Читать книгу Nonni - Erlebnisse eines jungen Isländers von ihm selbst erzählt - Jón Svensson - Страница 5
Abschiedsbesuche
Оглавление»Lieber Nonni«, sagte ein paar Wochen später meine Mutter zu mir, »es wird Zeit, daß du einige Abschiedsbesuche bei Freunden und Verwandten machst. Du könntest heute hinaufreiten zum Hof Hals zu unserem Freund, Herrn Thorson. Sag ihm Lebewohl und danke ihm für alle Liebe, die er dir erwiesen hat.«
Schnell war ich zu diesem Ausflug bereit. Ich war gern unterwegs, mochte es kurz oder lang sein.
Sofort holte ich eines von unseren zwei Pferden, sattelte es, und bald ging es im Galopp den Berg hinauf, der zum Hofe Hals führte. Schon oft hatte ich den hübsch gelegenen Hof besucht.
Sobald ich mich dem Hause näherte, erkannten mich die Kinder, die alle meine Freunde waren.
Erwartungsvoll liefen sie mir entgegen, umringten mich, griffen in die Zügel meines Pferdes und hielten es an.
»Wohin geht’s?« rief Julius, der älteste Sohn des Herrn Thorson, gleich alt wie ich und einer meiner besten Freunde.
Wir waren schon oft zusammen auf die Jagd gegangen und hatten eine Menge wilder Enten geschossen, einmal sogar einen wilden Schwan.
»Vorläufig«, sagte ich, »will ich nicht weiter als hierher, Julius. – Ist dein Vater zu Hause?«
»Ja, was führt dich denn heute zu uns, Nonni?«
»Ich komme, um euch Lebewohl zu sagen, denn ich soll bald ins Ausland.«
»Ich habe schon davon gehört«, erwiderte Julius. »Aber nun will ich dir auch etwas sagen, was du sicher noch nicht weißt. Es war nämlich die Rede davon, daß ich nach Frankreich gehen sollte.«
»Nein, davon habe ich nichts gewußt. Hast du wirklich dieselbe Einladung erhalten wie ich?«
»Ja, das habe ich.«
»Weshalb hast du sie denn nicht angenommen?«
»Mein Vater war dagegen, und so mußte natürlich auch ich nein sagten. – Aber bestimmt werde ich es später bereuen«, fügte er traurig hinzu.
Ich sprang vom Pferd. Sofort kletterten vier, fünf kleine Reiter auf seinen Rücken. Das kleine Pony ließ es ruhig geschehen.
Julius bat nun die anderen, sie möchten uns allein lassen. Wir gingen eine kleine Strecke schweigend. Dann begann ich zu reden und fragte:
»Weshalb will dein Vater dich eigentlich nicht gehen lassen?«
»Er glaubt nicht, daß ich dann glücklich sein würde.«
»Genauso wie Thorhalls Mutter!«
»Ja, das habe ich auch gehört.«
»Sonderbar! Meine Mutter scheint keine Furcht zu haben.«
»Nonni, ich glaube, sie hat recht. Du kannst von Glück sprechen. Aber du verstehst sicher, daß ich nicht anders handeln konnte. Mein Vater ließ mir zwar volle Freiheit; doch gegen seinen ausdrücklichen Wunsch wollte ich nicht reisen.«
»Was hält deinen Vater denn ab?«
»Ja, ich weiß nicht recht, wie ich das ausdrücken soll. Er fürchtet, daß die Reise zu gefährlich für mich sei.«
»Das begreife ich nicht.«
»Ich auch nicht, Nonni. Aber es ist nun mal so.«
»Was meint er eigentlich damit?«
»Ich vermute, es hängt unter anderem mit der Religion zusammen. Du weißt ja, es gibt draußen in der großen Welt so viele Menschen, die keinen Glauben haben und die über jede Religion spotten.«
»Das hat meine Mutter mir auch schon gesagt. Aber sie hat hinzugefügt, daß es überall auch viele gute Menschen gibt, und zu solchen soll ich reisen.«
»Das weiß ich, Nonni. Und gerade der französische Edelmann, der uns zu sich einlädt, soll ein außerordentlich guter Mann sein. Aber trotzdem ist mein Vater nun einmal sehr besorgt.«
Inzwischen waren wir zum Eingangstor des Hofes gekommen, und Julius lief ins Haus, um seinen Vater zu rufen.
Gleich darauf kam Herr Thorson, grüßte freundlich und bat mich, ihm in sein Zimmer zu folgen.
Ich hatte vor, ihm sofort zu erzählen, weshalb ich gekommen sei. Aber nach dem, was ich eben von Julius gehört hatte, wußte ich nicht recht, wie ich anfangen sollte. Doch half er mir bald aus meiner Verlegenheit.
»Den Grund deines Besuches kann ich wohl erraten«, begann er, »du willst gewiß Abschied nehmen.«
»Ja, Herr Thorson, und Ihnen dafür danken, daß Sie immer so freundlich zu mir waren.«
»Das laß schon gut sein. Du willst also nach Frankreich reisen. Wann wirst du uns denn verlassen?«
»In einigen Tagen mit dem kleinen Schiff von Rönne, das nach Kopenhagen fährt.«
»Du meinst wohl das kleine Handelsschiff ›Valdemar‹, mit Kapitän Foß? – Das ist allerdings ein sehr kleines Schiff, ein Einmaster mit drei Matrosen.«
»Und einem Jungen«, fügte ich bei.
»Ja, ja; aber der zählt nicht mit. Er wird wohl Koch sein und ist nicht viel älter als du.«
»Ja, aber dann sind noch der Kapitän und der Steuermann da.«
»Ohne Zweifel! Es wäre schlimm, wenn die fehlten. – Du willst also nach Frankreich reisen. Hast du wirklich große Lust dazu?«
»Ja, Herr Thorson.«
»Nun, das kann ich mir vorstellen. Du bist noch ein Kind und denkst nur an das Verlockende einer solchen Reise. Du siehst eben das Leben noch mehr von der angenehmen Seite. Aber denkst du auch daran, daß es draußen in der Welt Gefahren gibt?«
»Ja, ich habe schon davon gehört und auch in Büchern davon gelesen. Aber ich habe mir fest vorgenommen, immer gut zu sein.«
»Das ist ein guter Vorsatz, aber du bist noch zu jung, um ihn halten zu können, wenn du ganz allein dastehst. – Ich fürchte sehr für dich, mein kleiner Nonni ...«
Ich wurde verlegen und wußte nicht, was ich sagen sollte.
Doch nach einer kleinen Pause fiel mir folgende Antwort ein:
»Ich glaube nicht, daß Sie sich um mich sorgen müssen. Meine Mutter hat gesagt, daß der Edelmann, zu dem ich reise, ein sehr guter und frommer Mann ist.«
»Ja, aber einen Vater und eine Mutter wird er kaum ersetzen können.«
»Die Mutter hat mir auch noch gesagt, daß Gott ebensogut für mich in Frankreich sorgen wird wie hier.«
»Ja, das ist gewiß wahr. Aber dann mußt du selbst dich an Gott halten und täglich zu ihm beten. – Ob du das auch tun wirst, wenn die Mutter nicht mehr da ist, um dich daran zu erinnern?«
»Ja, Herr Thorson, ich werde es tun. Ich habe es mir fest vorgenommen. Übrigens hat mir die Mutter versprochen, mir oft zu schreiben.«
»Schon recht, das sind gewiß gute Vorsätze. Behalte sie nur immer! Aber eine so weite Reise ist doch eine sehr gewagte Sache ...«
Doch ließ ich mich nicht weiter einschüchtern.
Es wurden mir nun einige Erfrischungen angeboten, die ich mit Julius zusammen verspeiste.
Dann nahm ich Abschied von Herrn Thorson und versprach ihm, die Ermahnungen, die er mir gegeben hatte, nicht zu vergessen.
Wie es in Island üblich ist, küßte er mich und drückte mir nebenbei still einige Taler in die Hand. Dabei sagte er mir leise ins Ohr: »Leg das zu deinem Taschengeld! Und nun lebe wohl! Gott sei mit dir!«
Ich war ganz gerührt von dieser Freundlichkeit.
Dann holte ich mein Pony, und Julius begleitete mich noch ein Stück den Berg hinab.
Wir waren beide sehr traurig. Keiner sprach ein Wort. Endlich trennten wir uns mit Tränen in den Augen.
Einige Tage später rief meine Mutter mich wieder und sagte: »Heute wollen wir beide zusammen zu Pastor Magnusson reiten. Du weißt, er ist ein besonderer Freund von uns.«
»Oh, das ist schön, Mutter! Das ist mal eine weite Reise, und außerdem kann ich Pastor Magnusson gut leiden.«
»Das weiß ich, mein Junge, ich habe aber noch einen besonderen Grund, gerade ihn zu besuchen«, fuhr die Mutter fort. »Ich möchte nämlich seine Meinung darüber hören, was er von deinem Aufenthalt in Frankreich hält.«
Eine Stunde später waren wir unterwegs. Ich ritt einen Goldfuchs, die Mutter saß auf einem stahlgrauen Schimmel.
Wir sprachen nur wenig, denn die Pferde liefen ständig in starkem Trab, so daß es schwer war, ein Gespräch zu führen.
Nach etwa zwei Stunden waren wir am Ziel.
Die Leute empfingen uns sehr freundlich und boten uns zunächst eine kleine Stärkung an. Dann führte der Pastor uns in sein Zimmer und bat uns, Platz zu nehmen.
»Herr Pastor«, begann die Mutter, »ich komme, um Sie in einer wichtigen Sache um Rat zu fragen. Ich habe vor, meinen Sohn Nonni nach Frankreich reisen zu lassen. Er soll dort studieren. Da er aber noch jung ist, könnte er leicht von der fremden Umgebung ungünstig beeinflußt werden. Einige Freunde haben mir deshalb abgeraten. Was meinen nun Sie, Herr Pastor, und was würden Sie mir wohl raten?«
Pastor Magnusson sah mich ernsthaft an. Dann sagte er:
»Es ist wirklich selten, daß ein Junge in diesem Alter von hier nach Frankreich reist, um zu studieren. – Ich wünsche dir von Herzen Glück, Nonni! Es kann für dich ein großer Segen werden.«
Er schwieg eine Weile und blickte sinnend vor sich hin. Dann fuhr er fort:
»Vor vielen hundert Jahren ist einer der größten Männer Islands auch nach Frankreich gereist. Er weilte dort viele Jahre und studierte an der Pariser Hochschule. Dann ließ er sich zum Priester weihen. Schließlich kam er als Gelehrter zurück. – Du kennst doch sicher seinen Namen?«
Ich fühlte, daß ich rot im Gesicht wurde, denn ich wußte im Augenblick nicht, wer es war.
Pastor Magnusson merkte meine Verlegenheit und kam mir gleich zu Hilfe.
»Doch, Nonni, du kennst seinen Namen schon. Er soll ein Buch zusammengestellt haben, das eines der berühmtesten Bücher der Welt geworden ist.«
Jetzt wußte ich Bescheid.
»Es war Sämundr der Weise«, sagte ich, »der die Lieder der älteren Edda gesammelt haben soll.«
»Ganz richtig«, erwiderte Herr Magnusson und fuhr lächelnd fort: »Und jetzt willst du nach Frankreich reisen wie Sämundr der Weise? – Wer weiß, vielleicht wirst du einst ein gelehrter Mann, am Ende gar ein berühmter Geistlicher werden wie er.«
»O nein, Herr Pastor!« antwortete ich lachend. »Ich glaube nicht, daß ich je ein Gelehrter werde. Und bestimmt werde ich niemals ein berühmter Geistlicher. Ich will bloß in Frankreich studieren, und dann wähle ich mir irgendeinen Beruf, der mir gefällt.«
Pastor Magnusson nickte mir freundlich zu. Dann wandte er sich an meine Mutter und sagte:
»Nun, es wird mit Ihrem Sohne gehen wie mit uns allen: wir machen unsere Pläne und meinen, unseren Lebenslauf selbst zu ordnen und zu bestimmen. Und doch sind wir es trotz unserer Freiheit in Wirklichkeit nicht; es ist ein anderer, der alles ordnet und lenkt und uns zuletzt zu Zielen führt, an die wir vielleicht nie gedacht hatten.
Sie fragen mich um meinen Rat. Es ist ja gewiß ein überaus wichtiger Entschluß, den Sie da fassen müssen. Es ist ein Schritt, der für das ganze Leben des Jungen entscheidend ist.«
Diese Worte stimmten mich ernst, und wir saßen alle drei eine Weile schweigend da.
Bald fuhr aber Herr Magnusson fort:
»Was meinst du eigentlich selber, Nonni, zu dieser gewaltig großen Reise? Fürchtest du dich nicht, so weit in eine dir ganz unbekannte Welt hinauszuziehen?«
»Ab und zu wird es mir etwas merkwürdig zumute, Herr Pastor, wenn ich an meine Abreise denke.«
»Und was ist es, was dich dann drückt?«
»Es ist besonders der Gedanke, daß ich meine Mutter verlassen muß. Das ist für mich das Schlimmste.«
Bei diesen Worten traten mir die Tränen in die Augen.
Pastor Magnusson faßte tröstend meine Hand und sagte:
»Das kann ich begreifen, aber Gott wird dir nicht nur Vater, sondern auch Mutter in der Fremde sein. – Gibt’s aber sonst etwas, was dich wegen dieser Reise beunruhigt?«
»Vieles nicht, Herr Pastor, aber doch einiges: ich habe gehört, daß die Kinder im Ausland ganz anders behandelt werden als hier bei uns. Man sagt, sie hätten keine Freiheit wie wir und dürfen nicht mit den Erwachsenen umgehen, sondern müssen immer unter sich sein wie Schafe in einer Hürde. – Das gefällt mir überhaupt nicht.«
Pastor Magnusson erwiderte lächelnd:
»Etwas Wahres ist daran. Hier darfst du dich sozusagen in völliger Freiheit in Berg und Tal und auf dem Meere noch dazu bewegen. Eine solche Freiheit gibt es im Ausland nicht so leicht. Da leben die jungen Leute in Internaten und müssen sich gewissen – übrigens vernünftigen – Bestimmungen fügen. Davor brauchst du aber keine Angst zu haben. Du wirst dich schon leicht daran gewöhnen.«
Es entstand eine Pause.
»Sie meinen also nicht, Herr Pastor«, fragte schließlich meine Mutter, »daß ich mich beunruhigen muß?«
»Nein, ich glaube nicht. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß es Gott selber ist, der Ihren Sohn auf diesen Weg führt, und daß er auch über ihn wachen wird. Sie brauchen keine Angst zu haben.«
Dann schloß er mit folgenden Worten, die großen Eindruck auf mich machten:
»Ich glaube fest an eine höhere Macht, die alles in unserem Leben leitet. Es gibt keinen Zufall in der Welt. ›Die Würfel werden in den Schoß geworfen, aber der Herr verteilt sie‹, sagt die Heilige Schrift. Alles, was uns trifft, mag es angenehm oder unangenehm, groß oder klein sein, kommt von Gott und wird uns immer von ihm zu unserem Besten gegeben.«
Ich war erstaunt über die Sicherheit, mit welcher Herr Magnusson sprach, und ich fühlte mich in meinem Entschluß, nach Frankreich zu reisen, mächtig gestärkt.
Meine Mutter dankte dem Pastor für den Rat, den er uns gegeben hatte. Dann dankte auch ich ihm. Er zog mich etwas auf die Seite und drückte mir drei Taler in die Hand.
»So«, sagte er, »da mußt du noch etwas Taschengeld haben auf die lange Reise. Halte dich nur immer an unseren Herrn und Gott. Er wird sich deiner annehmen.«
Dann nahmen wir Abschied und ritten heim.
Noch lange dachte ich nach über alles, was wir beim Pastor gesprochen hatten. Gott hatte etwas Wichtiges mit mir vor, dachte ich, und all mein Denken und Fühlen ging nun darauf aus, seinen geheimnisvollen Absichten zu entsprechen.
Eins aber konnte ich nicht begreifen, wie Pastor Magnusson und Herr Thorson, beide erfahrene und kluge Männer, eine entgegengesetzte Ansicht über meine Auslandsreise haben konnten. Nun, sagte ich zu mir, du wirst schon sehen, wer von beiden recht hat, wenn du zu dem deutschen Herrn in Kopenhagen kommst, und vielleicht mehr noch, wenn du mal in dem fernen Frankreich bist.
Mein Reitpferd hatte in den folgenden Tagen wenig Ruhe. Täglich ritt ich bald dahin, bald dorthin im Eyjafjördur herum. Überall, wohin ich kam, war das Erstaunen groß, sobald mein Vorhaben bekannt wurde. Manche gaben mir zu Ehren sogar ein kleines Abschiedsfest.
Mein Geldtäschchen, das ich einst von einem französischen Jungen gegen eine Mundharmonika eingetauscht hatte, wurde immer schwerer. Jeder wollte beitragen zur Aussteuer für meine Reise. Es war zuletzt so voll von blanken Talern, daß ich mir ein größeres verschaffen mußte.
Am schwersten fiel mir der Abschied von meiner Geburtsstätte, dem großen Hof Mödruvellir im Hörgatal. Hier hatte ich meine schönsten Kinderjähre verlebt. Auf dem Heimweg war ich so traurig, daß mir immer wieder die Tränen in die Augen stiegen.
Als ich spät abends nach Akureyri zurückkam, es war in einer Mittsommernacht, war es noch so hell, daß ich die weitausgestreckte Reede überblicken konnte.
Da auf einmal fuhr es mir wie ein elektrischer Schlag durch den ganzen Körper!
Was sah ich dort im Hafen? – Ich hielt mein Pferd an und schaute genauer hin.
Ja, es ist so! – Es ist »Valdemar«, das Schiff, das mich mitnehmen sollte!
Ich hatte es gleich erkannt. Jedes Jahr kam es zu uns, und schon oft war ich auf das Verdeck geklettert, um von den kleinen Dingen zu kaufen, die es immer von Dänemark mitbrachte.
Auf dem Schiffe war nämlich eine Kajüte in einen Kramladen umgewandelt.
Also »Valdemar« war wirklich gekommen.
Nie vorher hatte seine Ankunft einen solchen Eindruck auf mich gemacht wie heute.
Früher empfand ich bei seiner Landung wohl Freude, weil ich einen lieben Bekannten wiedersah. Heute aber wurde es mir traurig ums Herz.
Schnell ritt ich heim, stieg ab und ließ das Pferd zu der ihm bekannten saftigen Weide laufen. Ich ging hinein zur Mutter und sagte scheinbar gleichgültig:
»Mutter, Kapitän Foß ist angekommen. Wann wird er wohl wieder abfahren?«
»Einige Tage bleibt er hier, um seine Waren zu verkaufen. Aber er muß sich beeilen; die Eisberge nähern sich der Nordküste. Du mußt diese kurze Zeit benutzen, um von den Leuten hier in der Stadt Abschied zu nehmen und deine Sachen einzupacken.«
»Wann gehst du aber zu Kapitän Foß, Mutter, um mich bei ihm anzumelden?«
»Morgen früh, Nonni.«
Am folgenden Tag ruderten wir hinaus auf die große Reede, wo der Segler »Valdemar« lag.
Nach einer Viertelstunde lagen wir dicht an der pechschwarzen Schiffswand.
Der Steuermann hatte uns kommen sehen und half uns hinauf.
Die Mutter fragte ihn auf dänisch:
»Ist Kapitän Foß an Bord?«
»Ja, ich werde ihn sofort rufen.«
Er stieg in die Kajüte hinab, wo Kapitän Foß hinter der Theke stand und seine Sachen an einige Isländer verkaufte. Der Steuermann löste ihn ab, und alsbald kam der Kapitän die enge Kajütstreppe herauf.
Er sah gar nicht aus wie ein verwitterter Seemann, sondern eher wie ein vornehmer Beamter.
Er war mittelgroß, sein Haar war schwarz, und er trug einen kleinen Schnurrbart. Aus seinen schwarzen, lebhaften Augen leuchtete ein scharf durchdringender Blick.
Der Kapitän begrüßte meine Mutter höflich. Mir nickte er kurz zu. Dann sagte er:
»Womit kann ich dienen?«
»Herr Kapitän, ich möchte gern einen Augenblick mit Ihnen allein sprechen.«
Sofort winkte er dem kleinen Schiffsjungen, der zur Seite stand, und ließ ihn drei Stühle auf das Vorderdeck bringen.
Dann geleitete er uns dorthin mit den Worten:
»Entschuldigen Sie, Frau, meine Kajüte ist im Augenblick besetzt, deshalb müssen wir uns mit einem ruhigen Plätzchen hier oben auf dem Deck begnügen.«
Bald kam der Junge mit den Stühlen, und wir drei nahmen Platz.
Das Wetter war herrlich, kein Lüftchen regte sich. Die breiten ruhigen Wellen hoben und senkten das Schiff ganz behaglich, ohne die spiegelblanke See aufzurühren.
Meine Mutter begann nun:
»Herr Kapitän, dies hier ist mein Sohn. Er soll ins Ausland reisen. Können Sie ihn mitnehmen nach Kopenhagen?«
Der Kapitän dachte etwas nach, schaute mich an und fragte:
»Wie alt ist Ihr Sohn?«
»Zwölf Jahre, Herr Kapitän.«
»Er scheint ein gesunder und aufgeschlossener Junge zu sein. Meinen Sie, er kann die Strapazen aushalten, die mit einer so langen Seereise, besonders in dieser Jahreszeit, verbunden sind?«
»Ja, das kann ich ganz gut«, fiel ich ein.
Der Kapitän schaute mich lächelnd an und sagte:
»Schon gut, mein Junge; aber bedenke, der Herbst steht bevor; wir werden schwere Stürme durchmachen, bis wir nach Kopenhagen kommen.«
»Das macht mir gerade Spaß«, erwiderte ich und fügte noch hinzu: »Es ist mir gar nicht bange vor hohem Seegang.«
»Gut«, wandte der Kapitän sich an meine Mutter, »dann steht nichts im Wege. Doch alle Kojen sind besetzt. Wir sind für Mitreisende eben nicht eingerichtet. Deshalb müssen Sie für Matratze und Bettzeug selbst sorgen. Wir wollen dem Jungen eine Schlafstelle in der Kajüte zwischen mir und dem Steuermann einrichten. Da wird er am besten aufgehoben sein.«
»Danke, Herr Kapitän. Es freut mich, daß Sie ihm dort ein Plätzchen einräumen.«
»Sie können beruhigt sein. Sowohl der Steuermann wie auch ich werden ein wachsames Auge auf Ihren Sohn haben. Nur muß er versprechen, während der Fahrt streng zu gehorchen.«
»Ja, Herr Kapitän, das verspreche ich«, fiel ich wieder ein.
»Nun, mein Junge, dann wird wohl alles gutgehen.«
»Aber, Herr Kapitän«, fragte die Mutter, »wie steht es mit der Geldfrage? Was verlangen Sie für die Fahrt?«
Nachdenkend sagte der Kapitän:
»Für Kost und Aufenthalt während der unbestimmten Zeit, welche die Fahrt nach Kopenhagen dauern wird – sie kann nämlich zehn Tage dauern, sich aber auch ebensogut, zumal in dieser Jahreszeit, einige Wochen hinziehen –, ja, was soll ich sagen? Haben Sie an eine bestimmte Summe gedacht?«
»Nein, Herr Kapitän.«
»Nun, wenn wir sagen zwanzig Reichstaler, scheint Ihnen das zuviel?«
»Nein, das ist mir nicht zuviel.«
»Abgemacht. Der Knabe soll so behandelt werden, als wäre er mein eigener Sohn. Seien Sie ohne Sorge, ich werde ihn wohlbehalten nach Kopenhagen bringen.«
Die Mutter reichte dem Kapitän die Hand und dankte ihm.
»Aber«, fragte der Kapitän, »zu wem soll ich Ihren Sohn in Kopenhagen bringen?«
»Zu Herrn Gisli Brynjulfson. Dieser wird ihn dann zum Präfekten Grüder führen. Herr Gisli Brynjulfson wohnt auf der Dossering, der Präfekt Bredgade 64. – Wann lichten Sie die Anker?« fragte die Mutter weiter.
»Der Abfahrtstag ist noch nicht genau bestimmt; doch es wird an einem der nächsten Tage sein. Ich werde Ihnen Nachricht schicken.«
Die Mutter stand auf und verabschiedete sich vom Kapitän.
Beim Fortgehen besah sie sich nochmals das kleine Schiff, auf dem ihr Sohn nun bald die Fahrt durch die wilden Wogen des Atlantischen Ozeans machen sollte.
Wir stiegen hinab in unser Boot, das an der Seite des Schiffes ruhig auf und ab schaukelte.
Der Kapitän grüßte noch einmal freundlich, und ich ruderte wieder das kleine Boot nach Hause.