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Kapitel 2

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Ein bekanntes Mitglied des IN-Ratsausschusses und sein zierlicher Consort wurden heute Morgen dabei gesehen, wie sie die Platt Street hinuntergerannt sind. Hat der Marquis den Verstand verloren? Vielleicht liegt es an den Überstunden, die er im House of Lords ableistet. Gerüchten zufolge ist er schon wieder mit Ratsherr Eversleigh über politische Fragen aneinandergeraten.

– Aus der Regelence Post, Kolumne über die Geschehnisse im House of Lords

Es gab Momente in seinem Leben, auf die er zurückblickte und sich fragte, ob er von allen guten Geistern verlassen war. Das hier war so ein Moment. Eigentlich fragte Blaise sich gar nicht, er wusste es ganz sicher.

Während er sich rücklings an die Backsteinmauer in der Gasse neben dem Herrenausstatter Hart and Sons lehnte, starrte er hinunter auf seine Füße, als könnten sie ihm Antworten liefern. Niemals in seinen zweiundzwanzig Lebensjahren hatte er eine solche Hitze wie die erlebt, die ihn verzehrt hatte, als er dem Blick dieses Mannes begegnet war. Er war sich nicht sicher, ob ihm das Gefühl gefiel. Nein, er war überzeugt, dass es ihm völlig egal war. Trotz der beißend kalten Luft und seines fehlenden Wintermantels war ihm heiß und sein Herzschlag überschlug sich unkontrolliert.

»Tut mir leid.« Bannon schob sich in sein Sichtfeld und knabberte an seiner Unterlippe. »Geht's dir gut? Kannst du wieder atmen?«

Ach, jetzt macht er sich Sorgen? Blaise fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und nickte. Wenn Bannon schlussfolgerte, dass ihm noch immer die Nachwirkungen des Sturzes zu schaffen machten, würde Blaise ihn bestimmt nicht korrigieren. Er konnte ja wohl kaum zugeben, dass er auf der Stelle umkehren und sich wieder in die Arme dieses Mannes werfen wollte. Da war es doch besser, weggerannt zu sein und für einen echten Trottel gehalten zu werden.

»Ich hab diesen Hut gesehen und musste ihn haben. Ich wollte nicht, dass sie alle runterfallen. Ich hätte auf dich hören sollen, aber ich war mir sicher, dass ich ihn schon kriege.« Bannon setzte Blaise seinen Hut auf den Kopf und legte ihm den Mantel um die Schultern, als würde er ein Kind ankleiden.

Oh, um Himmels… Blaise stopfte die Arme in seinen Paletot. Als großer Bruder war es an ihm, die Verantwortung zu übernehmen. Er sollte Bannon mal ordentlich den Kopf waschen. Diesmal hatte er es wirklich verdient. Er hatte nicht nur sich selbst in Gefahr gebracht, sondern hätte auch andere dadurch verletzen können. »Wegen dir habe ich den Mann in Grün verloren.«

Louisa, die hinter Bannon stand, verzog schuldbewusst das Gesicht. »Glaubst du, der Mann im grünen Gehrock hat die Frau des Admirals erwischt?«

»Ich hoffe nicht, aber ich werde es Vater und dem Ausschuss berichten müssen.« Und er freute sich nicht darauf. Ihren Eltern würde nicht gefallen, dass er auf den Markt gegangen war, doch er konnte jetzt auch nicht schweigen, um seine eigene Haut zu retten. »Betty schwebt vielleicht in Gefahr und wir müssen sie schnell ausfindig machen.« Wenn ihr irgendetwas zustieß, weil er Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hatte… Nun, darüber wollte er nicht nachdenken. Er rückte seinen Hut zurecht, sah sich in der düsteren Gasse um und erschauderte heftig. Er musste wirklich nicht ganz bei Sinnen gewesen sein, als er geflüchtet war. Überall lagen Pappkartons, Holzkisten und Abfall herum. »Lasst uns gehen.«

Ein Rascheln – oder war es ein Schlurfen? – hallte von den Wänden der umstehenden Gebäude wider und eine der Kisten bewegte sich leicht. Wahrscheinlich Ratten oder anderes Getier. Igitt, er hasste Nager. Das würde seinem Unglück noch die Krone aufsetzen.

Louisa schrak bei dem Geräusch zusammen und drehte sich um. »Hättest du dir nicht einen besseren Zufluchtsort aussuchen können?«

»Ich… bin in Panik geraten«, gab er widerwillig zu.

Louisas Mundwinkel hoben sich und als hätte sie seine Gedanken gelesen, fragte sie: »Er war ziemlich umwerfend, nicht wahr?«

Sehr, doch Blaise weigerte sich, das laut auszusprechen. »Darum geht es hier doch gar nicht. Bannon hat sich schon wieder einen Skandal geleistet und diesmal hat er mich mit hineingezogen.«

Bannon hatte zumindest den Anstand, verlegen das Gesicht zu verziehen. »Was genau wirst du Vater und Sire sagen?«

Blaise hob beide Augenbrauen.

»Oh nein! Du wirst ihnen doch nichts von dem Hut-Zwischenfall erzählen, oder?« Bannon biss sich erneut auf die Unterlippe und spähte unter seinen roten Strähnen zu Blaise hinüber. »Du weißt doch noch, was Vater mir beim letzten Mal angedroht hat, nicht wahr?«

Beim verdammten schwarzen Loch! Das hatte er ganz vergessen. Als Bannon letzten Monat auf dem Ball des Earls of Baxter seine Tanzkarte quer über die Tanzfläche geschleudert und dafür gesorgt hatte, dass mehrere Tänzer gestürzt waren, hatte Vater gedroht, ihn aufs Land zu schicken. Blaise wollte seinem Bruder im Moment vielleicht gern den Hals umdrehen, doch er hatte ihn trotzdem lieb. Er tippte mit den Fingern gegen seinen Arm und versuchte, sich einen Plan einfallen zu lassen – und zwar schnell.

»Ich hab's!« Louisa blieb stehen und drehte sich zu ihnen um, sodass sie zwischen ihnen und dem Ausgang der Gasse stand. »Wir sagen einfach, dass irgendetwas Blaise am Kopf getroffen hat und er ohnmächtig geworden ist.«

»Was denn? Ein Hut?« Blaises Lippen zuckten. »Ich wurde von einem Hut am Kopf getroffen und bin dadurch bewusstlos geworden? Und wieso genau ist dieser Hut runtergefallen?«

Louisa sank in sich zusammen und wandte sich wieder dem Ende der Gasse zu.

Bannon kicherte. »Es war ein sehr schwerer Hut, der schon halb über der Regalkante hing, und den Rest hat die Schwerkraft erledigt.«

Blaise stieß ihm seinen Ellbogen zwischen die Rippen.

»Wie wäre es, wenn wir den Herrenausstatter überhaupt nicht erwähnen?« Er wollte nicht, dass sein Bruder fortgeschickt wurde, und fand es ganz sicher nicht reizvoll, seinen Eltern beichten zu müssen, dass er jemandem praktisch auf dem Schoß gesessen hatte. Bei der Erinnerung an die solide Kraft an seinem Rücken und den warmen Atem, der über sein Ohr gestrichen war, durchlief ihn ein Schauer. »Hat uns noch irgendjemand gesehen? Abgesehen vom Geschäftsinhaber und dem… Mann?« Es war egal, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht hatte atmen können. Der ton würde sich gnadenlos auf ihn stürzen, weil er sich gegen den anderen Mann gelehnt hatte.

Louisa schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«

Bannon, der sich erneut auf ihre Umgebung konzentriert hatte, riss den Kopf wieder zu Blaise herum und seine Augen wurden groß. Ein träges Lächeln schlich sich auf seine Lippen.

Das konnte nichts Gutes bedeuten. Er musste noch jemanden gesehen haben oder…

»Und ich habe mich schon langsam gefragt, ob du vielleicht hetero bist.«

Was? Blaise hatte irgendetwas erwartet, aber sicher nicht das. Er erstarrte. Nachdem er sein ganzes Leben zusammen mit Bannon verbracht hatte, sollte er daran gewöhnt sein, wie seine Gedanken von einem Thema zum nächsten sprangen, doch offensichtlich war er das nicht. »Was hat das denn bitte mit…«

»Du hast gerade geglüht und deine Stimme hat ganz wehmütig geklungen, als du der Mann gesagt hast.«

Wie um alles in der Welt glühte man denn? »Sei nicht albern. Das hab ich nicht. Und woher willst du wissen, wie sich sehnsüchtig anhört?«

»Du hast definitiv geglüht«, stimmte Louisa zu.

Blaise warf ihr einen finsteren Blick zu. Das war das Problem, wenn man ständig mit Künstlern verkehrte: Sie waren äußerst aufmerksam. Verflixt noch mal. Er scheuchte sie weiter.

»Wenn jemand dich gesehen hat, kannst du doch sagen, dass du von etwas getroffen wurdest…«

Bei den beiden bekommt man durch die ganzen Themenwechsel noch ein Schleudertrauma. »Zum Beispiel von einem Hut?«, unterbrach Blaise sie.

Louisa fuhr fort, als hätte er nichts gesagt, aber wenigstens war sie wieder in Bewegung. »… und der Mann ist zu dir geeilt, um dich zu retten. Das klingt romantischer, als dass er in dich hineingerannt ist.«

»Das ist nicht romantisch.« Außer man zählte, dass er ihm atemlos Süßer ins Ohr… Verfluchter Mist. In Blaises Magen flatterte es wieder. »Und ich bin nicht hetero. Selbst wenn ich es wäre, wäre daran nichts falsch.« Er nickte einmal, um seine Aussage zu unterstreichen. Na großartig, jetzt bin ich es, der zu einem anderen Thema springt.

»Er hat recht. Und es ist überhaupt nichts falsch daran, hetero zu sein.« Louisa streckte Bannon die Zunge heraus.

»Na gut, dann eben blind.« Bannon schnaubte und erschauderte übertrieben. »Hast du dir die Männer, mit denen du getanzt hast, überhaupt mal angeschaut?«

Das war ein weiteres Detail über Künstler: Sie meisterten üblicherweise alle Künste, unter anderem die Schauspielerei.

»Natürlich habe ich mir die Männer angeschaut, mit denen ich getanzt habe. Ich bin schließlich derjenige, der mit ihnen tanzt. Was hast du für ein Problem mit meiner Partnerwahl? Wenigstens tanze ich.«

»Vielleicht solltest du mal einen Tanz mit Ashbourne probieren.«

»Ashbourne?« Blaise ergriff Bannon am Ellbogen und schob ihn vorwärts. Warum führte er diese Unterhaltung – diese Unterhaltungen – überhaupt mit ihnen?

»Der Earl of Ashbourne. Du weißt schon, der Mann, der dir… eh… uns so galant zur Hilfe geeilt ist.«

Oh, bei den Sternen! Er stolperte über seine eigenen Füße. Ein Earl? Das bedeutete, dass sich ihre Wege noch einmal kreuzen würden. An Blaises Wirbelsäule prickelte es genauso heftig, wie sich sein Magen verkrampfte. »Ashbourne? Wo habe ich diesen Titel schon mal gehört?«

»Er ist der Neffe von King-Consort Raleigh.«

»Der Erbe des Marquis of Ravensburg?«

»Jepp.«

Verdammt. Ravensburg war ein Mitglied des IN-Ratsausschusses auf Regelence und es wurde gemunkelt, dass sein einziger Sohn durch und durch ein Schwerenöter war. Ein minderjähriger Schwerenöter, was sogar noch schlimmer als die normale Sorte war. Der Earl of Ashbourne frönte dem Glücksspiel, trank, flirtete und vergnügte sich sogar mit anderen Lebemännern. Er war ein lasterhafter Mann und aus irgendeinem Grund sorgte dieser Gedanke dafür, dass Blaises Magen sich verkrampfte. Was wirklich dumm war, weil er sowieso keine Zeit für einen Verehrer hatte.

Die Geräusche von den Gleitern auf der Straße und das leise Rauschen des Windes in der Gasse kamen ihm ohrenbetäubend vor. Blaise sah zu seinen Begleitern hinüber und erkannte, warum.

Weder Bannon noch Louisa sagten ein Wort. Stattdessen starrten sie ihn beide an, ohne nach vorne zu schauen. Bannon stieß beinahe mit einem Mann zusammen, der seinen Hund ausführte, als sie die Gasse verließen.

Blaise packte seinen Bruder am Arm und lenkte ihn um den erschrockenen Pudel herum. »Warum starrt ihr mich beide so an?«

»Wir versuchen herauszufinden, wie lange du vorgeben kannst, dass Ashbourne keine Wirkung auf dich hat.« Das kam von Bannon.

»Ashbourne hat keine Wirkung auf mich.« Lügner. Wieder erfasste ihn dieser kleine Schauer und setzte ein Ausrufezeichen hinter seine Lüge.

»Uh-huh, das sehe ich.«

Frag nicht. Genau das will er doch. Seufzend ignorierte Blaise die viel klügere Stimme in seinem Kopf. »Was soll das denn heißen?«

Bannon kicherte und ging an ihm vorbei zu ihrem Gleiter, der gerade am Straßenrand angehalten hatte. Er öffnete die Tür und ließ die Stufen ausfahren. Als er ohne ein weiteres Wort hineinstieg, sah Blaise zu Louisa.

Sie lächelte und fragte: »Wo ist dein Krawattentuch, Redding?«

Was? Blaise schaute nach unten, griff sich an den Hals und fand tatsächlich nur nackte Haut. Verflucht! Kein Wunder, dass sein Hals sich so kalt anfühlte.

Townsend Castle, Classige, Pruluce (Residenz der königlichen Familie von Regelence)

»Verdammter Mist!« Das kalte Wasser spritzte über seine Vorderseite und ergoss sich über seine polierten Stiefel auf den grünen Marmorboden. Während seiner Zeit im aktiven Militärdienst hatte Dalton eine ganze Menge Verwerfliches gesehen und getan, aber es gab Dinge, die sogar für ihn zu heimtückisch waren. Wie zum Beispiel… einen Mann mit Wasserbomben zu bewerfen, sobald er durch die Tür kam.

Während er noch tropfend da stand, brach die Eingangshalle des Schlosses in vielstimmiges Gelächter aus.

Dalton starrte finster hinauf zu seinen Cousins, die auf der Galerie standen. Offenbar hatten sie nicht dieselben Gewissensbisse. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und wischte die Flüssigkeit weg – er führte die Finger zum Mund und berührte sie zaghaft mit der Zunge; ja, zum Glück war es nur Wasser. So viel zu einem Willkommen zu Hause. Jetzt wusste er auch, warum Jeffers ihn nicht begrüßt hatte.

Wie aufs Stichwort sagte der Butler: »Guten Morgen, Lord Ashbourne.«

»Morgen, Jeffers. Danke für die Vorwarnung.«

»Ich habe Euch nicht vorgewarnt, Mylord. Ich wurde angewiesen, die Tür nicht zu öffnen.« Der gute alte Jeffers. Sarkasmus ging komplett an ihm vorbei.

»Das dachte ich mir.« Mit zuckenden Lippen nahm Dalton den geplatzten roten Ballon von seiner Stiefelspitze, wo er nach der kurzen Begegnung mit seinem Gesicht gelandet war.

»Wir haben jemand anderen erwartet.« Mit einer blauen Wasserbombe in der einen Hand und einer gelben in der anderen eilte Aiden die Treppe herunter.

»Und ich dachte, das wäre mein Empfang. Ich weiß nicht, ob ich beleidigt sein soll, dass ihr es vergessen habt, oder froh, dass ich nicht das eigentliche Ziel war.«

Aidens Stiefsohn Jeremy – der es vorzog, mit seinem Spitznamen Trouble angesprochen zu werden, statt mit seinem Titel Marquis of Winstol – schlenderte hinter einer Ritterrüstung neben dem Frühstückszimmer hervor und trug ebenfalls zwei Wasserbomben in den Händen.

Auf der Galerie hörte man Tarren glucksen und Muffin spähte um den Treppenaufgang zu Daltons Rechten herum.

Colton gesellte sich zu Aiden, während er sich Freudentränen aus den Augenwinkeln wischte und sich mit einer Hand den Bauch hielt. »Tut mir wirklich leid, Satansbraten.« Er war der Einzige, der nur noch einen Ballon besaß.

»Wir dachten, du wärst Wentworth«, sagte Muffin.

Ah, also war Wentworth die unglückliche Zielperson. Was erklärte, warum Colton als Erster geworfen hatte – er hatte versucht, seinen Consort zu überfallen.

»Mach dir keinen Kopf. Darf ich mir den mal ausleihen, werter Cousin?« Ohne auf eine Antwort zu warten, schnappte sich Dalton den gelben, mit Wasser gefüllten Ballon aus Aidens Hand und warf ihn Colton ins Gesicht.

Colton prustete ganze zwei Sekunden lang recht spektakulär vor sich hin und schleuderte dann seinen verbliebenen Ballon auf Daltons Brust.

»Aaah…« Der hier war sogar noch kälter als der letzte. »Colton, du bist so tot.«

Danach war jeder auf sich allein gestellt. Ballons flogen durch die Luft und Wasser spritzte umher. Alle suchten nach Deckung, lachten und schlitterten über den Marmorfußboden. Bei der Galaxie, wie hatte er das vermisst. So viel Spaß hatte er seit mindestens zwei Wochen nicht mehr gehabt.

Er raste zum Arbeitszimmer und stürzte durch die Tür, wobei ihm Muffin dicht auf den Fersen war. Dann drückte er sich neben der Tür an die Wand und fühlte sich wie ein Kind, das Verstecken spielte.

Die Tür schloss sich mit einem Klick und Muffin nahm den Platz neben ihm ein. Sie war kaum weniger durchnässt, als er sich fühlte. Ihr hübsches rotes Haar klebte ihr im Gesicht und Wasser rann über ihr Kinn, als sie lächelnd zu ihm aufsah, wobei sie zwei fehlende Vorderzähne entblößte. »Ich bin auf deiner Seite, Dalton«, sagte sie und reichte ihm eine lilafarbene Wasserbombe.

»Vielen Dank, Mylady.« Nachdem er sie entgegengenommen hatte, verbeugte er sich vor ihr und streckte die Hand aus, um ihre Schulter zu tätscheln, doch bevor er sie erreichen konnte, wurden sie von einem lauten Ruf unterbrochen.

»Was in aller…?«

Dalton zuckte zusammen und Muffin quietschte. Vielleicht war sie auch zusammengezuckt, doch da war Dalton sich nicht sicher. Er hatte bereits begonnen, nach dem Ursprung des Schreis zu suchen.

Hinter dem wuchtigen Mahagoni-Schreibtisch stand Onkel Raleigh und hielt die Hände in einer ungläubigen Geste auf Schulterhöhe in die Luft. Neben ihm auf dem Bürosessel saß Onkel Steven, der ein wenig benommen und ziemlich zerknittert aussah. Bei näherem Hinsehen entdeckte Dalton, dass Onkel Raleighs Krawattentuch teilweise gelöst worden und sein tiefschwarzes Haar zerzaust war. Es schien, als hätten Dalton und Muffin hier etwas unterbrochen. Was auch erklären würde, warum Raleigh der Wasserschlacht nicht schon längst ein Ende gemacht hatte. Offensichtlich hatte er sie nicht gehört.

Pure Heiterkeit sprudelte in Dalton über und brach sich in lautem Lachen Bahn. »Bei der Galaxie, es ist schön, wieder zu Hause zu sein.«

Muffin starrte ihn mit großen blauen Augen an, dann wanderte ihr Blick zum König und zu seinem Gemahl, bevor sie die Tür aufriss und flüchtete.

Ein lautes Ächzen einer männlichen Stimme, ein Platschen und ein leises, feminines Quietschen folgten auf ihren Rückzug.

Dalton lachte so heftig, dass ihm der Bauch wehtat.

Onkel Raleigh allerdings wirkte nicht einmal annähernd so amüsiert. Kopfschüttelnd fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare und sagte: »Willkommen zu Hause, Ashbourne.« Schließlich spielte doch ein Lächeln um seine Mundwinkel. »Ich schätze, ich kann dich nicht dafür verantwortlich machen, da du gerade erst angekommen bist?«

Dalton schüttelte den Kopf und deutete auf seine durchnässte Uniform. »Ich bin ein unschuldiges Opfer.«

Onkel Steven presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, doch das Beben seiner Schultern und das Funkeln in seinen Augen waren nicht zu übersehen. Er sah zu Raleigh hinauf und räusperte sich. »Und mich kannst du auch nicht dafür verantwortlich machen, weil ich hier drin bei dir war.«

Stöhnend verpasste Raleigh Stevens Ohr einen leichten Klaps.

»Au.« Steven legte die Hand auf den malträtierten Körperteil. »Das ist häusliche Gewalt, Cony.«

Raleigh ignorierte seinen misshandelten Ehemann, umrundete den Tisch und breitete die Arme aus.

Dalton trat in die Umarmung. Das war die Begrüßung, auf die er gewartet hatte, obwohl die Wasserschlacht auch schön gewesen war.

Raleigh wich zurück, um ihn zu mustern. »Du bist kräftiger geworden.«

»Das hat das Training fürs RSR so an sich.« Dalton straffte die Schultern ein wenig und drückte die Brust ein bisschen heraus. Niemand hätte ihn in der Vergangenheit jemals als übergewichtig bezeichnet, doch jetzt war er in der Form seines Lebens und musste wegen der neuen Muskeln in Schultern und Brust sogar eine ganze Hemdgröße aufstocken.

»Du hast dich also dafür entschieden?«

»Das war doch die ursprüngliche List, oder? Dass ich in die Fußstapfen meines Großvaters treten möchte.« Sein Großvater – Raleighs Vater, der fünfte Marquis of Ravensburg – war Kommandant des Sonderregiments von Regelence gewesen. »Also…« Er hob die Arme zu seinen Seiten. »Jetzt bin ich ein ausgebildeter Soldat der Sondereinsatztruppe und werde ab morgen in zwei Wochen dem RSR unter Kommandant Tippin beitreten.« Er hatte nie vorgehabt, groß Karriere zu machen, als er dem Plan vor zwei Jahren zugestimmt hatte, doch jetzt wollte er nichts anderes. Die harte Arbeit erfüllte ihn auf eine Art, wie es kaum etwas anderes schaffte.

»Ich bin stolz auf dich, Dalton.« Raleigh klopfte ihm auf den Arm und sah ihn eine ganze Weile einfach nur an.

Die Liebe, die sich in Raleighs Augen widerspiegelte, brachte Dalton ein wenig durcheinander, sodass er sich räusperte.

»Das hast du gut gemacht, Satansbraten. Hast du es schon deinen Eltern erzählt? Sie haben dir ein paar Nachrichten hinterlassen«, sagte Steven.

Und weg ist das glückliche Gefühl. Dalton konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken – und er versuchte es auch nicht –, aber er würde verdammt gerne den Schmerz loswerden, der an seiner Magengrube nagte. Irgendwie bezweifelte er, dass seine Eltern stolz auf ihn wären, selbst wenn er es ihnen erzählte. Ein Teil von ihm wollte es ihnen sagen, um zu beweisen, dass er recht hatte, doch der andere Teil wollte es genau aus diesem Grund für sich behalten. Nein, es war das Beste, wenn er ihnen für den Moment aus dem Weg ging, denn er war schon gereizt, wenn er nur an sie dachte.

Um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, schüttelte er die Wasserbombe in seiner Hand und sagte: »Habe ich euch bei irgendetwas gestört?«

»Ja, hast du. Wir haben gefeiert.« Steven warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Das haben wir tatsächlich.« Raleigh strahlte von einem Ohr zum anderen, streckte die Hand aus und wackelte mit den Fingern.

Dalton reichte ihm den lilafarbenen Ballon. »Was habt ihr denn gefeiert?«

»Die Tatsache, dass ich endlich die Verschlüsselung der Festplatte dechiffrieren konnte, die Robert Jenkins mir gebracht hat. Payton, Jeremy, Jeffers und ich haben alle daran gearbeitet.« Robert Jenkins war der Sohn des ehemaligen IN-Admirals, der verschwunden war, kurz nachdem er seinen Posten an Nate, Aidens Ehemann, abgetreten hatte. Vor sechs Monaten, während Dalton auf Heimaturlaub gewesen war, hatte Robert sich unerlaubt von seiner IN-Einheit entfernt, um sich auf die Suche nach seinen Eltern zu begeben. Doch stattdessen hatte er die Festplatte gefunden und sie Daltons Onkeln gebracht. Das Letzte, was Dalton gehört hatte, war, dass alle vom Tod des Admirals ausgingen.

»Versteckt sich Robert immer noch hier im Schloss?«

»Tut er. Er gehört jetzt zur königlichen Wache. Doch er kann das Schloss nicht verlassen, weil er von der IN als Deserteur gesucht wird.« Raleigh schritt an Dalton vorbei und ging zur Tür des Arbeitszimmers. »Und wo wir gerade von Wachen sprechen… wartet kurz.« Er spähte hinaus. »Jeremy, wenn du mich damit abwirfst, dann setzt es was.« Mit diesen Worten warf er den Ballon hinaus.

Irgendjemand schrie. Es klang nach Aiden.

Als sich Raleigh wieder Dalton und Steven zuwandte, lächelte er zutiefst schelmisch.

Dalton biss sich auf die Lippe, doch Steven versuchte nicht einmal, sich ein leises Lachen zu verkneifen.

Raleigh streckte noch einmal den Kopf aus der Tür und ordnete mit sehr ruhiger Stimme an: »Beseitigt das Chaos, Jungs, und keine Wasserschlachten mehr im Schloss.« Als er die Tür schloss, erklang ein vielstimmiges, niedergeschlagenes »Jawohl, Cony.«

»Wenn ich meinen Kopf durch die Tür gestreckt hätte, hätten sie mich bombardiert«, grummelte Steven.

»Hätten sie fast. Trouble hatte mich schon im Visier.« Raleigh klatschte in die Hände und rieb sie aneinander, dann lehnte er sich wieder neben Steven an die Schreibtischkante. »Wo waren wir?«

»Auf einem Weg, den wir nicht weiter verfolgen können, wenn Dalton noch anwesend ist.«

»Du sagtest etwas über Wachen…?«, half Dalton nach.

»Ah, ja.« Raleigh deutete auf den Stuhl. »Jetzt, da du wieder zu Hause bist, erwarte ich, dass du Wentworth über deine Ausflüge informierst und eine Wache mitnimmst.«

»Das kann nicht dein Ernst sein.« Auf keinen Fall würde er sich eine Wache aufhalsen lassen. Wie demütigend wäre das? »Dir ist schon klar, dass ich jetzt dieselbe Ausbildung absolviert habe wie Wentworth und seine Elite-Wachmänner, oder?«

»Du klingst wie Nate«, beklagte sich Raleigh.

»Ich habe eine viel spezialisiertere Ausbildung als Nate.« Rasch sah Dalton nach, ob Nate nicht doch irgendwo stand, denn Ausbildung hin oder her, sein angeheirateter Cousin war etwa zwölf Zentimeter größer und zehn Kilo schwerer als er und mit ihm war wirklich nicht zu spaßen. »Und es ist ja nicht so, als hätte ich eine Leibwache dabei, wenn ich in zwei Wochen abreise.«

»Da ist was dran«, sagte Steven.

Raleigh knurrte seinen Ehemann an. »Das ist nicht hilfreich.«

Steven zuckte mit den Schultern, als wollte er Ich hab's versucht sagen.

Dalton konnte sich den Sargnagel in seinem Sozialleben bildlich vorstellen. Er sprang auf die Füße und war bereit, für seine Freiheit zu kämpfen, wenn es nötig war. »Habt ihr etwas auf der Festplatte gefunden, das euch glauben lässt, ich wäre in Gefahr?«

»Nein. Aber ich bin mir jetzt noch sicherer, dass Admiral Jenkins ermordet worden ist. Setz dich.« Raleigh gestikulierte in Richtung Stuhl. »Du hast recht. Dein Training war nicht anders als das von Wentworth und seinem Team, aber…«, er hielt einen Finger in die Höhe und richtete den Blick des strengen Vaters auf Dalton, »… du besitzt nicht ihre Erfahrung.«

»Aber…«

Raleigh wischte seinen Einwand erneut zur Seite. »Du kannst dich ohne eine Wache bewegen. Die Galaxie weiß, dass ich sowieso nicht genügend Männer habe, aber wenn ich auch nur den leisesten Verdacht hege, dass jemand dich beobachtet oder dich beschattet…«

»Dann nehme ich eine Wache mit.«

»Exakt.«

Puh. Dalton wusste schon selbst, wann der richtige Zeitpunkt war, um abzuhauen. Er erhob sich, um sich aus dem Staub zu machen.

»Wo willst du hin?« Raleigh bedachte ihn mit dem Blick. Dem berüchtigten, den sein Onkel so gut beherrschte, komplett mit gehobener Augenbraue. Sein Cousin Rexley war ziemlich gut darin und Dalton konnte ihn auch nicht schlecht, wenn er das so behaupten durfte, doch Raleigh war der ungeschlagene Meister.

Der Blick zeigte Wirkung, so wie er es immer tat, und Dalton ertappte sich dabei, wie er sich innerlich wand, obwohl er das Herumzappeln über die Jahre zu unterdrücken gelernt hatte. »Ähm…« Er deutete mit seinem Daumen über die Schulter. »Deinen besten Brandy trinken und meine Cousins beim Billard schlagen?«

Der Blick blieb unbeirrt bestehen.

»Dabei helfen, das Chaos der Wasserschlacht aufzuräumen, das ich nicht verursacht habe?«

»Lauf, Dalton! Verschwinde, solange du noch kannst.« Steven lachte leise. »Und kein Brandy so früh am Morgen.«

Raleigh schlug Steven gegen die Schulter, dann scheuchte er Dalton hinaus. »Kein Brandy, Punkt.«

»In Ordnung, bis dann.« Dalton eilte zur Tür.

»Tja, ich schätze, damit ist ein Problem gelöst«, sagte Raleigh kaum hörbar. »Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, wo ich Wachleute für Eversleigh und seine Familie herbekomme.«

Dalton erstarrte mit der Hand auf dem Türknauf. Ist nicht wahr… So viel Glück kann ich gar nicht haben. Langsam drehte er sich um und entdeckte, dass Raleigh auf Stevens Schoß saß und sie nur Sekunden von einem Kuss trennten. »Der Duke of Eversleigh?«

Seine beiden Onkel wandten sich mit ähnlich verwirrten Mienen zu ihm um, dann nickte Raleigh. »Ja. Wieso?«

Dalton lehnte sich gegen die Tür. »Du meinst Redding und Lord Bannon?«

Wieder nickte Raleigh.

Oh Mann, oh Mann, oh Mann. Wenn er seine Karten richtig ausspielte… »Vielleicht kann ich helfen.«

»Inwiefern?« Raleigh runzelte die Stirn.

»Möglicherweise kann ich…«

Raleigh schüttelte bereits den Kopf. »Mir ist ja schon nicht ganz wohl dabei, dich ohne Wache losziehen zu lassen, Dalton. Warum sollte ich dir den Schutz eines anderen anvertrauen?«

»Weil du selbst gesagt hast, dass dir Wachleute fehlen.«

Steven sah zu Dalton, dann hoch zu Raleigh und fragte: »Warum nicht?«

»Machst du Witze?« Raleigh stand auf, stemmte die Hände in die Hüften und blickte finster auf Steven herab. »Satansbraten und Bannon zusammen? Warum lassen wir nicht gleich…«

»Ich meinte Redding.« Sobald die Worte Daltons Lippen verlassen hatten, wünschte er sich, er könnte sie zurückholen, denn schon wieder hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Onkel gewonnen.

Steven grinste.

Raleighs Augenbraue wanderte in die Höhe und verweilte dort mühelos.

»Na ja, wisst ihr, wie ihr schon sagtet, ich und Bannon…« Dalton plapperte hastig weiter. »Er spielt ziemlich viele Streiche und ihr wisst doch, wie ich sein kann. Er könnte mich wahrscheinlich zu etwas überreden, das…« Als ihre Mienen unverändert blieben, verstummte Dalton allmählich. Sie glaubten ihm kein Wort. Er hatte sich ziemlich reingeritten, aber verdammt noch mal, er war nicht bereit, jetzt schon aufzugeben. »Lass mich das tun, Onkel Raleigh, bitte. Ich kann das, versprochen. Du hast eine Sorge weniger und mir wird nicht langweilig, bis ich mich beim RSR in Devonshire melden muss.«

»Ihr bräuchtet eine Anstandsbegleitung, weil ihr vom gleichen Stand und in heiratsfähigem Alter seid«, murmelte Raleigh kopfschüttelnd.

Verflucht! Er würde Nein sagen.

»Erlaub es ihm, Cony.« Steven ergriff Raleighs Hände. Mit den Daumen rieb er über Raleighs Fingerknöchel, bevor er Raleigh wieder auf seinen Schoß zog. »Wie er schon sagte, er hat eine RSR-Ausbildung hinter sich, und bei der Galaxie, du hast den Jungen in seiner Kindheit selbst unterrichtet. Er war damals schon gut und jetzt stell dir vor, wozu er mit all den zusätzlichen Fertigkeiten fähig ist.« Er knabberte an Raleighs Ohr, dann blickte er über seine Schulter zu Dalton und zwinkerte ihm zu.

Dalton wollte ihn küssen! Bitte, lass es funktionieren. Wenn irgendjemand Onkel Raleigh von etwas überzeugen konnte, dann war es der König.

Raleigh lehnte seine Stirn an Stevens. »Du hast den Verstand verloren.« Er schloss die Augen und nach einigen angespannten Sekunden flüsterte er: »Ich habe den Verstand verloren.«

»Ja!« Dalton stieß die Faust in die Luft und grinste so breit, dass ihm die Wangen schmerzten. Nicht nur, dass er die Chance bekommen würde, einen besseren Eindruck auf Blaise zu machen – nein, jetzt hatte er sogar den perfekten Vorwand, um in seiner Nähe zu sein.

»Ich werde das bereuen, oder?«, fragte Raleigh.

»Natürlich nicht«, antworteten Dalton und Steven im Chor. Dalton versuchte angestrengt, sein Lächeln zu unterdrücken, doch er scheiterte kläglich.

Raleigh schüttelte den Kopf, sah zur Decke hinauf und murmelte etwas, das verdächtig nach »Galaxie hilf« klang. Schließlich wandte er sich mit völlig ernster Miene wieder an Dalton und deutete auf ihn. »Nur für zwei Wochen. Bis ich einen Ersatz gefunden habe oder du dich zum Dienst zurückmelden musst. Und… Redding muss einverstanden sein.« Zu Steven sagte er: »Wenn das Ganze nach hinten losgeht, steckst du genauso in Schwierigkeiten wie er.«

Erneut antworteten Dalton und Steven gemeinsam: »Jawohl, Sir«, doch Dalton salutierte noch zusätzlich.

Zwei Wochen waren gerade genug Zeit, um jemanden zu verführen.

Das Herz des Diplomaten

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