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Eine große Überraschung

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Der 31. Juli 1870 war für mich ein großer Tag. Er sollte mir die größte Überraschung bringen, die ich je erlebt habe.

Es war in der friedlichen kleinen Stadt Akureyri am Eyjafjördur in Nord-Island.

Das Wetter war bezaubernd schön. Die ganze Stadt war wie gebadet in leuchtendem Sonnenschein.

Draußen auf der Reede, der Stadt gerade gegenüber, lag eine Menge fremder Schiffe vor Anker, vor allem dänische, norwegische, englische und französische.

Das Meer, das sich bis zu den Häuserreihen hinzog, war seltsam ruhig und still und sah aus wie eine leuchtende Mischung von geschmolzenem Gold und Silber. Es schien soviel wie immer möglich von all der Schönheit der Natur ringsum in sich hineinsaugen zu wollen.

Die Jugend des Städtchens hatte sich schon lange ins Freie hinauslocken lassen. Denn Sonne, Wärme und Licht flossen da draußen zusammen zu einem unbeschreiblichen goldenen Schimmer, der alles umgab und durchdrang, Land und Meer und Himmel, und auch der Menschen Herz.

Ich spielte mitten in all dieser Herrlichkeit unten am Strande eifrig mit meinen Freunden unmittelbar vor unserem Haus, dem sogenannten »Paulshaus«, einem schwarzweißen Holzbau, der sich neben dem freundlichen Kirchlein des Städtchens erhob.

Plötzlich bemerkte ich meine Schwester Bogga, die schnell auf uns zukommt. Sie tritt nahe an mich heran, nimmt mich am Arm und flüstert mir ganz geheimnisvoll ins Ohr:

»Nonni, Mutter sagt, du sollst gleich zu ihr hineinkommen. Sie hat dir etwas zu sagen.«

Nonni wurde ich meistens gerufen. Mit meinem eigentlichen Namen Jón wurde ich nur bei feierlichen Anlässen und von Fremden genannt.

Im ersten Augenblick fuhr ich zusammen. Ich dachte, da ist etwas nicht ganz geheuer. Es mußte wohl etwas vorgefallen sein.

Was mochte es wohl sein? Mir wurde etwas bange.

Ich war eben zwölf Jahre alt, also in dem Alter, wo man allerlei tolle Streiche ausführt.

Habe ich wieder etwas verkehrt gemacht? Das war mein erster Gedanke.

Ich überlegte: Hatte ich vielleicht ohne Erlaubnis vom Zucker genascht? Oder war ich an den Kuchen gegangen? Oder hatte ich etwa meinen kleinen Bruder Manni geschlagen?

Richtig – ganz gewiß –, das war’s. Gerade das hatte ich getan! Und das eben heute vormittag.

Ach wie dumm! Er hat sicher bei der Mutter geklagt, und nun sollte ich dafür büßen.

Mein kleiner Bruder spielte da drüben, zusammen mit den kleineren Kindern.

Ich lief zu ihm hin.

»Hör mal, Manni, tut es dir noch weh?«

Manni sah etwas erstaunt auf.

»Nicht wahr, Manni, du weißt ja, wie ich dazu kam – so –, ohne daß ich daran dachte. – Ja, nicht wahr, ich stieß dich etwas hart heute morgen. Spürst du noch was?«

Manni tastete nach dem Rücken.

»Nein, ich spüre nichts mehr.«

»Aber, Manni, was sagte die Mutter, als du es ihr erzähltest? Du hast ihr bestimmt etwas gesagt?«

»Nein, Nonni, ich habe ihr nichts gesagt. – Wenigstens bis jetzt noch nicht«, fügte er zögernd hinzu.

»Oh, das war nett von dir. – Morgen hole ich dir Heidelbeeren. Und nicht wahr, so brauchst du ja der Mutter nichts mehr davon zu sagen?«

»Nein, das glaube ich auch nicht.«

Ich atmete erleichtert auf. Ein Stein war nun wenigstens von meinem Gewissen gewälzt.

Jetzt lief ich zu Bogga zurück und fragte:

»Bogga, weißt du, was die Mutter mir eigentlich sagen will?«

Bogga setzte eine sonderbar ernste Miene auf, die mich nicht gerade beruhigte.

»Nonni«, sagte sie, »geh nur schnell hinein. Die Mutter will es dir selbst sagen.«

»Ist es etwas Schlimmes, Bogga? Sag es mir doch.«

»Ich darf dir nichts sagen. Es ist etwas sehr, sehr Wichtiges. Ja, etwas ganz außerordentlich Wichtiges. – Aber nun geh gleich zur Mutter.«

Oh, diese böse Bogga!

»Du guter Gott, was mag das wohl sein!« So sprach ich zu mir selbst, während ich langsam auf unser Haus zuging.

Mindestens zwei bis drei Minuten blieb ich draußen vor der Tür stehen, bis ich sie zu öffnen wagte. Ich war beinahe sicher, daß ich etwas ganz außerordentlich Schlimmes angestellt hätte.

Die Mutter war sehr gut zu uns; doch sie wachte auch sorgfältig über unser Betragen, besonders seit dem Tode unseres Vaters. Er war im verflossenen Jahr gestorben, und seitdem unterließ sie es nicht, uns streng zu strafen, sooft wir es verdient hatten. Trotz ihrer Strenge sorgte sie sich liebevoll um uns.

Endlich öffnete ich die Tür und ging in die Stube.

Die Mutter saß da und nähte.

Sie schaute mich an, und es kam mir vor, als wenn sie mich länger als sonst von oben bis unten betrachtete. Es schien mir, daß sie mir etwas Außergewöhnliches sagen wollte.

Ich ging ans Fenster und wartete mit klopfendem Herzen, was da kommen werde.

Es vergingen einige Augenblicke.

Endlich sagte sie ganz leise mit merkwürdig bebender Stimme: »Nonni, nimm den Stuhl da, und setz dich zu mir her.«

Ich folgte, ohne ein Wort zu sagen.

In einem scheinbar gleichgültigen Tone sprach sie weiter: »Sag mal, Nonni, gehst du gern in die Schule?«

»In die Schule? – Ja, Mutter, es gefällt mir ganz gut dort – so für gewöhnlich; aber zuweilen kommt es mir sehr langweilig vor.«

»Wirklich, Nonni? Gehst du nicht gern in die Schule?«

»Ja, weißt du, Mutter, wenn der Lehrer lustig ist, dann gefällt es mir in der Schule sehr gut.«

»Was meinst du damit: ›Wenn der Lehrer lustig ist‹?«

»Ich meine, wenn er schöne Geschichten erzählt. Das habe ich am liebsten. Und da, glaube ich, lerne ich am meisten.«

Ich merkte, daß die Mutter nicht ganz zufrieden war mit dem, was ich gesagt hatte, und dachte nun selbst, es sei dumm von mir gewesen, so zu sprechen. Deshalb fügte ich schnell hinzu:

»Ich halte sonst viel vom Lesen; aber ich kann bloß nicht leiden, daß man jedesmal Strafe bekommt, wenn man seine Aufgabe nicht kann.«

»Das begreife ich gut, mein Junge. Aber du sagtest doch, du möchtest gern etwas lernen?«

»O ja, Mutter, wenn man nur nicht den ganzen Tag lernen müßte. Ich habe so große Freude am Spielen.«

»Hättest du nicht Lust, Nonni, ganz ernsthaft zu lernen? Ich meine studieren und an eine höhere Schule, an ein Gymnasium gehen? Denk mal darüber nach.«

Nun bekam ich aber Herzklopfen. Aber wirklich, im Ernst.

Studieren! An eine höhere Schule gehen! An ein Gymnasium! Das war wirklich etwas ganz Neues.

Jetzt merkte ich, daß Bogga recht hatte, als sie sagte, das, worüber die Mutter mit mir reden wolle, sei etwas sehr Wichtiges, ja etwas ganz außerordentlich Wichtiges.

Eine höhere Schule!

Aber es gab nur eine höhere Schule auf ganz Island; das war die in Reykjavik. Reykjavik lag aber auf der anderen Seite der Insel, in einer Entfernung von mehreren hundert Kilometern.

Sollte es wirklich sein, daß ich so weit fortgeschickt würde? Bis nach Reykjavik! In die höhere Schule dort!

Ich war so betroffen, daß ich nichts zu sagen wußte.

Die Mutter sah mich lächelnd an und sagte: »Nun, Nonni, was denkst du davon? Möchtest du studieren und ein gelehrter Mann werden?«

»Mutter, das möchte ich wirklich sehr gern. – Aber dann müßte ich ja bis nach Reykjavik reisen!«

»Und wenn dir angeboten würde«, die Mutter sprach die Worte langsam, »wenn dir angeboten würde, noch weiter zu reisen als nach Reykjavik, was würdest du dann wohl sagen?«

Ich schaute die Mutter mit großen Augen an.

Noch weiter als nach Reykjavik? – Aber, lieber Himmel, das hieße ja, ins Ausland! In die weite, große Welt, an deren äußerster Grenze mein Vaterland, Island, lag? Ja, von der es getrennt war durch den Atlantischen Ozean, Hunderte von Meilen entfernt!

Die große Welt! Dänemark, Norwegen, Schweden, England, Deutschland – weiter wagten meine kühnsten Gedanken sich nicht.

Eine höhere Schule im Ausland! – Aber da konnte doch eigentlich nur die Rede sein von einer Schule in Dänemark, dem Lande, mit dem wir ja in engerer Verbindung standen.

»Mutter, soll ich wirklich daran denken, nach Dänemark zu reisen, und dort eine höhere Schule besuchen?«

»Nein, mein Kind, es handelt sich nicht um Dänemark. Es handelt sich um ein Land, das noch viel weiter entfernt liegt. Es ist eines jener großen Länder im Süden, wo die Sonne viel stärker leuchtet und brennt als bei uns; wo alles wächst und blüht in einer Üppigkeit und Frische, von der wir uns kaum eine Vorstellung machen können; wo es kaum einen Winter gibt, wo fast immer der wärmste Sommer herrscht oder Frühjahr und Herbst; wo die Bäume sich beugen unter der Last der köstlichen Früchte: Feigen, Apfelsinen, Pfirsiche, Weintrauben und viele andere, deren Namen du nicht einmal kennst.

Überleg mal, Nonni, hast du Lust, in ein solches Land zu reisen? Nicht aber, um das Leben zu genießen in all diesen Herrlichkeiten, sondern um etwas zu lernen, Jahr um Jahr fleißig zu studieren, ein tüchtiger Mann zu werden und dann wieder heimzukehren als Arzt oder Jurist oder Schriftsteller oder zu irgendeiner anderen Stellung, die du dann selber wählen kannst.

Was denkst du von dem Plan? Hast du Lust zu dieser großen Reise? – Antworte mir nicht gleich. Überleg es dir gut.«

Mir wurde beinahe schwindlig.

Ich lehnte mich zurück und versuchte nachzudenken.

Wirr schossen mir die Gedanken durch den Kopf.

Verlassen meine liebe Mutter, das Liebste, was ich auf der Welt hatte, meine guten Geschwister, Manni und Bogga, alle meine Freunde und Bekannten, mein Vaterland, und das vielleicht für immer!

Denn daß ich je wieder zurückkehren würde nach einer so langen Studienzeit, das war mir doch sehr ungewiß.

War es nicht gerade so, als sollte ich mit der Wurzel ausgerissen und in einen neuen Boden, in eine neue Welt eingepflanzt werden?

Ja, es war fast so, als müßte ich sterben und dann neu geboren werden und das Leben von neuem anfangen in einem fernen, unbekannten Land.

Es kam mir vor, als stürzte ich mich in einen gähnenden, bodenlosen Abgrund!

Ich schreckte davor zurück.

Und doch von der anderen Seite, welch lockende Aussicht!

Eine Reise in die weite Welt, ein langer Aufenthalt in einem der schönsten Länder des Südens! Oh, wie herrlich!

Ich hatte schon immer eine unwiderstehliche Sehnsucht gefühlt, hinauszuwandern, weit, weit weg.

Schon oft hatte ich den Entschluß gefaßt, nach dem Beispiel meiner Vorväter, der alten Normannen, das Vaterland zu verlassen und rund um die Welt zu reisen, die Sitten und Gebräuche anderer Völker kennenzulernen.

Und nun kommt plötzlich ein geheimnisvolles Angebot, das es mir möglich macht, diesen Plan auszuführen, ihn auszuführen auf die beste Weise, die ich mir denken konnte.

Ja, ich muß reisen, je eher, desto lieber! Es ist doch allzu schön; es ist eine Gelegenheit, die mir kaum je wieder geboten wird. Ich muß mit beiden Händen zugreifen.

Jetzt unterbrach ich das Stillschweigen, und in der Meinung, lange genug überlegt zu haben, sagte ich mit Bestimmtheit:

»Ja, Mutter, ich möchte gern reisen, gern studieren.

Aber um welches Land handelt es sich, Mutter? Und wer ist es, der uns dieses Angebot macht?«

»Ich ahnte es, mein lieber Nonni, daß du Lust dazu hättest. Gleich werde ich dir erzählen, wie das alles zusammenhängt.

Aber sag mir nun erst: Kannst du das betreffende Land nicht selbst herausfinden? Welches von den großen Ländern des Südens ist dir am meisten bekannt?«

Ich dachte etwas nach.

Die verschiedenen Länder, die ich in der Schule kennengelernt hatte, kamen mir nun nacheinander in den Sinn. Es konnte, dachte ich, wohl nur die Rede sein von Spanien, Italien, Deutschland oder Frankreich.

Frankreich! Das Land der »Großen Revolution«, das Land Napoleons und der Jungfrau von Orléans. Frankreich mit der Hauptstadt Paris, worüber ich so vieles gelesen hatte. Ein Mann, der in Paris gewesen war, hatte mir kurz vorher Wunderdinge von dieser Stadt erzählt.

Spanien! Das warme, weinreiche Land mit dem königlichen, stolzen Volke. Das Land mit den Wunderpalästen Eskorial und Alhambra und den großen Kathedralen.

Italien! Das Land der mächtigen Römer mit den großen Erinnerungen an die alte Zeit. Italien mit dem ewigen Rom, dem Vatikan, der Peterskirche und dem Flavischen Amphitheater, dem riesengroßen Kolosseum.

Deutschland! Das geschichtsreiche, weit ausgestreckte Land der Germanen, mit den verschiedenartigen Völkern. Deutschland! Das gewaltige Land mit den tiefen Wäldern, dem Rhein und seinen Weinbergen und alten starken Burgen.

Ich konnte mich noch immer nicht entscheiden. Meine Mutter warf mir lächelnd einen Blick zu.

Es wird sich wohl entweder um Deutschland oder Frankreich handeln, dachte ich.

Ich selbst gehörte ja zu der großen deutschen Völkerfamilie. Wir Isländer waren ja ein goto-germanisches Volk, und ich hätte nicht wenig Lust gehabt, nach dem herrlichen Lande der Deutschen zu reisen.

Doch merkwürdig! Immer wieder kam es mir in den Sinn: Es ist Frankreich, wohin du reisen sollst.

Frankreich war ja auch das Land, dessen Einwohner ich nächst Dänemark am besten kannte.

Jeden Sommer kamen nämlich viele französische Schiffe nach Island. Sie lagen oft lange Zeit im Eyjafjördur, gerade unserem Haus gegenüber. Vor allem waren es große französische Kriegsschiffe. Aber auch zahlreiche französische Fischkutter legten in den Sommermonaten an unserer Küste an.

Ich spielte gern mit den französischen Kindern, die manchmal ans Land kamen. Auch besuchten sie uns und wurden immer freundlich empfangen.

Zwar verstanden wir unsere Sprache gegenseitig nicht; aber wir halfen uns durch Zeichen und Bewegungen.

Zuweilen holte ich unsere Pferde und machte mit den fremden Jungen Spazierritte.

Ich hinwieder war ein häufiger Gast draußen auf den Kriegsschiffen. Kein Wunder, daß ich die Franzosen so gut kannte.

Alle diese Gedanken schwebten mir wie lichte Traumbilder vor Augen.

Endlich sagte ich zu der Mutter:

»Ich glaube, es ist nach Frankreich, wohin ich reisen soll.«

Bei diesen Worten mußte die Mutter lächeln.

»Nun«, sagte sie, »du hast das Richtige getroffen, lieber Nonni. Nach Frankreich, dem Vaterland deiner kleinen fremden Spielkameraden, sollst du wirklich reisen.«

»Aber wie ist das alles so gekommen, Mutter? Wer hat dir das Angebot gemacht?«

»Das will ich dir jetzt erzählen, mein Kind.

Du kennst wohl dem Namen nach Herrn Baudoin, den französischen Priester, der jetzt schon mehrere Jahre hier auf Island lebt?«

»Ja, Mutter, vom Hörensagen kenne ich ihn gut. Er ist von Reims. Gewöhnlich hat er in Reykjavik gewohnt, und da ist er auch jetzt. Ein Jahr lang hat er sich auch hier am Eyjafjördur aufgehalten bei unserem Freund Einar Asmundson, auf dem Gute Res.«

»Ganz richtig.

Pfarrer Baudoin hat mir nun vor kurzem einen Brief geschrieben, worin er mitteilt, daß ein französischer Edelmann aus Avignon, das unten am Mittelmeer liegt, eine große Vorliebe für Island gefaßt hat. Er soll ein guter, frommer Mann sein, und zudem sehr reich. Nun ist es sein größter Wunsch, daß zwei isländische Jungen zu ihm nach Avignon kommen. Er will für sie sorgen, sie studieren und auf die beste Weise erziehen lassen. Sie sollen ungefähr zwölf Jahre alt sein, gesund, gut erzogen und müssen Lust und Fähigkeit zum Studieren haben.«

»Aber Mutter, glaubst du, daß ich alle diese Eigenschaften besitze?« fragte ich etwas verlegen und kleinlaut.

»Ich hoffe es, mein Junge. Herr Baudoin schreibt nämlich, er sei durch unseren Freund Herrn Einar Asmundson auf uns aufmerksam geworden. Und nun fragt er mich, ob ich auf sein Angebot eingehen wolle. Wenn wir beide einverstanden sind, dann sollst du schon im August abreisen.

Das ist ein ganz ungewöhnliches Angebot, und ich bin gewiß, wenn dein Vater noch lebte, würde er sofort darauf eingehen.«

»Aber, Mutter, du sagtest, es sollten zwei Jungen sein. Wer ist denn der andere?«

»Das ist einer von Herrn Einar Asmundsons Söhnen, ein netter und begabter Junge. Er heißt Gunnar. Er reist schon vor dir ab. Du wirst ihn in Kopenhagen treffen. Von dort werdet ihr dann zusammen nach Frankreich reisen.

Noch etwas will ich dir sagen. Ein Herr hier am Eyjafjördur hat dasselbe Angebot für seinen zwölfjährigen, sehr begabten Sohn Thorhall erhalten. Der Vater war schon entschlossen, seinen Sohn reisen zu lassen. Der Junge selbst war auch einverstanden. Aber die Mutter war dagegen; sie fürchtete, es könne ihn auf der weiten Reise ein Unglück treffen. Der Vater war zwar davon überzeugt, daß Gott dort geradesogut über ihr Kind wachen würde wie hier; doch die Mutter wollte nicht nachgeben, und so wurde nichts aus der Reise. Jetzt sollst du, wenn es dir recht ist, Thorhalls Platz einnehmen.«

»Wie ist doch alles das merkwürdig, Mutter! – Aber wie soll die Reise vor sich gehen?«

»Du fährst von hier mit dem letzten dänischen Handelsschiff, das dieses Jahr Akureyri verläßt. Wahrscheinlich wird es das kleine bornholmische Schiff ›Valdemar‹ sein, mit Kapitän Foß. In den nächsten Wochen kommt es hierher und bleibt eine Zeitlang hier liegen. Es wird dich direkt nach Kopenhagen bringen, wo du dann einige Zeit bleiben mußt.«

»Bei wem werde ich aber in Kopenhagen wohnen, Mutter?«

»Bei einem vornehmen deutschen Herrn. Man nennt ihn ›Präfekt‹; sein Name ist Hermann Grüder. Er soll ein sehr gewissenhafter und guter Mann sein. Bei ihm wirst du Gunnar antreffen. Herr Grüder will für den anderen Teil der Reise, von Dänemark nach Frankreich, sorgen.«

»Aber, Mutter, ich kenne diesen Herrn Grüder nicht, und bei ihm werde ich wohl keine Isländer finden. Wäre es nicht möglich, daß ich bei einer isländischen Familie in Kopenhagen wohnen könnte? Es ist doch was ganz anderes, bei seinen Landsleuten zu sein als bei wildfremden Menschen.«

»Das wird nicht gut gehen, mein lieber Nonni. Aber du brauchst nicht ängstlich zu sein, sowohl er als auch die anderen Leute alle, die in seinem Hause wohnen, werden dich sehr gut und liebevoll behandeln. Ich habe mich über die Verhältnisse erkundigt.«

Die Worte meiner Mutter beruhigten mich.

»Aber, Mutter«, fuhr ich fort, »ich werde doch einige Isländer in Kopenhagen besuchen können?«

»Gewiß, mein Kind, und ich werde dir Briefe an verschiedene unserer Landsleute mitgeben. Du wirst sehen, mein Kind, es wird dir in Kopenhagen an Freunden nicht fehlen. – Und jetzt, mein lieber Nonni«, fuhr die Mutter ernst fort, »in der kurzen Zeit, die du hier noch verweilst, mußt du dich recht zusammennehmen. Bist du einmal von hier abgereist, dann beginnt ein ganz neues Leben für dich. Dann bin ich nicht mehr da, um dich ermahnen und dir raten zu können. Deshalb mußt du schon jetzt versuchen, dich wie ein Mann und nicht wie ein kleiner Junge und unvernünftiger Knabe zu benehmen.«

Und mit Nachdruck setzte sie hinzu, indem sie mich liebevoll anschaute:

»Vor allem mußt du darauf sehen, gut Freund mit Gott zu bleiben, mein Kind. Vertraue dich mehr und mehr ihm im Gebet an. Wir müssen bald voneinander Abschied nehmen, und wer weiß, ob wir uns je wiedersehen werden. Nun, so möge Gott für dich Vater und Mutter sein.«

Diese Worte meiner guten Mutter machten einen solchen Eindruck auf mich, daß ich in Tränen ausbrach.

Die Mutter stand auf, strich mir zärtlich über die Haare, tröstete und beruhigte mich.

»So«, sagte sie, »nun geh zu den anderen Kindern, die draußen im Sonnenschein spielen.«

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