Читать книгу Target on our backs - Im Fadenkreuz - J.M. Darhower - Страница 11

Kapitel 5 Karissa

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„Heute, meine Damen und Herren, beschäftigen wir uns mit dem Thema Krieg.“

Der Außerordentliche Professor Rowan Adams steht in der Mitte des Klassenzimmers, seine Finger trommeln geistesabwesend auf den Hosenbeinen und sein Blick schweift über uns alle. Wir sind in einem vertrauten Klassenzimmer … demselben Klassenzimmer, in dem ich Philosophie gehabt habe. Man sollte denken, dass genug Zeit vergangen ist, dass sich niemand mehr davon beeinträchtigt fühlt, und vielleicht haben sie recht, ich weiß es nicht. All die provisorischen Gedenkstätten, die nach seinem Tod aufgetaucht waren, sind längst verschwunden. Aber ich weiß, dass es mich nervös macht, auch wenn es niemand anderem so geht.

Das Semester hat vor drei Wochen angefangen, und es ist mir immer noch unheimlich.

Professor Adams, der darauf besteht, dass wir ihn Rowan nennen, ist weit davon entfernt, so ein Lehrer zu sein wie Santino es war. Er ist offen, freundlich und geduldig. Ich habe nie gehört, wie er jemanden heruntergemacht hat. Er ist noch jung, höchstens Ende zwanzig, und kommt selbst gerade mit einem Diplom in Irgendetwas vom College. Okay, ich habe nicht aufmerksam zugehört, aber ich tippe auf Geschichte, denn das unterrichtet er. Vielleicht ist es also das Alter oder einfach seine Persönlichkeit, aber er unterrichtet die Klasse komplett anders, als Santino es getan hat.

„Nennt mir Gründe dafür, dass Menschen in den Krieg ziehen.“

Antworten werden überall um mich herum gerufen.

„Rache.“

„Stolz.“

„Dummheit.“

„Angst.“

„Schutz.“

„Liebe.“

Rowan stimmt den Antworten einer nach der anderen zu, weist lächelnd auf den betreffenden Studenten und konzentriert sich dann auf die letzte Antwort. Er wendet sich an den Typen, der sie gerufen hat – und der zufällig direkt hinter mir sitzt. Nicht doch. „Ah, ja, Liebe. Aber welche Liebe im Speziellen?“

„Für das Vaterland.“

„Für Gott.“

„Für Frauen.“

Wieder ist es der Typ hinter mir, der die letzte Antwort ruft und damit die Aufmerksamkeit des Professors auf sich zieht. Er wendet sich lächelnd an ihn. Die Blicke der meisten Studenten im Raum richten sich instinktiv auf ihn, und ich lasse mich tiefer auf meinen Platz sinken, weil ich nicht will, dass sie mich bemerken. Ich habe beim letzten Mal meine Lektion gelernt. Ich werde nie wieder die Aufmerksamkeit auf mich ziehen.

„Die Liebe einer Frau“, sagt Rowan. „Es gibt keinen heroischeren Grund, oder? Ob es darum geht, ihre Ehre zu verteidigen oder sich ihr zu beweisen, Männer haben seit Beginn der Zeiten Kriege um die Liebe einer Frau geführt … Kleopatra … Helena von Troja … wir alle kennen ihre Geschichten. Aber heute reden wir über Batseba.“

Er schlendert zum Schreibtisch vorn im Klassenzimmer – an dem er nie sitzt – und nimmt eine Bibel herunter.

„Während des Kampfes um das Heilige Land wurde König David von einer Frau namens Batseba in den Bann geschlagen. Das Problem war, dass Batseba mit einem seiner Soldaten verheiratet war – Uria. Das quälte König David, aber nicht genug, um ihn davon abzuhalten, mit Batseba zu schlafen. Die beiden hatten eine Affäre, aber König David war so verliebt, dass er sie ganz für sich allein wollte, besonders … besonders … als sie schwanger wurde. Stellt euch den Skandal vor! Dann zogen sie in die Schlacht von Rabbah, und König David beorderte Uria zur gefährlichsten Stelle auf dem Schlachtfeld in dem Wissen, dass der Soldat das nicht überleben würde. Seine Feinde vernichteten seinen Rivalen für ihn. Problem gelöst.“

Rowan macht eine Pause und sieht sich im Klassenzimmer um, um zu sehen, ob wir den Sinn dahinter verstanden haben.

„Stolz, Rache, Schutz, Angst, Liebe“, fährt er fort. „Wahrscheinlich noch eine gesunde Dosis Dummheit obendrauf. Es ist alles hier in diesem Buch. König David heiratete Batseba, als alles vorbei war, und sie gebar den gemeinsamen Sohn. Doch das Kind starb später. Er dachte, dass es eine Strafe wäre. Ihr seht also, dass Krieg immer Konsequenzen hat, selbst wenn man glaubt, gewonnen zu haben.“

Er wirft die Bibel zurück auf den Schreibtisch. Ein paar Leute stellen Fragen, die er freudig beantwortet. Er verfolgt den Grundsatz, dass man sich nicht die Mühe machen muss, die Hand zu heben, wenn man etwas sagen will – und auch den Grundsatz, dass er niemanden aufruft, der sich nicht freiwillig meldet. So kann ich mich wohl auf einen ziemlich ruhigen Kurs freuen.

Wenn der Kurs nur nicht in diesem verfluchten Raum stattfinden würde.

Ich harre den Rest der Stunde aus, mache mir ein paar Notizen und warte darauf, dass wir entlassen werden. Ich bin die Erste, die durch die Tür stürmt, die Erste, die draußen ist. Es ist mein drittes Jahr an der New York University, auch wenn ich technisch noch im zweiten Studienjahr bin. Ich habe durch meine Verletzung ein Semester verpasst.

Ich schlendere nach draußen, bleibe stehen und sehe mich um. Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Mein nächster Kurs fängt erst in einer Stunde an und normalerweise gehe ich einfach in die Bibliothek. Aber zum ersten Mal seit langer Zeit muss ich in keinem Fach etwas aufholen.

Einen Block weiter überquere ich die Straße und gehe zum Washington Square Park. Es ist ein schöner Tag, das Sommerwetter hält sich. Ich finde an einem der Gehwege eine leere Bank, setze mich und stelle die Tasche auf dem Boden neben meinen Füßen ab. Ich stecke meine pinkfarbenen Ohrhörer ein, stöpsle sie in mein Handy, drücke auf Musikspielen und sehe mich um.

Ich genieße den Ausblick und das Gefühl von Einsamkeit. Hier ist es sehr belebt, Studenten kommen und gehen, aber niemand stört mich. Tatsächlich scheint mich niemand zu bemerken. Es ist überraschend schön, sich unsichtbar zu fühlen. Früher habe ich mich danach gesehnt, dass mich jemand ansieht, mich bemerkt. Jetzt wünsche ich mir manchmal, ich könnte wieder verschwinden.

Ich will nicht sagen, dass mir mein Leben nicht gefällt, denn das tut es. Aber mir gefallen einige der Dinge, die passiert sind, nicht. Mir gefallen die ganzen Erinnerungen nicht, die mich hier verfolgen. Ich habe mir immer ein normales Leben gewünscht. Und nun ist nichts daran normal.

Ich habe etwa zwanzig Minuten auf der Bank gesessen, als mir etwas ins Auge fällt. Vertraute blonde Haare wippen zwischen den Leuten auf dem Weg in meine Richtung. Melody. Lächelnd ziehe ich einen Ohrstöpsel heraus und will sie gerade rufen, als mir jemand zuvorkommt, jemand, der in meiner Nähe steht. Die Stimme ist männlich, mit einem merkwürdigen Akzent, fast als hätte sie überhaupt keinen. Seltsam.

Ich drehe den Kopf und entdecke einen jungen Mann. Einen umwerfenden jungen Mann. Heilige Scheiße.

Ich beobachte, wie sich Melody ihm zuwendet, ihre Miene sich aufhellt und ihre Augen wie am vierten Juli aufleuchten. Und ich weiß es sofort, erkenne es an ihrem Gesicht … dieser ergriffene, sprachlose, einmalige Ausdruck.

Leo.

Er ist kein Dreckskerl mit Bierbauch, sondern sieht eher aus, als käme er direkt vom Laufsteg. Er ist groß und dünn, aber nicht schlaksig. Breite Schultern, gebräunte Haut, scharf geschnittenes Gesicht, ein sehr dunkler Typ. Sein Haar ist kohlrabenschwarz, die Brauen sind vielleicht etwas zu buschig, aber er trägt sie, als wären sie der letzte Schrei. Und was zur Hölle weiß ich schon? Vielleicht ist es so.

Seine Zähne sind so weiß, dass sie fast blenden, als er sie anlächelt. Er trägt Jeans und ein schwarzes Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgerollt hat, was bei ihm unvorstellbar heiß aussieht.

Ich liebe Naz. Wirklich. Ich liebe ihn mehr als alles andere auf der Welt. Als ich ihn das erste Mal sah, war ich sprachlos und im Rückblick wusste ich in diesem Moment, dass das Leben, wie ich es kannte, vorbei war. Naz ist die Art von Mann, der, wenn er in dein Leben kommt, es aus der Bahn wirft. Selbst wenn er wieder geht, wird sich die Welt danach nicht mehr wie vorher drehen.

Ich liebe ihn, trotz allem, mit jeder Faser meines Daseins.

Aber Leo. Whoa. Ich weiß Schönheit zu schätzen, wenn ich sie sehe. Für diese Art von Gesicht würden Frauen einen Schritt zu weit gehen, denke ich.

Sie gehen aufeinander zu, er schlingt einen Arm um sie und zieht sie an sich. Es ist nur eine kurze Umarmung, aber ich sehe, dass sie deswegen errötet. Er lässt sie wieder los, sagt etwas zu ihr, unterhält sich eine Weile mit ihr, doch ich bin zu weit entfernt, um die Worte zu verstehen. Je mehr er spricht, desto heller leuchten ihre Augen und schließlich nickt sie begeistert. Er küsst seine Fingerspitzen und drückt sie auf ihre Lippen. Das geschieht so schnell, dass ich es gerade so mitbekomme.

Dann geht er, wobei er einmal zu ihr zurückblickt und sie anlächelt, bevor er zwischen anderen Leuten verschwindet. Melody starrt ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen ist. Dann stößt sie ein lautes Quietschen aus. Sie springt auf der Stelle auf und ab, als hätte sie eine Art Anfall.

„Melody?“, rufe ich.

Meine Stimme lässt sie innehalten. Sie dreht sich so schnell zu mir um, dass sie fast fällt. „Karissa!“

Sie läuft zu mir herüber und schiebt mich auf der Bank wortlos ein Stück zur Seite. Ich mache ihr Platz und schiebe meine Tasche aus dem Weg, damit sie ihre abstellen kann.

„Das muss der berüchtigte Leo gewesen sein“, sage ich und zeige in die Richtung, in die er verschwunden ist. „Ich muss sagen, Mel, dass ich dich jetzt absolut verstehe.“

Sie lächelt und stupst mich aufgeregt an. „Habe ich es dir nicht gesagt? Ist er nicht perfekt?“

„Ja, der hat wirklich was.“

„Er hat sich gerade mit mir verabredet“, fährt sie fort. „Eine echte Verabredung, nicht nur ein Kaffee. Ich rede über Abendessen und Kino. Eine echte Verabredung.“

„Das ist fantastisch! Wann denn?“

„Heute Abend.“ Sie hat es kaum gesagt, da verdüstert sich ihre Miene. „Oh, mein Gott! Heute Abend! Wie spät ist es? Ich muss gehen! Ich muss meine Haare machen, mein Makeup und … oh Mist, was soll ich bloß anziehen?“

„Beruhige dich. Es ist erst ein Uhr mittags.“

„Dann habe ich nur noch sechs Stunden, um fertig zu werden!“

Ich lache leise über ihre Panik, bis sie nach meinem Arm greift und mich hochzieht. Sie schnappt sich unsere Taschen und zerrt mich hinter sich her. „Lass uns gehen!“

„Moment mal, ich habe gleich einen Kurs.“

„Himmel, das kann warten, Babe! Hast du nicht gehört? Ich habe ein Date!“

Ich bin mir nicht sicher, ob sie ihren Reim bemerkt hat. Normalerweise macht sie mich darauf aufmerksam, als wäre sie ein Rapper, der übt, aber ich glaube, dass sie im Moment zu aufgeregt ist, um das lustig zu finden. „Okay, okay, entspann dich, Dr. Seuss. Ich komme ja mit. Gib mir nur eine Sekunde.“

Sie hört auf, an mir zu zerren, ich nehme ihr meine Tasche ab, werfe sie mir über die Schulter und zeige auf den Gehweg. „Nach dir.“

Melody wohnt immer noch im Studentenwohnheim, im selben Zimmer, das wir uns früher geteilt haben, bevor ich auszog und heiratete. Mich überkommt ein Anflug von Nostalgie, als wir in der dreizehnten Etage angelangen, und ich blicke lächelnd auf die Tür, die sie aufschließt: 1313.

Das weckt so viele Erinnerungen, aber im Gegensatz zum Klassenraum sind es zumeist schöne Erinnerungen.

Mir vergeht das Lächeln jedoch in dem Augenblick, als sie die Tür aufschiebt und mein Blick auf ihre aktuelle Mitbewohnerin fällt. Es ist die vierte seit meinem Auszug. Sie bleiben nie lange. Das neue Mädchen dreht sich um, kneift die Augen zusammen und sieht uns böse an. Solche Feindseligkeit sollte einem von einer Fremden nicht entgegenschlagen. Sie knallt ihr Buch zu, schnappt es und rennt aus dem Zimmer, direkt an uns vorbei, ohne ein Wort zu sagen.

Melody nimmt das ziemlich ungerührt hin. Ich beobachte, wie das Mädchen direkt zu den Fahrstühlen geht und auf den Knopf hämmert, als hätte er sie beleidigt. Sie ist ein hübsches Mädchen – rothaarig, mit grünen Augen und Sommersprossen – aber ihr finsterer Gesichtsausdruck macht sie irgendwie hässlich.

„Habt ihr Ärger?“, frage ich Melody, trete hinter ihr ins Zimmer und schließe die Tür.

Sie seufzt dramatisch. „Es sind eben nicht alle so verständnisvoll wie du.“

„Oh, oh, du hast doch nicht etwa einen Typen im Fliegeranzug im Timbers aufgerissen und hier mit ihm gevögelt, oder?“

Mist. Mist. Mist.

Kaum sind mir die Worte über die Lippen gekommen, bedauere ich sie schon. Ich bin so eine Idiotin. Wie konnte ich in einem Moment wie diesem nur Paul erwähnen?

Sie runzelt die Stirn und lässt sich aufs Bett fallen – das im Moment unter einem gigantischen Berg von Kleidung begraben ist. „Sie sagt, dass ich unordentlich bin.“

„Ja“, sage ich und sehe mich um. Melodys Seite des Zimmers sieht wie üblich aus wie nach einer Naturkatastrophe. „Na und?“

„Sie sagt, dass ich rücksichtslos und laut bin, und dass ich schnarche. Kannst du dir das vorstellen? Ich soll schnarchen?“

„Äh … nur wenn du etwas getrunken hast.“

„Das habe ich aber nicht. Ich habe dem Mädchen nichts getan. Aber alles, was sie will, ist, hier schweigend zu sitzen, ihre blöden Proteinriegel essen und meditieren. Sie war übrigens noch nie im Timbers. Wer geht denn nicht ins Timbers?“

„Offensichtlich sie, wie immer auch ihr Name ist.“

„Kimberly“, sagt Melody und verzieht das Gesicht. „Kimberly Anne Vanderbilt. Wenn das nicht der Name eines reichen Snobs ist.“

Ich sehe davon ab, ihr zu sagen, dass sie eine Melody Priscilla Carmichael ist, was auch nicht gerade nach Mittelschicht klingt. Ich merke, dass sie anfängt Trübsal zu blasen, darum wechsle ich das Thema. „Also, was dein Date betrifft …“

Es ist, als hätte man einen Schalter umgelegt. Blitzschnell. Ihre Augen funkeln wieder und sie stößt ein Quietschen aus. Mann, ich beneide sie darum, wie schnell sie umschalten kann.

Sie springt vom Bett, wühlt in ihrem Kleiderschrank und wirft noch mehr Sachen auf den Berg auf dem Bett.

Ich bin ihr keine große Hilfe, habe aber auch nichts anderes erwartet. Ich habe jetzt mehr Sachen, als ich es mir je hätte vorstellen können, aber ich trage immer noch meine alte Lieblingsjeans, schwarze Stiefel und ein schwarzes Oberteil, bei dem ich mir fast sicher bin, dass ich es in Naz‘ Schrank gefunden habe. Es ist mir viel zu groß.

Also sitze ich nur da, versuche, sie von ihrer Panik abzulenken, während sie sich unbekümmert vor mir auszieht und die Hälfte ihres Kleiderschranks anprobiert.

Eine Stunde vergeht, und ich verpasse meinen Kurs, aber es ist schön, wieder mal mit meiner Freundin abzuhängen und mit ihr zu lachen. Außerdem ist es nur Mathe. Wer braucht das schon wirklich?

Die Zimmertür öffnet sich, Melody steht in BH und Höschen da und schert sich einen Dreck darum, dass ihre Mitbewohnerin hereinkommt. Das Mädchen gibt einen angewiderten Laut von sich und setzt sich mit dem Rücken zu uns an ihren Schreibtisch.

„Ich habe nichts anzuziehen“, sagt Melody kopfschüttelnd und ignoriert dabei, dass ich mindestens zwölf ihrer Outfits meine Zustimmung gegeben habe. „Überhaupt nichts.“

„Wohin geht er denn mit dir?“

„Ich weiß es nicht“, sagt sie und zieht eine Leggings an. „Aber er hat etwas von einer Reservierung gesagt, also ist es ziemlich sicher nicht Wendy’s.“

„Gibt es hier in der Stadt überhaupt einen Wendy’s?“

„Es gibt ein paar.“ Sie wirft mir einen Blick zu. „Aber das ist jetzt nicht wichtig.“

Für mich klingen Pommes, die ich in Schokoladensauce tauchen kann, im Moment verdammt wichtig, aber ich lasse ihr das durchgehen.

„Komm“, sage ich und stehe vom Bett auf. „Es ist offensichtlich, dass wir hier nicht weiterkommen. Lass uns anderswohin gehen.“

„Gott sei Dank“, murmelt Kimberly nicht besonders leise. Es stört sie offensichtlich nicht, dass wir sie hören.

Melody wirft ihrer Mitbewohnerin einen wütenden Blick zu und wendet sich dann an mich. „Wohin denn?“

„Zu meinem Kleiderschrank.“

Sie mustert mich spöttisch, beurteilt mein Outfit, bevor ihr etwas einfällt. „Oh, richtig! Naz hat deine Garderobe aufgebessert! Ich meine, man sieht es dir nicht wirklich an …“ Sie wirft einen verächtlichen Blick auf mein Shirt und zupft daran. „Ich wollte gerade sagen, dass ich heute Abend auf gar keinen Fall eins deiner Schal-Outfits trage. Und deine verdammten Crocs kannst du auch behalten.“

Ich verdrehe die Augen. „Ich trage keine Crocs.“

„Aber du hast welche.“

Ich hätte nicht übel Lust, mich zu verteidigen, aber was würde das nützen? Außerdem bin ich ziemlich sicher, dass sie recht hat. Also lasse ich ihr das auch durchgehen.

Sie wirft ein langes Shirt über, schlüpft in ihre Schuhe und sagt kein einziges Wort zu ihrer Mitbewohnerin, als sie zur Tür hinausgeht.

„Äh, tschüss“, murmele ich und winke unbehaglich. Aber das Mädchen sieht mich nicht einmal an, geschweige denn dass sie etwas erwidert.

Als wir nach draußen kommen, greife ich nach meinem Handy, um einen Wagen zu rufen, aber Melody winkt ab. „Guck mal, gleich da vorn ist ein Taxi.“

Sie ruft es zu uns. Warum sollte ich diskutieren? Ich nehme es ja nicht allein. Das heißt, dass ich Naz‘ Regel nicht breche, oder?

Ich setze mich neben sie ins Taxi, und sie rattert die Adresse herunter, wobei sie die falsche Hausnummer nennt. Ich korrigiere sie.

Als das Taxi sich in den Verkehr einfädelt, werfe ich gewohnheitsmäßig einen Blick nach vorn. Es dauert einen Moment, aber dann trifft mich die Erkenntnis.

Abele Abate. Der Mann mit dem unglückseligen Namen. Er hat mich erst neulich vom Feinkostladen nach Hause gefahren. Er sieht in den Rückspiegel und lächelt wie beim letzten Mal. Ich weiß nicht, ob er mich erkennt, bezweifle es aber. Jedenfalls sagt er nichts. Wahrscheinlich fährt er jeden Tag hunderte von Leuten herum.

Als wir beim Haus ankommen, sehe ich als Erstes, dass es leer ist. Naz ist weg. Killer begrüßt mich, sobald ich die Tür öffne. Er wedelt aufgeregt mit dem Schwanz.

„Hey, Junge“, sage ich und kraule seinen Kopf, „Bist du ganz allein?“

Melody weicht dem Hund mit erhobenen Händen aus. „Oh mein Gott, spring mich bloß nicht an. Sonst rieche ich nachher wie du.“

Ich lache. „So schlimm riecht er nicht.“

„Wirklich, Karissa? Wann hast du den armen Kerl das letzte Mal gebadet?“

„Äh, das ist eine Weile her.“

Es ist so schwierig, das allein zu machen, und Naz ist keine große Hilfe. Er ist so nett, ihn für mich im Mercedes zum Hundefrisör zu fahren, wenn ich ihn darum bitte. Aber Killer gefällt es nicht, in dem Auto zu sein.

„Ernsthaft, spritz den armen Hund im Garten mit einem Schlauch ab, wenn es gar nicht anders geht“, sagt sie. „Er riecht schon wie die Füße meiner Mitbewohnerin. Igitt, und die stinken.“

Ich verdrehe die Augen, gehe zur Hintertür des Hauses, öffne sie und lasse den Hund hinauslaufen. Der Garten ist nicht besonders groß, aber das scheint ihn nicht zu stören. Ich habe versucht, mit ihm in den Park zu fahren. Doch dazu ist es erforderlich, dass er ins Auto steigt und, wie schon gesagt, das macht ihn nicht besonders glücklich. Also bleibt nur der Garten.

„Ich bin sicher, du erkennst, welcher Kleiderschrank meiner ist“, sage ich. „Die Treppe hoch, die erste Tür auf der rechten Seite.“

Melody verschwindet, und ich fülle Killers Futternapf und sorge dafür, dass er alles hat, bevor ich ihr nach oben folge. Es sind weniger als zehn Minuten vergangen, aber die Hälfte meiner Sachen liegt schon im Schlafzimmer verstreut. Sie streift gerade ein kurzes schwarzes Kleid über, das ich noch nie getragen habe.

„Mein Gott, das ist fantastisch. Wer ist der Designer?“

Sie sieht mich an, als sollte ich die Antwort darauf wissen. „Dieser Typ, du weißt schon … der, der damals diese Sache gemacht hat. Der ist es.“

Sie lächelt mich an. „Du redest so einen Müll.“

Das tue ich.

„Es sieht umwerfend aus an dir“, sage ich. „Du solltest es tragen.“

Sie quietscht und rast wieder zum Schrank. „Hast du Schuhe, die dazu passen?“

Fünf Minuten später steht sie im Badezimmer, frisiert sich vor dem Spiegel und schnorrt mein bisschen Make-up. Ich überlasse sie ihrem Styling und gehe nach unten. Mann, ihr nur zuzusehen, wie sie sich vorbereitet, macht mich ganz nervös. Es ist ermüdend.

„Du bist früh zu Hause.“

Die unerwartete Stimme erschreckt mich. Ich fasse mir an die Brust, trete einen Schritt zurück und sehe zur Haustür. Naz steht im Eingangsbereich, die Hände in den Taschen, eine Zeitung unter dem rechten Arm. Wie schafft er es nach all der Zeit immer noch, sich an mich anzuschleichen?

„Himmel, Naz, ich habe dich nicht reinkommen hören.“

„Das habe ich mir gedacht“, antwortet er tonlos. „Du schienst ziemlich beschäftigt zu sein.“

„Ich habe nur … ich meine, wir … du weißt schon.“

Ich zeige die Treppe hoch. Ich weiß nicht, ob er damit etwas anfangen, ob er erraten kann, was ich meine. Aber ich bin plötzlich völlig entnervt, Wellen von Nervosität durchlaufen meinen Körper, als ich ihn ansehe. Er rührt sich nicht. Kein bisschen. Er steht da, als würde er Wache halten. Ich würde nicht sagen, dass er wütend aussieht, aber irgendetwas stimmt nicht.

„Ja“, sagt er. „Ich weiß.“

„Melody hat heute Abend ein Date“, erzähle ich ihm, als würde ihn das interessieren. Aber wenn er verärgert ist, weil sie hier ist, versteht er es vielleicht, wenn ich erkläre, warum. Ihm hat es noch nie behagt, wenn andere Menschen im Haus sind. „Sie brauchte etwas zum Anziehen und hatte nichts. Ich meine, sie hat Sachen, aber nichts … Geeignetes für das Date. Also sind wir hergekommen, um zu sehen, ob ich etwas habe. Und so war es. Sie trägt es jetzt, weil … na ja, weil sie nichts hatte.“

Während ich wie eine Idiotin brabbele, verändert sich seine Miene. Er hebt die Brauen. „Warum bist du so nervös?“

„Bin ich nicht.“

„Du lügst.“

Ich seufze. Das stimmt.

Er kommt auf mich zu. „Was ist los?“

„Nichts.“

„Schon wieder eine Lüge.“

„Äh, okay“, sage ich und wedele mit der Hand. „Es ist nur … du bist so sehr du, und das wirft mich aus der Bahn.“

„Ich bin wie ich“, sagt er, „und das wirft dich aus der Bahn.“

„Ja! Ich habe nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen.“

„Du hast nicht erwartet, mich …“

„Oh, und es geht los!“, unterbreche ich ihn. „Du machst es schon wieder.“

„Ich mache es.“

„Du wiederholst alles, was ich sage.“

Das lässt ihn für einen Moment stutzen. Ja, er weiß jetzt, wie nervig das ist.

„Ich versuche nur zu verstehen, was dich so nervös macht“, sagt er. „Abgesehen davon, dass ich wie ich bin, was immer das heißen mag.“

„Ich weiß es nicht.“ Dieses Mal ist es keine Lüge. „Du stehst einfach da, und das hat mich überrascht, denn erst warst du nicht hier und plötzlich hast du dagestanden.“

„Aha.“ Er kommt näher und seine Haltung entspannt sich etwas. „Ich war nur draußen, um das Auto abzustellen. Ich habe dich nicht so früh erwartet. Ich dachte, du hättest noch Kurse.“

„Hatte ich“, sage ich. „Oder besser gesagt habe ich. Ich habe sie geschwänzt.“

Nach Mathe hätte ich noch Englisch gehabt, aber braucht man das nicht ebenso wenig? Ich spreche es schon ziemlich gut. Oder vielleicht auch nicht? Wer weiß.

Er kommt noch näher und bleibt vor mir stehen. Er legt eine Hand unter mein Kinn und hebt meinen Kopf an. „Du schwänzt deine Kurse? Wie kriminell von dir, Knastvogel.“

Nachdem er mich kurz auf die Lippen geküsst hat, tritt er zurück, greift nach der Zeitung, gibt mir damit einen kleinen Klaps und geht Richtung Arbeitszimmer. Ich stehe eine Weile da, folge ihm dann, bleibe im Türrahmen stehen und beobachte, wie er sich an den Schreibtisch setzt und die Zeitung aufschlägt. Er überfliegt schnell die Seiten, hält irgendwo in der Mitte inne und starrt nur noch. Ich weiß nicht, ob er liest, aber etwas schlägt ihn eindeutig in den Bann. Neugier übermannt mich.

Ich gehe vorsichtig zu ihm hinüber und rechne halb damit, dass er die Zeitung zuklappt und beiseite legt. Das hätte jedenfalls der alte Naz getan. Der alte Naz hatte Geheimnisse. Der alte Naz hat mich manchmal ausgeschlossen. Stattdessen schiebt er einfach seinen Stuhl zurück, sodass etwas Platz zwischen ihm und dem Schreibtisch entsteht, und sieht hoch. Sein Blick richtet sich auf mich, und er öffnet die Arme und lädt mich in seinen Raum ein.

Ich weiß nicht, ob ich mich je an diese Offenheit gewöhnen werde. Ich hocke mich auf die Lehne seines Bürostuhls. Mein Blick richtet sich ohne Umschweife auf die Zeitung.

Feuer zerstört historisches West Village Gebäude

Der Brand forderte zwei Tote und sieben Verletzte

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe zu sehen, doch das bestimmt nicht. In dem Artikel steht nichts Genaueres, nur dass es gestern passierte und nach der Brandursache noch gesucht wird. Ich drehe den Kopf und sehe Naz an. Er starrt auf einen Punkt auf seinem Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand und hat denselben Gesichtsausdruck wie vorhin im Eingangsbereich. Nicht verärgert, nein, eher … besorgt.

„Das warst doch nicht du?“, frage ich leise. Okay, ich sollte keine Fragen stellen, aber ich kann nicht an mich halten. Das scheint ihm Sorgen zu machen.

„Nein.“

„Das habe ich auch nicht geglaubt, aber … du weißt schon.“

„Ich war nicht zu Hause, als es passierte.“ Das war, als er ging und mir sagte, dass ich nicht aufbleiben und auf ihn warten solle, weil er etwas zu erledigen habe. „Ich war zu dem Zeitpunkt anderswo.“

Ich wende mich wieder der Zeitung zu. Wenn er das sagt, glaube ich ihm. „Hast du die Leute gekannt?“

„Ja.“

„Waren sie Freunde von dir?“

Ein lautes, humorloses Lachen. „Ich würde nicht sagen, dass ich überhaupt irgendwelche Freunde habe, Karissa.“

„Dann musst du vielleicht ein paar Freundschaften schließen.“

Ich meine es ernst, aber er lacht wieder, dieses Mal, als wäre das das Komischste, was er je gehört hat. „Ich fürchte, dass die Tage, wo ich Freunde auf dem Spielplatz hätte finden können, für mich längst vorbei sind.“

„Was ist denn mit den Nachbarn?“, frage ich. „Wir haben hier eine nette Nachbarschaft. Sie wirken, als wären sie die Typen für Wochenendpartys. Ich könnte mit den Stepford Ehefrauen abhängen, während du – ich weiß nicht – golfen gehst oder so.“

„Golfen.“

„Ja, ich wette, du hättest einen Mörder-Schwung.“

Er schüttelt den Kopf. „So oft, wie die Polizei vor unserem Haus vorgefahren ist, Karissa, glaube ich nicht, dass das funktioniert. Wenn ich nur einen Fuß auf ihr Grundstück setze, rufen sie unter Garantie sofort die Polizei.“

„Gut, dann gehe ich eben mit dir golfen.“

Er hebt die Brauen und mustert mich. „Du willst golfen gehen?“

„Nein.“

„Ich auch nicht.“

Gott sei Dank.

„Wir könnten irgendwann mit Melody und ihrem neuen Freund ein Doppeldate ausmachen.“

Naz reagiert darauf genauso wie ich es erwartet habe, seit Melody das erste Mal diesen Vorschlag machte. Er steht auf, lacht erneut, schließt die Zeitung, knüllt sie zusammen und wirft sie in den Papierkorb. „Ich kenne ihren Geschmack bei Männern und weiß daher, dass ich mich mit niemandem anfreunden kann, mit dem sie zusammen ist.“

„Ich weiß nicht. Ihr Neuer könnte anders sein.“

„Hast du ihn kennengelernt?“

„Ja“, sage ich und korrigiere mich schnell. „Nicht wirklich, aber ich habe ihn gesehen.“

„Du hast ihn gesehen.“

„Ja.“

„Das Äußere kann täuschen.“

„Das weiß ich“, sage ich abwehrend. „Ich habe bei diesem Mann einfach ein gutes Gefühl.“

„Hast du bei mir ein gutes Gefühl gehabt, als wir uns kennengelernt haben?“

„Nein.“ Ich zögere. „Ich weiß nicht, vielleicht. Du warst irgendwie einschüchternd, aber ich hatte kein schlechtes Gefühl bei dir, wenn du das meinst.“

Naz schlendert durchs Zimmer zu seinem Bücherregal. Seine Finger gleiten über die Rücken einiger Bücher, dann zieht er eins heraus. Mit dem Buch in der Hand wendet er sich zu mir um, und ich erhasche einen Blick auf das Cover. Krieg und Frieden. Er bleibt vor mir stehen, neigt ein wenig den Kopf und mustert mich. „Dieser neue Typ, wie alt ist er? Neunzehn, zwanzig? Wahrscheinlich nicht mal alt genug, um legal trinken zu dürfen.“

„Wahrscheinlich.“

„Und du denkst, dass ich Gemeinsamkeiten mit ihm habe?“

Er meint die Frage ernst. Er denkt, dass ich mich lächerlich mache. Zur Hölle, vielleicht ist es so. Aber nicht aus den Gründen, die er unterstellt.

„Ich bin auch erst zwanzig, weißt du“, erinnere ich ihn. „Mein Alter hat dich nicht davon abgehalten, mich kennenzulernen.“

Ich persönlich denke, dass das ein verdammt gutes Argument ist, aber ich sehe, dass er der Ansicht ist, dass ich mich lächerlich mache.

„Karissa, Baby, ich liebe dich. Das weißt du. Aber glaubst du wirklich, ich hätte dich ein zweites Mal angesehen, wenn ich nicht andere Gründe gehabt hätte?“

Ich werde blass. „Autsch.“

Ich stehe von der Stuhllehne auf und will weggehen – denn autsch – doch er greift nach meinem Arm. „Miss dem nicht so viel Bedeutung bei. Du bist schöner und klüger, als man bei deinem Alter vermuten würde. Aber ich gehe auf die vierzig zu, Süße. Es wäre mir daher nie in den Sinn gekommen, mich um dich zu bemühen. Du bist alles, was ich nicht bin. Alles, was ich wahrscheinlich nie sein werde. Und allein die Tatsache, dass du ernsthaft glaubst, dass es für mich möglich wäre, in dieser Stadt Freunde zu finden – nach allem, was ich getan habe – zeigt mir, dass ich recht habe.“

Ich tue es fast, weil ein Teil von mir denkt, dass er es will. Ich spreche fast den Umzug an, weg von New York, wie wir es schon angedacht haben, als Melody von irgendwo im Eingangsbereich meinen Namen ruft. Mir wird klar, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für dieses Gespräch ist.

„Ich bin hier“, rufe ich zurück, und Naz lässt meinen Arm los. Gleich darauf erscheint Melody im Türrahmen. Sie hat sich das Haar hochgesteckt.

„Wie sehe ich aus?“, fragt sie und dreht sich, um mir ihre Aufmachung zu präsentieren.

„Du trägst das Moreau“, sagt Naz.

Melody hält inne und sieht an sich herunter. „Das was?“

„Moreau“, sagt er. „Das ist der Designer des Kleids.“

Sie sieht ihn überrascht an. Und ich auch.

„Woher weißt du das?“, frage ich ihn.

Er zuckt mit den Schultern. „Ich kenne den Mann. Er hat mir was geschuldet.“

„Er hat dir etwas geschuldet.“

Okay, jetzt wiederhole ich, was er sagt, und er bemerkt es und sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Ja, er hat mir etwas geschuldet und das war seine Rückzahlung.“

Er zeigt auf das Kleid.

„Oh, Mist“, sagt Melody und streicht den Rock des Kleides glatt. „Soll ich es ausziehen?“

„Nein“, sagen Naz und ich gleichzeitig. Ich sehe ihn an, er zuckt mit den Schultern und fährt fort. „Karissa wird es nie tragen, also kannst du es ebenso gut anziehen. Ich habe nur dafür gesorgt, dass er zahlt. Nur das war mir wichtig.“

Melody wirft ihm einen verwunderten Blick zu, fragt aber nicht, was es heißt, dass er sich um die Bezahlung gekümmert hat. Wir sprechen das Thema, was Naz für seinen Lebensunterhalt tut, niemals an. Wenn man bedenkt, was letztes Jahr alles passiert ist, bin ich ziemlich sicher, dass Melody inzwischen Bescheid weiß. Sein Name tauchte in allen Zeitungen auf, nachdem er Ray getötet hatte. Auch wenn es Notwehr gewesen war, hatte das die Reporter nicht vom Spekulieren abgehalten um jedes kleinste Detail ausgegraben, und zu zeigen, dass er bei diesem Zwischenfall keinesfalls der Held gewesen war.

Sie hat die Artikel gelesen. Das weiß ich. Das Mädchen hat wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben eine Zeitung gekauft, aber sie weiß ganz bestimmt, wie man mit Google umgeht. Sie hat mit Sicherheit nach diesen Informationen gesucht.

„Danke“, sagt Melody und lächelt. „Ich hoffe, dass es Leo gefällt.“

Bevor ich sagen kann, dass ich überzeugt bin, dass er es lieben wird, mischt sich Naz ein. „Leo?“

„Da denkt man sofort an DiCaprio, oder?“, frage ich.

Er schüttelt den Kopf. „Ich habe an den Löwen gedacht.“

Das weckt Melodys Interesse. „Glaubst du an Astrologie?“

„Nein.“

Ihr Lächeln verblasst. Melody ist die Art von Mädchen, die sich täglich ihr Horoskop schicken lassen und aufpassen, wenn Merkur rückläufig ist, was immer das heißen mag. Sie munterte sich nach Pauls Verschwinden damit auf, dass ihre Sternzeichen sowieso nicht zusammengepasst hatten, es also nie funktioniert hätte.

Und Naz und ich? Wir sind die absoluten Seelenverwandten, sagt sie. Ich hielt das alles für blöden Hokuspokus, bis sie das sagte.

„Ich habe einiges in der Stadt zu erledigen“, sagt Naz, klemmt sich das Buch unter den Arm und sieht mich kurz an, bevor er sich Melody zuwendet. „Soll ich dich nach Hause fahren?“

Melody zuckt mit den Schultern. „Klar.“

„Soll ich … äh, soll ich mitfahren?“, frage ich neugierig.

„Unsinn“, sagt Naz, beugt sich herunter, küsst mich auf die Wange und geht zur Tür. „Ich bin bald zurück.“

Melody schnappt ihre Sachen und winkt mir zu. „Kaffee morgen früh?“

„Klar.“

Sie verschwindet hinter Naz durch die Tür. Ich stehe einfach nur im Arbeitszimmer und lausche ihren Schritten nach. Ich glaube nicht, dass die beiden jemals allein miteinander waren. Und natürlich vertraue ich ihnen, wäre auf dieser Fahrt aber gern eine Fliege an der Scheibe.

Target on our backs - Im Fadenkreuz

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