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Kapitel 1

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Das Flugzeug hatte gerade erst die Motoren abgeschaltet, als die ersten Passagiere aus ihren Sitzen hochsprangen.

»Meine Damen und Herren, im Namen von Air Berlin heiße ich sie herzlich willkommen auf Kreta. Bitte bleiben Sie noch so lange sitzen, bis das Anschnallzeichen über Ihnen erloschen ist. Die Ortszeit ist neun Uhr zehn und es erwartet Sie ein sonniger, wolkenloser Tag. Aktuell haben wir 28 Grad, als Tageshöchstwerte werden über 35 Grad vorhergesagt. Vielen Dank, dass Sie mit uns geflogen sind, im Namen der gesamten Crew wünsche ich Ihnen einen schönen Aufenthalt auf Kreta.«

Nur wenige lauschten der Ansage des Piloten.

In einer der hinteren Reihen saß Ryan am Fenster und blickte auf das etwas entfernte Flughafengebäude.

Ihr habt es alle so eilig, dachte er mit einem Lächeln auf den Lippen. Vermutlich würden die meisten Personen eine oder zwei Wochen auf der Insel bleiben, da zählte jede Minute. Ryans Rückflug war noch nicht gebucht. Sein Chef rechnete mit vier Wochen, bei Bedarf könnte er aber auch länger bleiben.

Ryan war auch beruflich mit Griechenland verbunden, er arbeitete als Chauffeur des griechischen Botschafters in Wien. Der Botschafter schätzte ihn sehr, weshalb er auch großes Vertrauen in ihn setzte. Denn der Grund seiner Reise nach Kreta war nicht, um sich zu erholen. Dieses Mal ging es um ein sehr persönliches Anliegen.

Er strich sich mit beiden Händen durch seine kurz geschorenen dunkelblonden Haare und schnappte sich seinen Schnellhefter, dessen Inhalt er inzwischen auswendig konnte.

Die Türen wurden geöffnet und die Fluggäste drängten ins Freie.

Als einer der Letzten, stand Ryan auf der Gangway zum bereitstehenden Bus. Warme Luft blies ihm entgegen. Obwohl es erst kurz nach neun Uhr morgens war, brannte die Sonne schon mit voller Intensität und trieb Ryan die Schweißperlen auf die Stirn. In Wien flog er bei Regen und kühlem Wetter ab, nun schwitzte er in seiner langen Jeans, Hemd und Lederjacke. Dabei wusste er nur zu gut, wie das Wetter Mitte Juni auf Kreta war.

Die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Ryan blinzelte und stieg die Treppen hinab, als er neben dem Flughafenbus einen schwarzen Jeep sah, dessen hintere Scheiben verdunkelt waren. Neben der geöffneten Fahrertür stand Ryans bester und längster Freund, Tákis, in schwarzer, knielanger Hose und schwarzem Trägerleibchen.

Der groß gewachsene, muskulöse Mann war fünfunddreißig Jahre und damit ein Jahr jünger als Ryan. Mit seiner kräftigen, durchtrainierten Statur und den langen, tiefschwarzen Haaren machte er fast einen bedrohlichen Eindruck.

Tákis und Ryan kannten sich seit ungefähr dreißig Jahren. Es war damals einer der ersten Urlaube von Reinhard Kurzmann, wie Ryan dem Reisepass nach hieß. Mit seinen Eltern, die als Lehrer immer ausgedehnte Sommerferien machten, verbrachte er mehrere Wochen auf Kreta und lernten dabei Tákis' Familie kennen. Die beiden Kinder waren trotz der Sprachbarriere vom ersten Tag an unzertrennlich. Es folgten weitere regelmäßige Urlaube, Ryan lernte Griechisch, Tákis Deutsch und die Freundschaft vertiefter sich mit den Jahren. Tákis hatte Ryan inzwischen auch schon mehrmals in Wien besucht und Ryans Urlaube fanden fast ausschließlich auf Kreta statt. Als Tákis Vater vor sechs Jahren bei einem vermeintlichen Unfall ums Leben kam, war Ryan ein Monat lang auf Kreta gewesen, um seinem Freund beizustehen. Zusammen mit Tákis' jüngeren Geschwistern, eine Schwester und ein Bruder, lebte er damals bei der Familie Komotini in Melidoni. Mama Komotini sagte am Ende seines Aufenthalts etwas zu Ryan, was für ihn die größte Ehre war:

»Du bist mehr als nur ein Freund, Du bist ein Bruder von Tákis, ein Teil unserer Familie.«

Für eine Frau wie Mama Komotini, der die Familie heilig war, war das die größte Anerkennung, die sie aussprechen konnte.

Ihr letztes persönliches Treffen war schon fast ein Jahr her, als Tákis‘ Schwester Eleni in Heraklion heiratete. Bei der Hochzeit hatten Tákis und Ryan beschlossen, einen Plan auszuarbeiten, um den Mörder von Tákis‘ Vater zur Rechenschaft zu ziehen.

Ryan ging auf Tákis zu, breitete die Arme aus und strahlte ihn freudig an.

»Als Du gemeint hast, Du holst mich ab, habe ich eigentlich an die Ankunftshalle gedacht.«

»Überraschung!«, meinte Tákis ebenso erfreut mit tiefer Stimme und umarmte ihn fest.

»Eleni hat möglich gemacht und die Wagen ist geliehen von dem Hotelbesitzer, wo Du wohnst, mein Bruder«, fuhr Tákis fort. Ryan genoss es, ihn Deutsch sprechen zu hören, vor allem, wegen seiner kleinen Fehler. Er wusste aber, dass Tákis‘ Deutsch bei Weitem besser war, als sein Griechisch.

Neben Tákis tauchte eine weitere Person auf, die Ryan ebenfalls bestens bekannt war.

Es war Despina, die Freundin von Tákis. Die leicht mollige Frau war um einen Kopf kleiner als Tákis. Die schulterlangen, dunkelbraunen Locken trug sie offen, das dunkelblaue Top wirkte zu klein für ihre großen Brüste. Ihre Sommersprossen im Gesicht waren aufgrund ihres dunkleren Teints fast nicht zu sehen. Auch sie grinste Ryan erfreut an.

»Willkommen auf Kreta!« Sie schnappte sich Ryan und zog seinen Kopf zu sich um ihn auf beide Wangen zu küssen.

»Hallo, mein wilder Lockenkopf. Es ist so schön, wieder hier zu sein.«

Despina machte einen Schritt zurück und betrachtete die beiden Männer.

»Ich glaube, Bärte sind wohl im Moment sehr angesagt, oder?«, meinte sie ironisch.

Ryan strich über seinen dunkelblonden Dreitagesbart, den er regelmäßig und sorgfältig stutzte. Tákis‘ schwarzer Bart war ebenfalls recht kurz, er trug ihn nur um die Mundpartie und am Kinn.

»Wir sind Männer und Männer tragen Bart«, stellte Tákis fest, »Auch wenn es Dich manchmal stört, mein geliebter Engel.«

»Du würdest genauso denken, wenn es jedes Mal kratzt, wenn …«, Despina sprach nicht weiter, grinste ihren Freund aber vielsagend an.

»Danke, mehr intime Details muss ich im Moment nicht wissen«, unterbrach Ryan das Liebespaar. Dabei wusste er sogar bestens Bescheid, zwischen ihm und Tákis gab es nichts, was sie noch nicht besprochen hätten.

»Lasst uns einsteigen, wir haben nur drei Tage um alles durchzuplanen«, erinnerte Tákis und öffnete Ryan die hintere Tür.

»Und meine Koffer?«, fragte Ryan nach.

»Mein kleiner Bruder Nikos holt sie und wird sie in Hotel bringen. Du hast doch verwendet die Koffer-bänder von mir?«

»Ja, Tákis, habe ich, auf beide Koffer.«

»Dann auf nach Bali.«

Tákis lenkte den Wagen über die Küstenstraße, Despina und Ryan saßen auf der Rückbank und plauderten. Despinas Eltern hatten einen Supermarkt und ein Geschäft mit kretischen Spezialitäten in der kleinen Ortschaft Bali, in denen sie mithalf. Die 29-jährige Frau wohnte zusammen mit Tákis über dem Geschäft in einer kleinen Wohnung.

»Sag mal, Ryan, jetzt kenne ich Dich schon seit fünf oder mehr Jahren, aber nie höre ich etwas von einer Freundin.«

»Mein Bruder lebt gerne alleine«, meldete sich Tákis vom Fahrersitz.

»Es war noch nicht die Richtige dabei. Nicht so wie bei Euch beiden«, erklärte Ryan.

Er war dabei gewesen, als sich Despina und Tákis das erste Mal trafen. Nach dem Unfalltod von Tákis Vater fiel Tákis in ein tiefes Loch und ließ niemanden an sich ran. Er geriet an die falschen Leute. Als ihn seine Mutter nach einer Schlägerei von der Polizei holen musste, vollgepumpt mit Drogen und Alkohol, kam der Anruf bei Ryan. Sie hoffte, dass er eine Möglichkeit finden würde, seinem besten Freund zu helfen. Ryan hatte damals den Job als Chauffeur des griechischen Botschafters in Wien gerade einmal drei Monate. Aber als er seinem Chef die Situation erklärte, gab dieser ihm sofort frei. Dem Griechen war seine Familie ebenfalls sehr wichtig und er zeigte vollstes Verständnis dafür.

In Kreta folgten nächtelange Gespräche zwischen den beiden Freunden. Eines Abends, als die beiden Männer in Bali an einer Strandbar saßen, sahen sie Despina mit ihren Freundinnen. Es dauerte etwas, bis sich Tákis eingestand, dass die Frau ihn vom ersten Moment an beeindruckte und mit Ryans Hilfe fanden die beiden zusammen. Despina sorgte sich um Tákis und brachte ihn wieder auf die Beine. Einige Monate nach Ryans Rückkehr nach Wien schrieb Tákis, dass er mit seinem Engel, wie er Despina nannte, zusammengezogen war.

Ryan war ein Einzelgänger, der sich nicht binden wollte. Keine seiner Beziehungen dauerte länger als ein halbes Jahr, womit er bislang auch nie ein Problem hatte. Und für das, was sie die nächsten Wochen geplant hatten, war es sogar notwendig, dass Ryan partnerlos war.

Tákis reichte ihnen eine Wasserflasche. Dabei sah Ryan die beiden Markenzeichen von Tákis. Zum einen trug er immer ein Paracord-Armband, ein dickes Band aus geflochtenem Fallschirmseil-Nylon. Heute trug er ein Schwarzes, was zu seiner restlichen Kleidung passte. Ryan hatte von Tákis eines dieser Armbänder geschenkt bekommen, welches sein Freund selbst geknüpft hatte. Aufgrund des Metallverschlusses transportierte Ryan es aber im Koffer.

Weiters war seine Tätowierung am rechten Oberarm deutlich zu sehen. Ein kunstvoll gestalteter Adlerkopf, der über einem Feuerkreis thronte. Tákis Vater hatte denselben Adler auf seiner Schulter getragen. Als Tákis sein Leben wieder im Griff hatte, entschied er sich für die Tätowierung des Adlers, der bei ihm aus den Flammen aufstieg.

Eine zweite Tätowierung bedeckte seine rechte Schulter. Es sah aus, als hätte er ein Korbgeflecht über der Schulter, kunstvoll ineinander verwebt, wie ein Teil einer Rüstung.

»In dreißig, vierzig Minuten, wir werden in Bali sein. Dein Zimmer ist im Blue Horizon, ein Studio mit eigener Küche. Wie Du gewünscht hast, mit Blick auf die Villa«, meinte Tákis.

»Mein Schatz hat mir eigentlich alles erklärt, aber was ich nicht ganz verstanden habe, wieso gerade jetzt und wie Du überhaupt alles erfahren hast?«, fragte Despina nach, »Wir fahren noch etwas, da kannst Du mir das alles genauer erklären, oder?«

Ryan nahm einen großen Schluck Wasser und reichte ihr die Flasche. Er holte tief Luft, lehnte sich zurück und begann zu erzählen:

»Es begann alles vor mehr als einem Jahr. Kurz vor Elenis Hochzeit bekam ich eine Unterhaltung meines Chefs mit. Es ging dabei um Victor Granat. Ich kannte den Namen sofort, immerhin hat Tákis ihn oft erwähnt.«

»Ja, ich weiß«, auch Despina war der Name nur zu gut bekannt.

Tákis Vater Kostas war Bus und LKW-Fahrer. Er hatte an dem schicksalsträchtigen Tag mit einigen Männern aus Melidoni eine große Lieferung von Rethymnon nach Bali zu liefern. Am Hafen mussten sie mehrere schwere Kisten in den Wagen verladen und nach Bali in die Villa von Victor Granat bringen. Dabei wurden die Kisten im Keller verstaut, durften unter keinen Umständen geöffnet werden und jeder ihrer Schritte wurde von Granats Bodyguards überwacht.

Im letzten Telefonat zwischen Tákis und seinem Vater, erklärte dieser seinem Sohn, dass einer der Bodyguards, ein Chinese, sie zurückfahren würde. Kurz vor Melidoni kam es zu einer unerklärlichen Explosion. Der Wagen flog in die Luft, es gab keine Überlebenden.

Victor Granat lebte zurückgezogen in seiner großen Villa, die im Hinterland von Bali war und nur wenige Personen bekamen ihn zu Gesicht. Als einige Wochen nach dem Unglück sein chinesischer Bodyguard im Ort auftauchte, war Tákis überzeugt, dass es kein Unfall gewesen sein konnte. Diese Überzeugung ließ ihn nicht mehr los und seine Gedanken an Rache wuchsen von Tag zu Tag. Weder Despina, noch Ryan konnten ihn davon abbringen.

»Ich habe erfahren, dass die griechische Regierung versucht, an Victor Granat heranzukommen. Er wird mit Waffengeschäften zwischen Russland und dem Nahen Osten in Verbindung gebracht. Aber genauere Beweise gibt es nicht.

Dann kam vor einiger Zeit die Information, dass Granats Tochter, Maria, demnächst nach Kreta fliegt. Gleichzeitig wurde bekannt, dass Granat sich nach Südamerika absetzen will. Scheinbar wird ihm der Boden in Europa zu heiß und einige russische Freunde dürften sich gegen ihn gewandt haben. Das alles sind aber nur Vermutungen, niemand hat handfeste Beweise und so kann auch niemand eingreifen.«

»Und da kommt mein Bruder Ryan in das Spiel«, warf Tákis ein.

»So ungefähr. Ich habe nur das Angebot gemacht, über Granats Tochter vielleicht etwas über die Geschäfte von Victor Granat in Erfahrung zu bringen. Von unserem eigentlichen Plan, es der Familie heimzuzahlen, habe ich nichts erwähnt.«

»Ich glaube, ich habe einen Punkt in der Geschichte versäumt. Wieso bist Du Dir so sicher, dass es damals kein Unfall war?«, wollte Despina wissen.

»Weil genau dasselbe noch einmal geschah. Wieder wurden einige Männer angeheuert, um eine große Ladung von Rethymnon zur Villa von Granat zu bringen. Die Männer aus Asteri kamen nie in ihrem Dorf an, einige Tage später fand man einen ausgebrannten Wagen auf einer abgelegenen Straße, unweit des Dorfes.«

»Und nun willst Du über die Tochter dieses Manns herausfinden, was in der Villa vor sich geht und nebenbei einen vermeintlichen Schwerverbrecher hochgehen lassen?«

»So ungefähr, mein wilder Lockenkopf. Wenn Victor Granat Kreta verlässt, wird er niemals zurückkehren und er kommt mit allem durch, was er gemacht hat. Das werden wir nicht zulassen. Er wird dafür bezahlen, was er Tákis, was er meiner zweiten Familie angetan hat.«

Ryans Blick verriet, wie ernst es ihm war.

Bittersüßer Rakomelo

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