Читать книгу DJATLOV PASS - Die Rückkehr zum Berg des Todes - J.H. Moncrieff - Страница 9
Kapitel 3
Оглавление
Ich habe einen Fehler gemacht.
Der Gedanke hatte sich erstmals bei Nat eingeschlichen, als sie ihrem Mansen begegnet war, einem schmächtigen Mann mit kurzem, gewelltem Haar und einem zerfurchten Gesicht. Wasili sprach mit einem deutlichen Akzent, der aber keines Dolmetschers bedurfte.
»Und du bist sicher, dass du kein Problem damit hast, uns da raufzubringen?«, fragte sie gleich, nachdem sie sich miteinander bekanntgemacht hatten, in der Hoffnung auf ein kerniges Zitat über die Schrecken des Cholat Sjachl, des berüchtigten Berges der Toten.
Der Mann betrachtete sie mit dunklen Augen, die doch überraschend kühl wirkten. »Würde lieber nicht, aber Zeiten sind hart. Viele meiner Leute hungern. Andere gehen weg von Dorf. Ich werde tun, was ich muss.«
Es klang ominös, aber Nat ließ sich nicht beirren, entschlossen, sich nicht von dem Mansen einschüchtern zu lassen. »Wann soll es morgen losgehen?«
Wasili schaute zu jedem Mitglied ihres Teams, bevor er antwortete. Anubha, die verblüffend schöne Spurenleserin. Ihr Ehemann Joe, der mehr als ein wenig ungeschliffen wirkte. Der blonde russische Skilehrer mit dem treffenden Namen Igor, der lächelte und so oft nickte, dass Nat sich fragte, wie viel er wirklich verstand. Lana, eine kanadische Überlebensexpertin, die einst olympische Skifahrerin gewesen war. Steven, ein Amateur-Bergsteiger aus Kalifornien. Und zu guter Letzt Andrew und sie selbst.
Andrew, Strandmensch durch und durch, zitterte in seinem neuen Parka und stampfte mit den Füßen, um sie zu wärmen. Sie waren noch nicht einmal zehn Minuten hier draußen. Zum hundertsten Mal spielte sie mit dem Gedanken, ihn im Hotel in Wischai zurückzulassen, aber ihr Produzent war immer Teil ihrer Abenteuer gewesen. Es wäre ohne ihn nicht das Gleiche, eher wie eine Wanderung, bei der einem ein Bein fehlte.
Ursprünglich hatten sie geplant, eine neunköpfige Gruppe zusammenzustellen, die den Eigenschaften und der Zusammensetzung von Djatlovs Gruppe entsprechen sollte, aber das stellte sich bald als unmöglich und vielleicht sogar gefährlich heraus. Jemanden auszuwählen, weil er oder sie jung, blond und russisch war, anstatt versiert im Bergwandern zu sein, wäre reiner Wahnsinn gewesen, auch wenn es eine gute Show abgegeben hätte.
»Sie sind bereit, dein Team? Sie haben Training? Der Pass ist Kategorie III. Schwieriges Gelände. Nur die mit viel Erfahrung sollten gehen.«
Nats und Andrews Blicke trafen sich und sie hatte sofort Verständnis für die Panik, die in seinen Augen aufblitzte. Von den sieben Teammitgliedern war ihr Produzent am wenigsten vorbereitet, direkt gefolgt von ihr selbst. Im Gegensatz zu den anderen waren sie keine Spitzenathleten oder Überlebensexperten. Sie hatten zwar trainiert, bis ihre Muskeln protestierten und jeder neue Schmerz vom alten nicht mehr zu unterscheiden gewesen war, aber dennoch – auf kalifornischen Bergen herumzukraxeln war kaum in der gleichen Liga wie das, was sie morgen erwartete. Nats schlanke Gestalt war durch die viele ungewohnte Bewegung eher drahtig, beinahe hager geworden, was ihr nicht zugutekäme, sollte sie irgendwo auf dem Pass stranden. Sie beschloss, nahe bei Anubha zu bleiben. Oder vielleicht besser bei Wasili, da er derjenige mit der Schusswaffe war.
»Ja, haben wir.« Beim Anflug von Zweifel im Gesicht des Mansen hob sie leicht trotzig ihr Kinn. Was ihr an körperlicher Leistungsfähigkeit fehlte, glich sie mit Sturheit mehr als aus. Sie würde Andrew huckepack auf den Berg tragen, wenn es sein musste.
»Glaubt dein Volk wirklich, dass der Berg verflucht ist?«, fragte Lana.
Wasilis Antwort war ein Blick, der so vernichtend war, dass die Olympiakämpferin sichtbar in ihrem Daunenparka zusammenschrumpfte. »Mein Volk lebt in Wirklichkeit, wir nicht glauben an Märchen. Cholat Sjachl kein guter Ort, aber nicht wegen Fluch.«
»Was meinst du? Was macht ihn so schlimm?«, warf Nat ein, da sie das Gefühl hatte, ihre Landsmännin, deren Wangen rot angelaufen waren, retten zu müssen.
Er zuckte mit den Schultern. »Das Wetter. Das Gelände. Die Wildtiere. Viel Risiko, wenig Ausbeute.«
»Tiere? Ich dachte, das heißt Berg des Todes, weil es da kein Wild gibt.« Stevens Bemerkung hatte etwas Herausforderndes, gerade genug, dass Nat sich fragte, ob sie mit dem Bergsteiger ein Problem bekommen würden. Sie wünschte, sie hätten mehr Zeit gehabt, um sich als Gruppe zu akklimatisieren, die Stärken und Schwächen jedes Einzelnen kennenzulernen, bevor sie die Tour unternahmen. Aber Zeit war nun mal Geld, wie es hieß.
»Vielleicht niemand hat Bescheid gesagt den Bären und Wölfen«, erwiderte Wasili. Anubha lachte leise in sich hinein.
Bären und Wölfe. Manche Leute spekulierten, dass ein wildes Tier Ljudmilas Gesichtswunden verursacht hatte. Aber welches Tier entfernt nur die Zunge und die Augen und lässt den Rest des Gesichts intakt? Nat lief ein Schauer über den Rücken. Der Mansen war nicht wegen seiner charmanten Art angeheuert worden.
Igor sprach Wasili auf Russisch an und beide Männer lachten. Vielleicht brauchte sie doch noch einen Dolmetscher. Lachten sie über sie? Es war kein beruhigender Gedanke.
»Wir sollten bei Sonnenaufgang losgehen, wenn wir das erste Lager erreichen wollen, bevor es dunkel wird«, sagte Igor und entblößte seine perfekten Zähne. »Das wird ein sehr langer Tag. Wir sollten gut ausgeruht sein.«
»Klingt gut. Also um sieben?«, fragte Andrew und Nat entging der amüsierte Blickwechsel zwischen Igor und Wasili nicht.
»Fünf«, sagte Wasili und starrte den Produzenten an, als forderte er ihn zum Einwand auf. Andrew, der oft erst um fünf Uhr morgens ins Bett ging, schluckte schwer.
»Ich schlage vor, wir essen zu Abend und gehen dann schlafen. Wir haben ein Festmahl in einem traditionellen Restaurant in der Nähe arrangiert.« Nat versah ihre Worte mit soviel Enthusiasmus, wie sie nur konnte, trotz der nervösen Unruhe, die sich in ihr breitmachte. War es ein Fehler gewesen, die Teilnehmer aufgrund ihrer Fähigkeiten statt Persönlichkeit auszuwählen? Sie waren alle so unterschiedlich, die einzige Gemeinsamkeit war die Liebe zur freien Natur. Und Liebe war vielleicht auch nicht das richtige Wort, vor allem nicht in Wasilis Fall.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, warf Wasili seinen Rucksack über die Schulter. »Ich lieber essen was Einfaches in Zimmer. Ich euch sehen morgen um fünf.« Er ging, ohne auf eine Antwort zu warten.
»Sonst noch jemand?«, fragte Nat und drückte innerlich die Daumen. Sie befürchtete, Igor würde dem Beispiel folgen, aber der Skilehrer rührte sich kein Stück. Sie war sich ziemlich sicher, dass die Aussicht auf ein extravagantes Mahl mehr damit zu tun hatte als ihre Gesellschaft. »Alles klar, los geht’s. Bis fünf Uhr ist es nicht mehr lange hin.«
Immerhin stöhnte niemand. Als das Team sich in Bewegung setzte, unterhielt sich Lana mit Anubha und ihrem Mann, während Igor und Steven Kriegsgeschichten vom Bergsteigen austauschten. Dennoch haftete die Einstellung des Mansen wie ein Leichentuch an ihr, und der eisige Windstoß, der sie begrüßte, als sie das Hotel verließen, war auch nicht unbedingt hilfreich. So gern sie auch davon sprach, wie zäh Kanadier waren, war das leider auch schon alles – Gerede. Sie war nicht ohne Grund nach Kalifornien umgezogen.
»Wasili ist ein richtiger Charmebolzen, was?«, sprach Andrew leise, damit der Rest der Gruppe nichts mitbekam.
»Zum Glück haben wir ihn nicht wegen seiner Persönlichkeit engagiert. Falls er uns in einem Stück zum Djatlov-Pass und zurück bringen kann, reicht mir das.«
»Falls?« Ihr Produzent hatte ein Talent dafür, selbst die kleinsten Nuancen auszumachen. »Hast du etwa Zweifel?«
Nat zog ihren Schal höher um ihre Wangen, als der bitterkalte Wind Tränen in ihre Augen trieb. »Wir haben sechs Monate lang trainiert, Andrew. Djatlovs Freunde haben so etwas ihr Leben lang gemacht, und was ist passiert? Zweifel sind gesund. Es wäre verrückt, nicht zu zweifeln.«
»Wahrscheinlich. Was auch immer ihnen zugestoßen ist – du glaubst doch nicht wirklich, dass es immer noch da ist, oder?«
»Ich denke, unsere größten Herausforderungen werden das Wetter, die Strapazen und unsere eigene Paranoia sein. Egal, was Igor und seine Freunde getötet hat, es kann unmöglich noch sechzig Jahre später da draußen sein.«
Sie hoffte, dass sie zuversichtlicher klang, als sie wirklich war. Die Wahrheit war, dass sie keine Ahnung hatte, was mit der Djatlov-Gruppe passiert war. Was hatte neun erfahrene Bergsteiger derart erschreckt, dass sie ihr Zelt aufgeschlitzt hatten und in Unterwäsche nach draußen gerannt waren? Warum hatte Ljudmilas Gruppe so viel länger überlebt und solche schrecklichen und schweren Verletzungen erlitten? Woher war die erhöhte Strahlung an der Kleidung gekommen und warum waren die Spitzen mancher Bäume an der Lagerstelle verbrannt gewesen? Irgendetwas hatte die Bergsteiger in Angst und Schrecken versetzt, und nach dem zu urteilen, was sie ereilt hatte, zu Recht. Aber was war es gewesen? Es gab eine Million von Theorien, alle letztendlich unbefriedigend.
»Scheiße, ist das kalt. Hättest du nicht beschließen können, das Rätsel des Bermuda-Dreiecks zu lösen?«
Lächelnd hakte sich Nat bei Andrew ein und kuschelte sich enger an ihren Produzenten, um sich zu wärmen. »Das sollte vielleicht unsere Belohnung fürs Überleben sein.«
Falls ihr es überlebt.
Diese fiese Stimme in ihrem Kopf schon wieder, die darauf beharrte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Aber natürlich würden sie überleben. Warum auch nicht? Sie hatten das beste Team, das ausgefeilteste Equipment. Was auch immer Ljudmila und ihren Freunden damals in den Fünfzigern zugestoßen war, es musste einfach eine rationale Erklärung dafür geben. Ihre Aufgabe war es, das herauszufinden, und nicht, bei dem Versuch umzukommen.
»Wasili ist mir nicht geheuer«, sagte Andrew.
»Er ist nicht der Allerfreundlichste, das stimmt. Aber sieh das mal aus seiner Sicht. Seine Art zu leben stirbt langsam aus und um seine Familie zu ernähren, muss er nun einen Haufen einfältiger Touristen über den gefährlichsten Berg der Region zerren. Wenn ihn das ein bisschen unwirsch oder mürrisch macht, kann ich ihm das nicht verübeln.«
»Einfältige Touristen? Das weise ich entschieden zurück.«
»Du weißt, was ich meine. Aus seiner Perspektive. Er kann ja nicht wissen, wie toll unser Team ist.«
»Schon besser.«
Während sie dem Rest der Gruppe zum Restaurant folgten, versuchte Nat herauszufinden, was es war, dass sie immer noch störte. War es Wasilis Weltuntergangsstimmung? Die Tatsache, dass sie in die Fußstapfen von neun Menschen traten, die auf ungeklärte und grässliche Weise gestorben waren? Oder doch etwas anderes?
»Wir werden das packen, richtig?«
Die Besorgnis in Andrews Stimme entsprach ihren eigenen Gedanken. Sie drückte seinen Arm. »Aber natürlich packen wir das. Bevor du dich versiehst, sitzen wir mit Margaritas in der Sonne und lachen darüber.«
»Ich hoffe, du hast recht.«
Ich auch.
***
Die Russen, die sie zum Essen willkommen hießen, waren fröhlich und freundlich und verteilten augenblicklich großzügige Gläser hausgemachten Wodkas, als die Gruppe eintraf. Lana sah skeptisch auf ihr Glas, als es über den alten Holztisch bis in ihre Hand glitt.
»Ich weiß nicht, ob wir trinken sollten. Wir müssen morgen früh fit sein.«
»Ein bisschen Wodka hat noch niemandem geschadet«, sagte Igor, der sein Getränk mit einem herzhaften Na zdrowie herunterstürzte. Er grinste und stieß sein leeres Glas an ihr volles, bevor er sich noch eines nahm. »Wärmt das Blut. Probier mal.«
Nat hielt den Atem an, als sie auf die Reaktion der Athletin wartete. Sie wusste nicht, wie es in Russland aussah, aber in vielen Ländern galt es als Beleidigung, einen Drink abzulehnen.
»Ich schätze, einer kann nicht schaden.« Mit einem zaghaften Lächeln nahm Lana einen kleinen Schluck, der sofort in einem Hustenanfall resultierte. Mit Tränen in den Augen griff sie sich an die Kehle. »Wow, ziemlich stark.«
Alle lachten, als Igor ihr auf den Rücken klopfte. »Siehst du? Das ist wirklich gutes Zeug. Das gibt Haare auf der Brust.«
»Na, das ist ja genau das, was ich brauche.« Ihre Tränen abwischend setzte sich Lana neben den Russen. Sie ließ ihr Glas unberührt, aber das Eis war gebrochen. Nat konnte wieder durchatmen. Nach dieser kurzen Interaktion zu urteilen, sollte ihre Gruppe gut miteinander klarkommen.
Sie war überrascht, als Steven den Stuhl neben ihr wählte. Er war derjenige, über den sie am wenigsten wusste. Er war in letzter Minute dazukommen, aber Andrew hatte erwähnt, dass seine Referenzen so außergewöhnlich waren, dass er nicht hatte widerstehen können. Nat vermutete, dass das gute Aussehen und die leuchtend blauen Augen des Mannes ihr Übriges getan hatten.
Ihre Gastgeber füllten erneut die Gläser und reichten Suppenschalen herum, zusammen mit dicken Scheiben dunklen Roggenbrots. Nat beugte sich über die Schale, damit der aufsteigende Dampf ihre immer noch gefrorene Nase wärmte. Die Suppe hatte einen hübschen, überraschend strahlenden Magentaton. Borschtsch.
»Nervös wegen morgen?«
Steven betrachtete sie mit einer Intensität, die sie als leicht verstörend empfand, als ob diese türkisfarbenen Augen direkt durch sie hindurch sehen konnten. Sie zog Lügen in Betracht, entschied sich dann aber für eine Halbwahrheit. »Ein bisschen, und du?«
»Nö. Ich hab den Everest überstanden. Was diese Jungs Kategorie III nennen, ist lachhaft.« Er butterte seine Brotscheibe, aber seine Aufmerksamkeit war weiterhin auf sie gerichtet. Sie konnte nichts weiter tun, als zu versuchen, sich ihre Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. Nat wurde schnell unsicher in der Gegenwart schöner Männer. Warum um alles in der Welt hatte sie einem homosexuellen Mann die Teamauswahl überlassen?
»Du warst auf dem Mount Everest? Wie war das so?« Sie war noch nie jemandem begegnet, der den höchsten Berg der Welt erklommen hatte. Auch wenn sie keine vergleichbaren Bestrebungen hatte, faszinierten sie solche Menschen. Es war äußerst riskant, sowohl persönlich als auch finanziell. Bergsteiger mussten mindestens fünfunddreißigtausend Dollar aufbringen, um den Aufstieg beginnen zu können, ohne Garantie, jemals den Gipfel zu erreichen. Und selbst, wenn das Wetter gnädig genug war, um die Gipfelbesteigung zu wagen, war der Berg übersät mit den Leichen derer, die versagt hatten.
»Phänomenal. Eines der großartigsten Erlebnisse, die die Welt zu bieten hat. Kann es nur wärmstens empfehlen.«
Sein unbeirrter Blick fühlte sich unangenehm an. Nat konzentrierte sich auf ihre Suppe, darauf, die warme Rüben-und-Rindfleisch-Mischung in ihren Mund zu löffeln. Mit einem Hauch von frischem Dill war die Suppe herzhaft und erfrischend zugleich. »Oh, das ist überhaupt nicht meine Liga. Ich würde es noch nicht mal ins Basislager schaffen.«
Ganz zu schweigen davon, dass sie es sich nicht leisten konnte. Ihr Podcast lief gut, aber nicht gut genug, dass sie fünfunddreißig Mille für ein derart riskantes Abenteuer aus dem Fenster werfen konnte.
»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Ich wette, du kannst alles schaffen, was du dir vornimmst.«
Nat sah auf, verwundert über das Kompliment. »Danke. Das ist sehr nett, vor allem, wenn man bedenkt, dass du mich so gut wie gar nicht kennst.«
»Wie läuft’s denn?«, flüsterte Andrew von der anderen Seite, vermutlich neidisch, dass Andrew sich neben sie gesetzt hatte. Ihr Produzent hatte bereits angefangen, den Bergsteiger hinter seinem Rücken als McDreamy zu bezeichnen. Sie trat unter dem Tisch gegen sein Bein, ihr geheimes Signal für nicht jetzt.
»Oh, ich kenne dich besser, als du denkst. Ich habe mir jede Episode von Nats Mysteriöse Welt angehört.«
»Echt?« Sie wusste, dass sie treue Zuhörer hatte, aber jede Episode? Eine wöchentliche Sendung über fünf Jahre ergab … na ja, eine Menge Episoden.
»Ja, wirklich.« War da ein Funkeln von Belustigung in seinen Augen? »Hat dein Produzent dir nicht erzählt, dass ich ein Fan bin? Ich glaube, das hat ihn davon überzeugt, mich mitkommen zu lassen.«
»Muss er vergessen haben.« Sie gab Andrew noch einen Tritt unterm Tisch, mehr aus reinem Vergnügen als zur Strafe.
Riesige Speiseplatten wurden an die Tische gebracht und Igor stand auf, um etwas zu sagen. Er strahlte, eindeutig in seinem Element. Nat konnte sich langsam für ihn erwärmen. Jedes Team brauchte eine Stimmungskanone.
»Etwas ganz Besonderes euch erwartet, meine lieben Freunde. Das sind Bliný, auch bekannt als russische Eierkuchen. Die sind besser als das, was ihr im Westen gewohnt seid, ja? Die sind aus Buchweizen.« Er sprach in seiner Muttersprache mit ihren Gastgebern, bevor er fortfuhr. »Elena sagt, es gibt Räucherlachs, hausgemachten Schmand und Kaviar. Wenn ihr nicht mögt Fisch, dann probiert Pilze. Lasst es euch schmecken. Priyatnogo appetita!«
Eine weitere Platte, diesmal Hühnchen-, Lamm- und Rinderspieße, erforderte keine Erklärung, genauso wenig wie der russische Kartoffelsalat. Nats Magen grummelte, als sie ihren Teller voll schaufelte, wobei sie für einen Moment vergaß, wegen ihres Tischnachbarn beunruhigt zu sein.
»Wie bist du eigentlich zu diesem Kram gekommen?«
»Hmpf?«, nuschelte Nat um einen Bissen Räucherlachs und Eierkuchen herum. Mh, lecker. Sie war normalerweise kein Fan von Schmand, aber diese hausgemachte Variante hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem geschmacklosen Zeug aus dem Supermarkt.
Steven lächelte geduldig. Sein Teller zeigte deutlich mehr Zurückhaltung als ihrer. »Ich hab gefragt, wo dein Interesse herkommt.«
»Was, fürs Essen?« Denn Essen war im Moment alles, was ihr wichtig war. Vielleicht könnten die anderen Kohlat Sykhl die Stirn bieten, während sie hier unten auf den Borschtsch und die Bliný aufpasste.
»Nein, das bizarre Zeug. Monster, UFOs, Geister. Das Paranormale, wie du es vielleicht nennst.«
»Also eigentlich ist es mehr das Unerklärliche, das mich reizt. Ich versuche unvoreingenommen zu bleiben. Der ganze Rest gehört einfach dazu, schätze ich.« Nat fragte sich, warum sie das erklären musste, wenn Steven doch solch ein Fan der Show war. Wenn er wirklich jede Episode gehört hatte, müsste er es dann nicht schon längst wissen? »Wenn jemandem etwas Unglaubliches passiert ist, etwas, das nicht viele Leute glauben oder verstehen würden, dann fühlen sie sich von einem empfänglichen Publikum angezogen. Ich versuche mein Bestes, um dieses Publikum zu sein.«
»Aber warum? Was hat ursprünglich dein Interesse geweckt? Hast du etwas Unerklärliches erlebt?«
Nat unterdrückte ein Seufzen. Genau darum ging es bei diesem Treffen – sich gegenseitig kennenzulernen, ein Team zu werden. Aber sie wünschte, Steven würde sich mal für ein paar Minuten nur mit seinem Essen beschäftigen. Seine Fixiertheit auf sie machte sie verlegen. Aber es wäre unhöflich, ihn zu ignorieren.
»Nicht wirklich. Zumindest nichts Dramatisches. Ich war auf jeden Fall schon an Orten, die so ein Feeling haben, bei dem man Gänsehaut bekommt und sich einem die Nackenhaare aufstellen, aber darüber hinaus, abgesehen von ein paar unerklärlichen Geräuschen, habe ich selbst nichts Paranormales erlebt.«
»Unerklärliche Geräusche?«
»Ja, du weißt schon, Türen, die von allein zugehen, Dinge, die einfach runterfallen, Rascheln. Standard-Geisterbahn-Material.«
»Aber du möchtest mehr erleben.«
Das war eine Feststellung, keine Frage, aber nach der Art zu urteilen, wie Steven sie anstarrte, erwartete er eine Antwort. Sie dachte einen Augenblick nach und nutzte die Gelegenheit für einen weiteren Bissen Bliný, diesmal mit Pilzen. Mmmh. Wer hätte gedacht, dass russisches Essen so lecker schmeckte? Sie hatte eine Menge Kartoffeln und Kohl erwartet und nicht wenig darüber hinaus.
»Genieße es, solange du kannst«, murmelte Andrew, der scheinbar ihre Gedanken gelesen hatte. »Ab morgen gibt’s dann nur noch dehydrierte Spaghetti und Astronautenkost.«
Igitt. Sie freute sich nicht gerade auf das Essen unterwegs. Nicht etwa das Terrain, nein, die Cuisine galt es zu überleben.
»Du wirst dich noch wundern. Einige der Mahlzeiten in diesen Plastiktüten sind sogar ziemlich gut«, sagte Lana. »Vor allem nach einem langen Tag auf der Piste. Das wird dir vorkommen wie das Beste, was du jemals hattest.«
»Und Joe und ich werden unsere Mahlzeiten mit frischem Fleisch strecken«, sagte Anubha. »Ich hab meine Armbrust mitgebracht. Wir sind bereit für die Jagd.«
»Frisches Fleisch über offenem Lagerfeuer. Es gibt nichts besseres«, sagte Igor und alle murmelten ihre Zustimmung. Alle, außer Steven. Was war nur los mit dem Typ? War er einer von diesen komischen Leuten, die nur der profanen Nahrungsaufnahme wegen aßen?
»Klingt, als würden wir da oben fürstlich versorgt«, warf Nat ein, darauf erpicht, das Einzelgespräch mit ihrem Tischnachbarn zu beenden. Normalerweise beantwortete sie Fragen zum Podcast mehr als gern, aber da war etwas an Stevens Verhörtechnik, das bei ihr das Verlangen nach einer Dusche auslöste.
»Wir werden uns schon auf der Piste quälen, kein Grund, das im Lager fortzusetzen. Mit ein wenig Glück bereitet uns Anubha gebratenes Kaninchen, das einen umhaut.«
Andrew nahm sich einen weiteren Grillspieß. »Klingt gut.«
»Ich habe noch nie Kaninchen gegessen.« Lana rümpfte die Nase. »Ich weiß nicht, ob ich etwas Niedliches und Flauschiges essen kann.«
»Was ist mit dem Lamm?« Igor zeigte auf den halbgegessenen Grillspieß auf ihrem Teller. »Das war niedlich und flauschig.«
»Das ist Lamm? Ich hab gedacht, es wär’ Rind!«
Alle lachten bei Lanas übertriebenem Ausdruck von Entsetzen. Wieder mal alle, außer Steven. Lana hat eindeutig die Rolle des Spaßvogels in der Gruppe übernommen, freiwillig oder nicht. Laut dem, was Andrew erzählt hatte, war die Blondine tatsächlich ziemlich scharfsinnig. Nat musste sich unwillkürlich fragen, ob die einfältige Marylin-Monroe-Rolle nur Fassade war.
»Du findest also, dass nur niedliche Tiere leben dürften? Findest du Kühe nicht niedlich?«
Oh-oh. Nat vermutete, dass Igor Lana nur necken wollte, aber dieses Gespräch konnte schnell eine unerwartete Wendung nehmen. Joe ging dazwischen, bevor sie es konnte.
»Wechseln wir das Thema. Wir sind doch alle Freunde, oder? Niemand muss irgendwas essen, was er oder sie nicht will. Kein Zwang. Anubha und ich werden fangen, was wir können, und wir teilen gern mit jedem, der möchte. Nichts für ungut, wenn jemand nicht will.«
Andrew stupste ihren Arm. Sie wusste, was ihm durch den Kopf ging. Der Diplomat. Es gab in fast jeder Gruppe einen. Nat war froh, dass Joe diese Rolle übernommen hatte. Bevor sie sich jedoch zu sehr auf die Schulter klopfen konnte, richtete Steven zum ersten Mal an diesem Abend das Wort an die Gruppe.
»Das ist ein wenig anmaßend, oder nicht?«
Lanas Erdbeermund klappte auf. Sogar Igor war sprachlos. Nur Joe schien von Stevens brüsker Art unbeeindruckt zu sein. »Verzeihung … was ist anmaßend?«
»Zu behaupten, wir wären Freunde. Tatsächlich kennen wir uns überhaupt nicht. Und da oben auf dem Berg kann alles ganz schnell sehr ernst werden. Dann heißt es nur noch jeder für sich. Hab ich alles schon gesehen.«
»Das ist keine positive Einstellung«, sagte Lana. »Vielleicht kennen wir uns nicht sehr gut, aber bis zum Ende der Woche wird sich das ändern. Und ich hoffe, wir werden Freunde.« Sie schaute lächelnd um den Tisch. Anubha lächelte zurück.
»Ich bin nicht hier, um positiv zu sein, sondern um zu überleben. Ich schlage vor, dass ihr euch auch darauf konzentriert, wenn ihr bis zum Ende der Woche durchhalten wollt.«
Nat rutschte von Steven weg, bis ihr Bein das von Andrew berührte. Ugh. Ihr erster Eindruck war der richtige gewesen. Dieser Typ war ein Arsch.
»Ich weiß, dass du ‘ne Menge Erfahrung hast, aber bei allem gebührenden Respekt, das ist nicht der Mount Everest«, sagte sie. »Unser Überleben steht außer Frage.«
»Seid ihr noch ganz bei Trost? Ihr tut so, als wäre das ‘ne Art Party, stopft euch die Bäuche voll und hebt die Tassen. Habt ihr vergessen, warum wir hier sind? Wisst ihr nicht mehr, was diesen Leuten zugestoßen ist?«
»Natürlich wissen wir das noch. Deswegen sind wir hier«, erwiderte Anubha.
»Entschuldige, aber vielleicht sind manche von uns dankbar für diese Chance, und dafür, hier in Russland zu sein.« Lana runzelte die Stirn. »Ich, für meinen Teil, finde, es ist eine großartige Gelegenheit, und ich bin froh, Teil davon zu sein. Wenn du das nicht wertschätzen kannst, warum bist du dann hier?«
Gute Frage, dachte Nat. Warum bist du hier? Eine Piste der Kategorie III ist offensichtlich keine Herausforderung für dich, warum also bist du hergekommen?
»Wertschätzen? Bin ich hier der Einzige, dem sein Leben etwas wert ist? Warum sollte ich es wertschätzen, mein Leben aufs Spiel zu setzen?«
»Nichts für ungut, Steven, aber wir riskieren wohl kaum unsere Leben. Es wird eine Herausforderung, ja, aber du hast schon Schlimmeres durchgemacht und lebst noch. Wovor hast du Angst?«, fragte Igor.
»Wovor ich Angst habe? Ich fürchte mich vor demselben Etwas, das Djatlov und seine Freunde getötet hat. Und wenn ihr keine …« Steven starrte jedes Mitglied der Gruppe einzeln an. Als seine eisblauen Augen auf ihre trafen, war es für Nat unmöglich, wegzusehen. »Und wenn ihr keine habt, dann seid ihr lebensmüde.«