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6. Wiedergefunden.

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Auf dem Hof betrauerte alles den armen, unglücklichen Júlli.

Besonders wir Kinder weinten noch oft um ihn, wenn wir von ihm sprachen oder des Abends für ihn beteten.

Selbst unsere Spiele waren jetzt ganz anders geworden: wir verspürten nicht mehr so viel Lust dazu wie früher und waren lange nicht mehr so lebhaft dabei.

Die Zeit verging nur langsam.

Da endlich nach etwa vier Wochen wurden wir aus unserer Langeweile aufgerüttelt.

Wie damals, als man die Schafe auf die Weide trieb, kam auch jetzt wieder ganz plötzlich ein heftiger warmer Südwind dahergebraust.

Der Schnee schmolz so rasch, dass es eine förmliche Überschwemmung gab.

Haus und Hof und Stallgebäude standen bald wieder frei da, und vom Berge her begann es grün herabzuleuchten.

Man dachte sofort an Júlli und die vier Schafe, die noch fehlten. Jetzt mussten sie sich ja zeigen.

Aber auch diesmal hörte das Tauwetter plötzlich auf; wir bekamen wieder klares Frostwetter und Glatteis von dem Schneewasser.

Die Jahreszeit war schon vorgeschritten; es war Ende März. Da sind die grossen plötzlichen Schneestürme nicht mehr so zu fürchten.

Wir Kinder baten deshalb die Hausfrau, zusammen mit einem der Hirten auf den Berg gehen zu dürfen.

Die Erlaubnis wurde gegeben; doch musste der Hirt versprechen, dass er gut auf uns aufpassen werde.

So eilten wir denn hinaus voll Zuversicht, nun endlich unsere zwei Freunde zu finden.

Droben bei der Unglücksstätte verteilten wir uns nach verschiedenen Seiten und suchten und suchten.

Wir liefen bald da bald dort hin, vor und wieder zurück, schauten links und schauten rechts, aber von Júlli und Dúfa entdeckten wir keine Spur. —

Allmählich hatte ich mich ziemlich weit von den andern entfernt, doch kaum mehr als dreihundert bis vierhundert Schritte. Immerhin war ich am weitesten weg.

Da gab der Hirt mit seiner Flöte ein vorher verabredetes Zeichen, worauf wir Kinder uns sammeln und zu ihm kommen sollten.

Als ich das Zeichen hörte, richtete ich mich auf, sah hin nach dem Hirten und bemerkte, wie die Kinder von überall her zu ihm hinliefen.

Ich wollte gerade dasselbe tun, da geschah etwas Unglaubliches:

Die Eisrinde, auf der ich zu springen anfing, brach plötzlich durch, und ich sank zu meinem grössten Schrecken tief in den Boden hinein! ...

Im ersten Augenblick war ich wie gelähmt und konnte nicht einmal einen Schrei ausstossen; es schwand mir die Besinnung.

Ich war in ein unterirdisches Gewölbe hinabgestürzt!

Anfangs konnte ich gar nichts sehen, es war mir ganz funklig und schwindlig vor den Augen. Doch muss ich bald wieder zu mir gekommen sein.

Schmerzen spürte ich nicht. Ich stand auf und blickte scheu etwas um mich.

Da erschrak ich von neuem, dass ich am ganzen Leib zitterte, und jetzt schrie ich laut um Hilfe.

Vor mir stand nämlich ein schneeweisses Tier und sah mich mit leuchtenden Augen gerade an! Daneben lag ein zweites weisses Tier, das rührte sich nicht...

Erst nachdem ich den grössten Schrecken überwunden hatte, sah ich, dass beide Tiere weisse — Schafe waren!

Wer aber möchte die Überraschung beschreiben, die mir nun zu teil wurde! — Das stehende Tier, das mich so fest mit seinen glänzenden Augen anschaute, war — Dúfa! ...

Ich habe in meinen Knabenjahren mehr als einmal seltsame Erlebnisse gehabt; aber so wie dieses hat mich wohl keines überrascht und gerührt.

Ja, meine so lang und schmerzlich vermisste Dúfa stand leibhaftig vor mir und lebte!

Es schien mir, sie sei bedeutend grösser geworden in den vier Wochen, die sie hier unter dem Schnee lag.

Jetzt wich allmählich all meine Furcht und Schreckensangst, und es überkam mich eine unbeschreiblich grosse Freude.

Ich näherte mich dem lieben Tier und rief es beim Namen und liebkoste es.

„Du kleine Dúfa“, sagte ich, „blessaða littla lambið mitt! (mein gesegnetes, kleines Lämmlein!) Jetzt habe ich dich also wiedergefunden! — Arme Dúfa, hast so lange hungern und frieren müssen! Und der böse Schneesturm hat dich nicht mehr heimkommen lassen zu uns, und wir alle haben dich gesucht in der Spanischen Hütte und haben dich nicht gefunden. Und dann haben wir arg um dich geweint.“

So sprach ich in meiner kindlichen Freude eine Zeitlang mit ihr und streichelte sie und drückte sie an mich, und sie steckte, wie sie früher so oft getan, ihren Kopf unter meinen Arm.

Nun sah ich mich in meinem Gefängnis, in das ich niedergestürzt war, etwas um und überlegte, wie ich mich und Dúfa befreien könnte.

Es war eine rundliche Höhle, eine Eiskuppel. Sie mochte an zwei Ellen hoch sein und mass wenigstens ebensoviel im Durchmesser. Die Wände, vorher von Schnee, waren jetzt in Eis verwandelt.

Dass ich da allein nicht hinaufkäme, war mir klar; und auf den Rücken meiner Dúfa steigen und ihn als Stützpunkt für meinen Fuss gebrauchen, das wollte ich doch auch nicht. Das arme Tier wäre sicher unter mir zusammengebrochen. Nein, das durfte ich meinem Liebling nicht tun.

Auf das tote Schaf zu treten, das am Boden lag, getraute ich mir nicht.

Ich musste also bleiben, bis die andern mich entdeckten und hinaufzögen.

Indessen betrachtete ich Dúfa näher und sah jetzt, dass ihre Augen wirklich in einem ungewöhnlichen Glanze leuchteten.

Es war eigentümlich, aber ich musste gleich an Júllis Augen denken, da ich ihn zum letztenmal gesehen. Die leuchteten gerade so, und das war eines von den Zeichen, woran ich zu erkennen glaubte, dass er dem Tode nahe war.

Ach, nun sah ich auch Dúfa mit diesem Zeichen!

Das arme Tier, es war in der Tat ebenfalls dem Tode nah vor Hunger und Entbehrung.

Doch hielt es sich immer noch aufrecht und drückte fortwährend seinen Kopf an mir hinauf, gleich als wollte es mir etwas sagen oder wie früher in meinen Taschen nach Heu suchen.

Ich versuchte es aufzuheben und gewahrte zu meinem grossen Erstaunen, dass ich das ausgewachsene Schaf ohne die geringste Schwierigkeit heben konnte!

Es bestand nur noch aus Haut und Knochen und den leeren, wohl fast ausgedörrten Eingeweiden.

Jetzt erst begriff ich vollends, wie unsäglich mein armes, kleines Schäfchen die lange, lange Zeit gelitten haben musste in dieser kalten, finstern Eishöhle!

O wie gern hätte ich ihm etwas zu fressen gegeben! Allein ich fand keinen Halm mehr in der ganzen Höhle, nicht eine einzige Wurzel, sondern nur feine, aufgescharrte Erde.

Die beiden unglücklichen Tiere hatten alles aufgefressen.

Und jetzt war das eine schon vor Hunger umgekommen.

Als ich auch dieses tote Schaf näher betrachtete, entdeckte ich, dass ihm an mehreren Stellen die Wolle ausgerissen war!

Das schien mir sonderbar. Wie mochte das wohl geschehen sein?

Ich dachte ein wenig darüber nach....

Ja, jetzt wusste ich es, so unglaublich es mir zuerst auch vorkam: es war Dúfa, die in ihrem wahnsinnigen Hunger mit den Zähnen die Wolle vom Körper ihres toten Kameraden riss und sie verschlang! —

Ich begann nun wieder laut um Hilfe zu rufen, so lange, bis endlich der Hirt und gleich nach ihm die andern Kinder oben am Rand der Höhle erschienen.

Was jetzt folgte, kann ich nicht im einzelnen beschreiben, so lebhaft ging es zu.

Als die Kinder hörten, dass ich Dúfa gefunden hätte und bei ihr unten in der Höhle sei, da waren sie ausser sich vor Freude. Jedes wollte uns zuerst sehen.

Sie drängten sich so stürmisch vor, dass sie den Boden gar nicht mehr sahen, und plumps stürzten Óli, Bjössi und die kleine Imba Hals über Kopf auf Dúfa und mich herab!

Die andern musste der Hirt mit Gewalt zurückhalten, sonst wäre sicher ein Unglück geschehen.

Nun streckte er die Arme zu mir hernieder, und ich nahm Dúfa und reichte sie ihm entgegen.

Nachher zog er uns vier Kinder hinauf und sprang dann selber in die Höhle, um sie zu besichtigen.

Bis er wieder herauskam, unterhielten wir Kinder uns aufs zärtlichste und liebevollste mit Dúfa, und ich musste den andern erzählen, wie ich sie gefunden hatte.

Auf dem Heimweg, als wir an einem schönen grünen Plätzchen vorbeikamen, wollten wir Dúfa gleich grasen lassen, damit sie ihren fürchterlichen Hunger etwas stillen könnte.

Der Hirt aber verwehrte es uns ohne Erbarmen.

„Das wäre das Schlimmste, was wir machen könnten“, sagte er; „sie muss unter eine besondere Behandlung, wenn sie am Leben bleiben soll.“

Dúfa war noch so kräftig, dass sie den grössten Teil des Weges gehen konnte. Ab und zu aber trugen wir sie auch.

Daheim wurde sie in einen eigenen Raum gebracht, und was uns Kindern am meisten leid tat: sie bekam vorderhand nichts zu fressen.

Man erklärte uns, dass man erst versuchen müsse, die Wolle, die sie verzehrt, wieder herauszubekommen.

Als dies durch Eingeben von Öl glücklich gelungen war, begann die Fütterung mit altem, trockenem Heu. Davon erhielt sie aber anfangs nur sehr kleine Portionen und auch die in ziemlich langen Zwischenzeiten. Und es war gut so.

Dúfa erholte sich zu unserer grossen Freude viel schneller, als wir gedacht hatten, und wir konnten sie in der Spanischen Hütte wieder besuchen, so oft wir wollten.

*

Von Júlli hatte man sonderbarerweise noch keine Spur. Wir hätten gern nach ihm gesucht, aber wir fürchteten uns davor, denn wir wussten, dass er längst tot war. —

Wieder vergingen einige Wochen. Im April taute es noch stärker, und der Schnee schmolz fast ganz weg.

Eines Morgens nun, als ein paar Männer des Hofes eben auf den Berg gegangen waren, kam einer von ihnen eiligst wieder heim und erzählte, sie hätten unten in einer tiefen schmalen Felsenschlucht Júllis Leiche gefunden. Sie hätten sie aber noch liegen lassen, denn sie wollten die Sache erst dem Hausherrn melden.

Der Hausherr befahl sofort einigen Männern, eine Tragbahre und Decken herzurichten.

Dann zogen sie hinauf. Wir Kinder aber durften diesmal nicht mit.

Eine gute Stunde später sah man den traurigen Leichenzug den Berg herabkommen und sich langsam dem Hofe nähern.

Die Leiche war eingehüllt in die mitgenommenen Decken.

Daheim hatten inzwischen die Frauen in einer „Skemma“, einem kleinen mit den Wohnhäusern verbundenen Aussengebäude, einen langen Tisch zurechtgestellt.

Darauf wurde dann unser guter Freund gelegt mit all der Schicklichkeit und Sorgfalt, wie man sie dem teuren Toten erweisen konnte.

Als wir Kinder ihn so aufgebahrt sehen durften, brachen wir in heftiges Weinen aus.

Wir konnten Júlli noch gut erkennen. Seine Gesichtszüge hatten sich wenig geändert. Die Verwesung war von der Kälte aufgehalten worden.

In der einen Schläfe aber sah man eine grosse, klaffende Wunde.

Man hatte ihn auf dem Angesicht liegend gefunden auf dem Grunde der Kluft unter einem vorragenden Felsenstück.

Jetzt wusste man auch, warum man mit den langen Stangen nicht hatte zu ihm hinabdringen können, da man im Schnee so eifrig nach ihm suchte: die Stange konnte nur bis zum Felsenvorsprung gelangen, worunter er lag.

Alles andere erklärten sich die Männer also:

Gleich zu Beginn des Schneesturms versuchte Júlli den höchsten Punkt der Lavablöcke zu erreichen, um so eine weniger dicke Schneeschicht über sich zu bekommen. Dann aber stürzte er in die Kluft hinab und schlug den Kopf auf einen Stein auf.

Doch muss die Wunde nicht seinen augenblicklichen Tod bewirkt haben, sondern er konnte sich noch unter das breite Felsenstück schleppen, wo man ihn fand.

Da lag er dann und wartete auf den Tod, der ihn sicher bald erlöst hat.

Sein Wunsch, lieber ein kurzes Leben mit Ehre als ein langes mit Schande zu haben, war ihm erfüllt worden. —

Nach zwei Tagen wurde die Leiche in einen schönen Sarg gelegt, den ein paar von den Hirten verfertigt hatten.

Zu seiner letzten Ruhestätte wurde Júlli nicht, wie es sonst Brauch ist auf Island, zu Pferde gebracht, sondern es trugen ihn den langen Weg dorthin, tieftrauernd, seine treuen Freunde.

Sonnentage - Nonni's Jugenderlebnisse auf Island

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