Читать книгу Sonnentage - Nonni's Jugenderlebnisse auf Island - Jón Svensson - Страница 8
4. Der Rettungszug.
ОглавлениеInzwischen wurden alle Vorbereitungen getroffen, die Hirten und Schafe zu bergen.
Man nahm lange Holzstangen und befestigte an dem einen Ende starken Eisendraht. Der hatte Windungen ähnlich wie die eines gewöhnlichen Korkziehers.
Andere holten Schaufeln und Spaten auf dem ganzen Hofe zusammen und pfiffen alle Hunde herbei, die noch zu Hause waren.
Dann verliess der so eigenartig ausgerüstete Zug, junge und ältere Männer, den Hof.
Nur Weiber und Kinder blieben daheim.
Die Rettungsarbeit geht auf folgende Weise vor sich:
Zunächst werden die Stellen aufgesucht, wo man vermuten kann, dass die Verunglückten unter dem Schnee begraben liegen.
Da müssen dann die Hunde an der Oberfläche wittern und spüren.
Fängt einer an zu scharren und zu graben, so ist das ein Zeichen, dass das Tier mit seinem feinen Geruchsinn entdeckt hat, da unten muss etwas Lebendes sein.
Nun eilen sogleich die Männer herbei, und einer steckt die lange Stange hinab, bis er auf Widerstand stösst.
Sobald er dies merkt, dreht er die Stange einige Male herum, wie man einen Korkzieher in den Pfropfen bohrt.
Lässt sich jetzt die Stange ohne Schwierigkeit wieder heraufziehen, so kann man annehmen, dass kein lebendes Wesen unten ist; steckt sie dagegen fest, dann muss sich die Drahtspirale in der Wolle eines Schafes oder in den Kleidern eines Menschen verwickelt haben.
In diesem Falle gehen die Männer sofort mit aller Kraft daran, den Eingeschneiten auszugraben. —
Aber, wird vielleicht der Leser denken, wie ist es denn möglich, dass einer so weit unter dem Schnee längere Zeit leben kann? Da muss man doch notwendig ersticken!
O nein, so gefährlich ist das nicht. Die Luft dringt überraschend leicht auch durch dicke Schneeschichten. Auf Island kommt es zum Beispiel gar nicht selten vor, dass Schafe mehrere Wochen lang tief unter dem Schnee begraben liegen und schliesslich doch lebend in ihrem unheimlichen kalten Grabe gefunden werden. —
Einige Zeit, nachdem die Männer mit den Hunden hinausgezogen waren, kletterten wir Kinder bei der Haustür die hohe, feste Schneewand hinauf.
Oben war es grimmig kalt; aber es bot sich uns ein seltsamer Anblick dar.
Die Landschaft war gar nicht wieder zu erkennen. Es gab fast keine Unebenheiten mehr im Erdboden, keine Felsen, keine Klüfte, keine Hügel, keine Häuser und keine Stallgebäude.
Selbst unser ganzes Gehöft schien beinahe verschwunden. Da, wo es stand, sah man nur eine einzige grosse Erhebung in dem Schneeteppich.
Das ganze Land ringsum war verwandelt in eine endlose Fläche von weissem, schimmerndem Schnee.
Indes wir hielten uns nicht lange damit auf, die eigentümliche Landschaft zu betrachten, sondern wandten den Blick zur Ausschau nach dem Berge.
Bald entdeckten wir die Männer, welche die Verunglückten suchten.
Sie bewegten sich hierhin und dorthin, kamen ab und zu in kleinen Gruppen zusammen, als wollten sie miteinander beraten, und dann begannen sie von neuem zu suchen.
Auch die Hunde sahen wir, wie sie umherschweiften, sich wieder sammelten und da und dort eifrig mit den Vorderfüssen im Schnee scharrten.
Dann liefen die Männer hurtig herbei und steckten ihre Stangen hinab.
Doch es kam uns vor, als ob sie nichts fänden.
So standen wir ziemlich lange da in dem festgefrorenen Schnee, zitternd vor Kälte, und folgten beständig mit sorgenvollen Blicken den Bewegungen der Männer droben auf der Höhe.
Plötzlich drang aus der Tiefe eine Stimme zu uns herauf.
Es war, als käme sie aus einem Grabe:
„Kinder, kommt jetzt herein! kommt alle herein!“
Es war die besorgte Hausmutter, die nach uns rief.
Wir gehorchten sofort, kletterten die Schneewand hinunter und gingen in die warme Stube.
Die Lampen waren jetzt überall ausgelöscht, es war wieder Tageslicht da.
Von den Fenstern auf dem schrägen Dach hatte man nämlich den Schnee fortgeschaufelt und Eisschollen über die Scheiben gelegt, damit sie klar blieben, und so fiel das Licht von oben in alle Stuben und Zimmer hinein.
Die Hausmutter brachte uns allerlei gute Dinge zu essen und warme Milch zu trinken. Jedoch es wollte uns nicht recht schmecken. Wir sassen traurig um den Tisch und hatten keine Ruhe.
Bald musste der eine bald der andere von den Grösseren hinausgehen und den Schneegang hinaufkriechen, um zu schauen, wie die Dinge droben auf dem Berge stünden.
Aber jeder machte die gleiche Meldung: það sama, það sama, altaf það sama — „Dasselbe, dasselbe, immer dasselbe!“
Und so blieb es ein paar Stunden.
Endlich nach langem, bangem Warten kam Waldi, der gerade ausgesandt war, gesprungen und rief mit lauter Stimme rasch zur Türe herein, ein Mann auf Ski komme den Berg heruntergesaust, die andern dagegen seien beieinander an einem Platz versammelt.
Dann lief er gleich wieder hinaus.
Flugs eilten wir ihm nach, und im Nu standen wir alle wieder auf unserer Ausschau.
Waldi zeigte gleich nach der Richtung, woher der Mann kam, und so hatten wir ihn rasch erspäht.
Er mochte etwa halbwegs zwischen den Leuten droben und dem Hofe sein.
Wie ein Pfeil schoss er, auf seinen langen Ski fest und sicher stehend, den Berg herab. Er hielt einen Stab in der Hand und steuerte mit staunenswerter Sicherheit an jedem Hindernis vorbei. Rasend schnell kam er näher und näher.
Wenige Augenblicke noch, und mit einer kühnen Wendung im Halbkreis sauste er auf uns zu.
In Eile erzählte er: die vier Leute habe man leider noch nicht gefunden, doch sei man soeben auf die Herde gestossen. Sie werde bereits von einem Teil der Mannschaft ausgegraben. Die andern aber wollten dabei bleiben, nach den vier Männern zu suchen. Er sei vom Hausherrn heimgeschickt worden, um für die Leute etwas zum essen und trinken zu holen.
Dann gingen wir hinein in die Stube.
Der junge Mann bekam sein eigenes Essen gleich jetzt zu Hause. Es war besonders fein. Zuletzt gab es noch eine Tasse Kaffee und ein gutes Glas Kognak.
Unterdessen wurde alles hergerichtet, was er mitzunehmen hatte, und in einen Sack verpackt.
Darauf dankte er der Hausfrau für Speise und Trank, band sich den Sack auf den Rücken und machte sich mit seiner schweren Bürde wieder auf den Weg zum Berge hinan.