wissenschaft.«

»Was für Spuren hat er hinterlassen?« Joe nickte seiner Frau zu, die ihm die Teller reichte, damit er sie mit dampfenden Spaghetti befüllen konnte. Es roch genauso gut und sah ebenso lecker aus wie das Essen im italienischen Restaurant. Nat lief das Wasser im Mund zusammen.

»Das ist es ja. Abgesehen von der enormen Größe war es genau das, was mich davon überzeugt hat, dass es kein dummes Tier war. Die Kreatur trug so was wie selbstgemachte Schuhe, Pflanzen und Rindenstücke an die Füße gebunden. Es hinterließ eine Schleifspur, die alles Mögliche hätte sein können. Es sah sicherlich nicht wie ein Fußabdruck aus.«

Die Gruppe wurde still, während sie die Vorstellung vom Sasquatch in Schuhwerk verdaute. Es war eine unglaubliche Geschichte, aber Nat dachte nicht, dass der Bergsteiger alles nur erfunden hatte. Er hatte wirklich alles gesehen, wie er es erzählt hatte, oder er glaubte, es gesehen zu haben.

»Dass du gesehen dieses Ding in USA, heißt noch lange nicht, dass es ist hier, in Russland«, sagte Igor.

»Hast du von der Notiz gehört, die man in Djatlovs Zelt gefunden hat?«, fragte Steven.

Nat wusste davon und ein eisiger Schauer überkam sie, der nichts mit den niedrigen Temperaturen zu tun hatte.

»Darauf stand: Von nun an wissen wir, dass Schneemenschen existieren.«

DJATLOV PASS - Die Rückkehr zum Berg des Todes

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