Читать книгу Nonni - Erlebnisse eines jungen Isländers von ihm selbst erzählt - Jón Svensson - Страница 4

Auf dem Berge

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Ich wischte meine Tränen ab und ging hinaus.

Unwillkürlich zog es mich hinab zum Strande, um dort mit meinen Freunden wieder zu spielen, zu laufen und zu springen. Das hatte ich bisher immer am liebsten gemacht.

Aber plötzlich war alle Lust dazu auf einmal verschwunden. Ich blieb stehen und schaute hinab auf all die Kinder dort unten.

Ihr Spielen kam mir jetzt vor wie etwas, das mich nichts anging, ja als etwas so Leeres und Gleichgültiges, daß ich mich umwandte und den Bergabhang gleich hinter unserem Hause hinauflief.

Ich wollte allein sein. Ich mußte nochmals alles das überdenken, was sich eben zugetragen hatte.

Bald war ich so hoch oben, daß ich nach Norden hin meilenweit hinaus über den mächtigen Eyjafjördur schauen konnte.

Es war so still und einsam hier. Im Westen stiegen die hohen Berge bis hinauf zu den Wolken, im Osten sah ich die spiegelblanke Wasserfläche des Eyjafjördur und darüber hinweg die Bergkette Vadlaheidi.

Weit, weit draußen im Norden entdeckte ich mitten im Fjord einen kleinen schneeweißen Punkt, der einer schwimmenden Möwe glich. Es war ein einsames Segelschiff, das, wie es schien, fortsegelte. Es fuhr wohl hinaus auf das offene Meer, in den Atlantischen Ozean.

Auf so einem kleinen Fahrzeug, dachte ich, werde ich auch bald sein und zu einem fernen, sonnigen Strande fahren. Dort wartet auf mich eine ganz unbekannte Welt.

Wie wird es mir da wohl gehen?

Ich werde zwischen fremden Menschen leben müssen, die eine mir unbekannte Sprache sprechen und andere, ungewohnte Sitten und Gebräuche haben.

Da bin ich dann ganz allein, ohne Vater und Mutter, ohne Geschwister, ohne Freunde und Verwandte, ja, ohne Vaterland.

Alle diese Gedanken drängten mit unheimlicher Gewalt und Klarheit auf mich ein, als ich so dem kleinen, weißen Schiff nachschaute, das immer mehr meinen Blicken entschwand.

Es kam mir vor, als wäre ich auf einmal älter geworden. Jetzt sollte ich anfangen, Mann zu werden, hat die Mutter gesagt. Aber würde ich dazu imstande sein? Lief ich nicht Gefahr, ganz allein und verlassen in der großen, weiten Welt unterzugehen?

Wäre es nicht besser, ich änderte meinen Entschluß und nähme das seltsame Angebot nicht an? Ja, das wäre wohl das klügste.

Bange Furcht überfiel mich.

In meiner Herzensangst und Ratlosigkeit seufzte und stöhnte ich laut auf:

»Ach, mein Gott! Allmächtiger Gott, was soll ich anfangen? Hilf mir doch!«

Da auf einmal fuhr ich zusammen. Ich hatte Stimmen gehört – Kinderstimmen. Woher kamen sie? Ich konnte es nicht sagen.

Sonderbar!

Ich schaute umher, niemand war zu sehen. Ich war ganz allein.

Sollte mich jemand belauschen? Nein, ich muß mich geirrt haben. Auch hörte ich jetzt nichts mehr.

Aber eigentümlich war es doch. Ich hatte es so deutlich vernommen.

Ich setzte mich auf einen Stein.

Die kleine Unterbrechung hatte mich in eine andere Stimmung versetzt und meinen Gedanken eine neue Richtung gegeben.

Wozu doch alle diese trüben Gedanken? sagte ich zu mir. Weshalb sollte ich mich eigentlich bange machen vor einer Reise in ein fremdes Land?

War es denn im Grunde nicht eine lockende, ja eine überaus glänzende Zukunft, die mir da winkte?

Und hatte ich mich nicht immer nach Abenteuern gesehnt?

Ja, welch ein Glück! Erst zu Schiff die Hunderte von Meilen über das große Meer, den gewaltigen Atlantischen Ozean, von Island bis nach Dänemark!

Wie verlockend war schon das, dieses schöne Land kennenzulernen, worüber ich soviel von meiner Mutter gehört und selbst gelesen hatte!

Es mußte doch wahrhaft ein wunderbares Land sein. Schon in der Edda hieß es ja »Freijas Saal«.

Und dann Kopenhagen, die größte Stadt des Nordens!

Eine Zeitlang saß ich da und träumte über die Wunderdinge dieser glänzenden Hauptstadt. – Der Runde Turm, in dem man mit Wagen hinauffahren kann. Die altnordischen Sammlungen mit den Waffen der Normannen und den Wohnungen und Pelzkleidern der Eskimos. Der Lustgarten Tivoli mit dem Labyrinth. Thorvaldsens, meines großen Landsmannes, Meisterwerke. Die Häuser und Paläste, die vielen Menschen, das heitere Leben und das Gewühl der Großstadt!

Und Kopenhagen wird nun eine Haltestelle auf der großen Reise sein! Noch vieles andere werde ich erleben auf der Fahrt nach dem Süden bis hinab zum Mittelländischen Meer.

Ich werde wohl mit einem Schiff von Kopenhagen zur Nordküste Frankreichs segeln. Von da wird es dann weitergehen mit der Eisenbahn. Die habe ich noch nie im Leben gesehen. Welch herrliche Fahrt quer durch das große Land, über Paris nach Avignon!

War nicht schon das allein ein strahlendes, bezauberndes Märchen!

Und in Avignon die gelehrte Schule! – Da würde ich zusammenkommen mit den lebhaften französischen Jungen und fleißig studieren, um so bald wie möglich gelehrt zu werden. Und dann würde ich vielleicht später als großer Herr nach Island zurückkommen?

Während ich so meinen Träumereien nachging, kam mir plötzlich wieder ein Aber in den Sinn.

Aber die Gefahren unterwegs! Wird Gott mich beschützen?

»Alles hängt doch schließlich ab von Gottes Segen.« So sagt die Mutter immer. Und was sie sagt, muß doch wahr sein.

Es werden gewiß auf dem langen Wege manche und große Gefahren auf mich lauern.

Soll ich nicht niederknien und, wie die Mutter mir geraten, an Gott mich wenden und ihn bitten, er möge meine Zukunft segnen? Ja, das will ich tun.

Ich war gewohnt zu beten. Selten ließ ich einen Tag ohne Gebet hingehen. Und in dem täglichen Gebet vergaß ich nie meine Eltern, die ich so liebte.

Ich stand also auf, kniete nieder, und mit gefalteten Händen begann ich mein kindliches Gebet.

»Allmächtiger Gott, lieber, guter Gott, hilf mir! Wenn ich von hier fortgereist bin, habe ich sonst niemand, an den ich mich wenden, auf den ich mich stützen kann, als dich allein. Ach segne doch meine Reise und meine Zukunft. Hilf mir, daß ich ein guter Junge bleibe. Sei immer mit mir und verlaß mich nicht. Auch bitte ich dich, lieber Gott, nimm dich meiner Mutter an. Laß sie glücklich sein, noch mehr als mich. Ja, lieber Gott, sie ist mir so lieb. Segne, ich bitte dich, meine liebe, gute Mutter und meine Geschwister ...«

Weiter kam ich nicht.

Abermals fuhr ich zusammen und sprang auf; wieder hatte ich dieselben Laute gehört wie vorhin! Jetzt aber ganz deutlich!

Was mochte das doch sein?

Da sprangen plötzlich einige Schritte von mir Bogga und Manni aus einer kleinen Vertiefung hervor und liefen auf mich zu.

Bogga, die mich sehr liebte, umarmte mich und rief: »Lieber Nonni, sei nur nicht böse auf uns. Wir wollten dich nicht belauschen; wir waren dort in der Kuhle und pflückten Heidelbeeren. Wir kamen nicht gleich zu dir, um dich nicht zu stören.«

Jetzt kam Manni mit einer Papierschachtel voll von frischen Heidelbeeren und sagte:

»Du versprachst mir, Blaubeeren für mich zu pflücken. Nun habe ich Blaubeeren für dich gepflückt. Da hast du sie alle, Nonni.«

Mit diesen Worten reichte er mir die Schachtel.

Ich stand da und war ganz verwirrt.

Die sind gewiß schon längere Zeit dort gewesen, dachte ich, und ich glaubte, ganz allein zu sein. Das machte mich so verlegen, daß ich kaum wußte, was ich sagen sollte.

Besonders war es mir unangenehm, daß sie mich hatten beten sehen.

Doch ihre Unbefangenheit beruhigte mich bald wieder.

Ich dankte Manni, ganz gerührt von seiner Selbstlosigkeit, und sagte dann zu Bogga:

»Aber wie seid ihr hierhergekommen? Ich habe euch ja gar nicht bemerkt.«

»Als wir dich hinaufsteigen sahen«, erzählte Bogga, »liefen wir auf einem kleinen Umwege hinter dir her. Wir hielten uns ganz still in der Vertiefung dort und pflückten Heidelbeeren für dich.«

Mit dieser Erklärung gab ich mich zufrieden.

Eine kleine Weile standen wir nun da, ohne ein Wort zu sprechen. Dann aber wandte sich Bogga in einem ganz andern Tone zu mir und sagte:

»Aber jetzt höre, mein lieber Nonni. Ich wollte dich etwas anderes fragen, und deshalb bin ich dir eigentlich nachgelaufen. Ich weiß, worüber die Mutter mit dir gesprochen hat, und möchte gern von dir erfahren, was ihr ausgemacht habt. Willst du es mir sagen?«

»Gut, du sollst es hören, Bogga. Es ist abgemacht, daß ich in einigen Wochen von hier fortreise nach Frankreich. Und das läßt sich nicht mehr ändern. Ich bin fest entschlossen dazu.«

Bogga schwieg.

Sie schlug die Augen nieder. Ich sah, sie war sehr traurig. Manni hingegen schaute mich mit seinen großen Augen fragend an. Er verstand noch nicht recht, worum es sich handelte.

Dann sagte er:

»Wo ist das, wohin du reisen willst, Nonni?«

»Weit weg von hier, Manni, nach Frankreich hinab.«

»Und wann kommst du wieder?«

»Ich komme vielleicht niemals zurück, Manni.«

»Niemals zurück?«

Der Kleine konnte die Worte nicht recht fassen, doch fügte er hinzu: »Das ist aber schade, Nonni!«

Für einen Augenblick schlug auch er die Augen nieder.

Aber dann kam er plötzlich mit der Frage:

»Nimmst du deine schönen Holzschuhe auch mit, wenn du nach Frankreich gehst?«

»Nein, Manni.«

»Dann bekomm ich sie, nicht wahr? Ich werde die Mutter schon drum bitten. Du hast doch sicher nichts dagegen?«

»Nein, gewiß nicht, Manni.«

Ich hatte vor kurzem ein Paar niedliche dänische Holzschuhe als Geschenk erhalten. Sie waren schwarz und rot lackiert, und ich sah sie als etwas besonders Feines, als eine Kostbarkeit an.

Sonst trugen wir meist kleine Stiefel oder isländische Schuhe aus Schafleder. Holzschuhe waren bei uns etwas ganz Neues, Ausländisches. Nur wenige hatten solche. Die meinigen waren in Kopenhagen hergestellt, kamen also von weit her.

Manni hatte keine bekommen und war deshalb etwas neidisch auf mich.

»Gut, Manni«, sagte ich also zu ihm, »du kannst die Holzschuhe jetzt gleich haben.«

Der Kleine dankte mir so stürmisch, als wenn ich weiß Gott was getan hätte.

Wir setzten uns nun alle drei nieder, und Bogga sagte:

»Jetzt kann aber auch ich dir etwas Neues erzählen; ich habe es heute gehört. Das Schiff, welches heute morgen von England hierher kam, hat die Neuigkeit mitgebracht, und augenblicklich spricht man in der ganzen Stadt von nichts anderem.«

»Ja, was ist denn das, Bogga?«

»Eine Neuigkeit, auf die du sehr gespannt sein wirst. Denk dir, Frankreich, das Land, wohin du reisen sollst, hat Deutschland den Krieg erklärt!«

»Wie? Frankreich hat Deutschland den Krieg erklärt? Das ist doch wohl nicht wahr?«

»Doch, Nonni, das ist ganz gewiß wahr. Kaiser Napoleon will gegen die Preußen kämpfen. Vor kaum zwei Wochen, am 19. Juli, hat er den Krieg erklärt. Als die Nachricht heute nachmittag bei den französischen Seeleuten, die sich zur Zeit hier aufhalten, bekannt wurde, waren sie alle rein wild vor Begeisterung. Sie wollen so bald als möglich nach Frankreich zurücksegeln, um für ihr Vaterland zu kämpfen.«

»Nein, ist das aber auch wirklich wahr? So komme ich ja nach Frankreich mitten in den Krieg! Ist das nicht schrecklich?«

»Ja, wahrhaftig, das ist bedenklich. Aber glaubst du nicht, daß es gefährlich für dich werden könnte, eben jetzt während des Krieges nach Frankreich zu reisen?«

»Allerdings, das kann schon sein. Aber das Schlimmste wäre doch, wenn dieser Krieg meine Reise verhinderte, so daß ich überhaupt gar nicht abreisen könnte.«

»Gewiß. Unmöglich ist es nicht, daß es so kommen könnte und daß aus deiner Reise wegen des Krieges nichts würde.«

»Aber dann bekäme ich ja die Holzschuhe nicht«, wandte Manni ganz ernsthaft ein.

»O Manni, du wirst schon sehen, ich reise ganz sicher fort.«

Sowohl mir als Manni wurde es eigentlich doch etwas unbehaglich zumute bei dem Gedanken an diesen unseligen deutsch-französischen Krieg: mir, weil ich dachte, meine Reise könnte schließlich doch verhindert werden; Manni, weil er fürchtete, er bekäme vielleicht die schönen Holzschuhe nicht.

Wir blieben noch eine Weile oben mitten im blühenden Kraut sitzen, unterhielten uns über die bevorstehende Reise und bauten Luftschlösser.

Endlich standen wir auf. Wir mußten uns beeilen.

Wir nahmen den kleinen Manni in die Mitte und sprangen in vollem Lauf über Blumen und Kräuter den steilen Berg hinab, bis wir an unserem Hause waren, wo die Mutter schon lange auf uns wartete.

Nonni - Erlebnisse eines jungen Isländers von ihm selbst erzählt

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