Читать книгу Großfamilien-Bande - Joachim Oelßner - Страница 6
Eine Handvoll Sand
Оглавление„Hast du es gehört? Radio Trottoir trug die traurige Nachricht zu mir. Ein Bruder der Erstfrau ist verstorben, Gott hat ihn heimgerufen, und jetzt befindet er sich auf dem Weg zu ihm. Meines Wissens wird er ab morgen auf dem Familiengrundstück aufgebahrt, wo alle von ihm Abschied nehmen“, informierte Mateya ihre Mutter Sapela.
Sapela schaute skeptisch drein. Sie verstand sehr wohl, was ihre Tochter sagen wollte, doch sie hatte große Vorbehalte gegenüber dem Gatten ihrer Tochter, seinen Frauen und ihren Familien. Besonders seine Hauptfrau, die schon aus Selbsterhaltungstrieb stets ihre Position gegen die anderen Frauen ihres Mannes verteidigte, stand im Mittelpunkt ihrer Befangenheit. „Du willst also deine Trauer bekunden und der Erstfrau dein Beileid aussprechen. Was versprichst du dir davon? Hast du jemals mit dem Verstorbenen gesprochen? Vergiss es! Die Erstfrau wird dich niemals akzeptieren!“
„Vielleicht bietet sich während der Trauerfeier eine Möglichkeit, das Verhältnis zu ihr ein wenig zu verbessern. Ob gewollt oder nicht, wir sind ja eine Familie. Bisher habe ich sie immer nur zufällig getroffen und höchstens ein paar Höflichkeitsfloskeln mit ihr gewechselt. Und auf einer solchen Feier sind sowieso stets viele Menschen zugegen, eingeladen oder nicht. Mein Mann wird sicherlich dort sein.“
Die Zuversicht ihrer Tochter löste bei Sapela eher eine gegenteilige Reaktion aus: Ihre Skepsis wuchs. „Mateya, du kennst diese Familie nicht. Pflegen sie noch die alten Bräuche? Ich habe mich davon verabschiedet, das ist Vergangenheit!“ Zum Erstaunen ihrer Tochter war ihr skeptischer Tonfall Entschlossenheit gewichen.
Sapela schaute in das fragende Antlitz ihrer Tochter und seufzte. „Die jungen Leute haben keine Ahnung! Den Familienmitgliedern des verstorbenen Mannes, also seinen Eltern, seinen Geschwistern, den Kindern, Tanten, Onkeln und Neffen werden im Trauerfall traditionell mit einer Rasierklinge die Haare geschoren“, erklärte sie. „Seine Frau muss darüber hinaus von ihren weiblichen Familienmitgliedern von Kopf bis Fuß gewaschen werden, um sie von der Aura ihres Mannes und seiner Gefühlswelt zu befreien. Ansonsten wird sie den Rest ihres Lebens, selbst bei einem wohlhabenden neuen Mann, in seelischem Elend verbringen. Das nennt sich Mokuya-Fluch. An ihn glaubten früher alle. Ja, so war das“, schloss sie.
„Na gut, heute ist dieser Fluch Vergangenheit – oder nur sehr wenigen Menschen bekannt, zumindest in der Stadt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies in der Familie meines Mannes noch üblich ist. Außerdem beträfe das nur die familiäre Umgebung des Bruders der Erstfrau, nicht uns.“
„Wo findet denn die Trauerzeremonie statt?“, suchte Sapela nach einem neuen Argument, ihre Tochter vom Besuch der Trauerfeier abzubringen. „Auf der Parzelle der Erstfrau in Ngombe, im Viertel der Reichen? Aber vielleicht wohnte ihr Bruder in einem ärmeren Stadtteil, und die Aufbahrung findet dort statt? Dann bereite dich auf etwas vor, das durchaus noch Brauch ist. Wenn eine größere Trauerzeremonie ansteht, versperren Tagediebe und Halunken die Zugangsstraßen, verbrennen Autoreifen, füllen die Asche in irgendwelche Metallbehälter, pinkeln hinein und drohen dir, dich mit dieser Asche zu bewerfen – oder du zahlst eine gewisse Summe an sie. Ist sie zu klein, bewerfen sie dich dennoch mit diesem ekligen Zeug.“
„Ja, davon hörte ich. Das gibt es noch“, gestand Mateya. „Die Trauerfeier findet jedoch in Ngombe statt. Dort sind solche Überraschungen ausgeschlossen. Ich würde schon gerne zu dieser Feier gehen, um diese Familie besser kennenzulernen. Doch allein will ich nicht hingehen. Es wäre mir wohler, wenn du mich begleitest. Sicherlich wird auch eine weitere Frau meines Mannes, die ebenfalls hier in Kinshasa wohnt, ihr Beileid bekunden. Das gebietet ja schon die familiäre Höflichkeit“, drang Mateya auf ihre Mutter ein.
Widerstrebend und nur aus Mutterliebe willigte Sapela schließlich in den Wunsch ihrer Tochter ein, sie am nächsten Tag zu der Trauerfeier zu begleiten. Kaum hat sie zugesagt, begann Mateya mit den Vorbereitungen für den folgenden Tag. Die Haare mussten neu geflochten werden, und ein schicker Boubou oder eine Libaya mit Wickelrock waren aus dem Kleiderkorb herauszusuchen und zu bügeln. Missmutig verfolgte Sapela die Aktivitäten der Tochter. Zu ihrer Zeit war das Gegenteil der Fall gewesen: Ein so trauriger Anlass wie eine Trauerfeier erforderte damals eine entsprechend erbärmliche Kleidung. Doch heutzutage war jeder Anlass willkommen, sich herauszuputzen, sogar eine Trauerfeier wurde genutzt, um sich von der besten Seite zu zeigen. „Verkehrte Welt“, schlussfolgerte Sapela.
Am Folgetag begaben sich Mateya und Sapela zum Grundstück der Hauptfrau in Ngombe. Beide bekundeten der Familie des Verstorbenen ihr Beileid. Wie immer auf solchen Zeremonien waren Traurigkeit und Leid ansteckend. Bereits der Blick auf den aufgebahrten Leichnam rief den Tränenfluss hervor. Das heftige Weinen und Schluchzen der Trauernden erfüllten die Parzelle. Wie alle Gäste wurden Mateya und ihre Mutter von der Hauptfrau und den anderen Familienangehörigen mit der gebotenen Höflichkeit begrüßt.
Die Gattin des Verstorbenen war jedoch aus verständlichen Gründen nicht ansprechbar. Mateya stellte fest, dass man ihr tatsächlich die Kopfhaare geschoren hatte, alle weiteren Angehörige blieben hingegen verschont. „Ob man sie auch gewaschen hat?“, fragte sie sich im Stillen.
Mateya und Sapela stimmten in das Klagen der Trauernden ein, wurden wie alle anderen beköstigt und wechselten mit diesem und jenem einige Sätze, im Grunde die üblichen Phrasen der Höflichkeit. Mit ihrem Mann und mit einer weiteren Frau von ihm tauschte Mateya lediglich ein paar nichtssagende Worte.
Als die Dämmerung anbrach, verständigte sich Sapela mit ihrer Tochter, dass es Zeit zum Aufbruch war. Beide erhoben sich, um am Sarg für immer von dem Verstorbenen Abschied zu nehmen, danach wollten sie – wie üblich – bei der Familie auf Wiedersehen sagen. Viele der Trauergäste blieben sitzen, sie beabsichtigten, hier die Nacht in Trauer zu verbringen, andere nahmen ebenfalls die hereinbrechende Dunkelheit zum Anlass, um sich auf den Heimweg vorzubereiten. Sie erhoben sich, um sich zu verabschieden.
Einige Familienangehörige des Verstorbenen, darunter seine Schwester und Erstfrau von Mateyas Mann, standen ebenfalls auf, um die Gäste zu begleiten. Unter ihnen war auch Mimi, die fast erwachsene Tochter der Erstfrau. Sie arrangierte wie die anderen Frauen, so Mateya und Sapela, noch etwas an ihren Sandalen und erhob sich. Es blieb nicht aus, dass manche Hand, auch die von Sapela, den Sand berührte und ein wenig schmutzig wurde.
Völlig unvermittelt schrie Mimi auf dem kurzen Weg zum Sarg grell auf. Sie beschuldigte lautstark Sapela, Sand von ihrem Fußabdruck genommen zu haben.
Die Angeschriene erstarrte. Sie öffnete ihre schmutzige, aber leere Hand. Mimi schrie sie zornig an, dass sie soeben den Sand fallen gelassen habe. Sie kreischte wie verrückt, dass die Alte sie offenbar umbringen wolle. Sie habe es auf ihre Familie abgesehen, sie sei in ihren dunklen Absichten entlarvt und müsse getötet werden. Dabei ging sie hin und her, zeigte auf Sapela und beschimpfte sie als alte Hexe, bösen Geist, Unglück in Person. Mit dem anklagenden Geschrei provozierte sie einen Auflauf der Trauergäste. Wie von Sinnen sprach Mimi weiter auf die Anwesenden ein, dass diese Alte sie töten wolle, der Rest des Sandes in ihrer Hand sei der Beweis.
Entgeistert und völlig verschreckt ging Sapela einige Schritte zur Seite; alle wechselten erschrocken ihre Position. Mimi griff nun ihrerseits in den Sand, um diesen, wie sie vermutete, von Sapelas Fußabdruck zu nehmen, während sie Sapela weiter beschuldigte, sie töten zu wollen. „Sie missbraucht die Trauerfeier für meinen Onkel, um mich zu töten! Vielleicht hat sie auf mysteriöse Weise sogar meinen Onkel getötet! Dieser Alten ist alles zuzutrauen!“, tobte sie zornerfüllt. Einige Trauergäste nahmen offenbar diese Anschuldigungen ernst. Sie rotteten sich zusammen und diskutierten heftig das Für und Wider dieser Klage. Andere forderten dagegen die Anwesenden zur Mäßigung auf.
Sapela verschlug es die Sprache, sie war nicht in der Lage, das alles so schnell zu verarbeiten und zu erfassen; sie war sich in diesem Augenblick auch nicht der Gefahr bewusst, in der sie schwebte.
Mateya reagierte schneller: Sie warf der Schreienden vor, eine gemeine Verleumderin zu sein, die Hände ihrer Mutter seien zwar vom Anziehen der Schuhe nicht sauber, sie habe jedoch keinen Sand in ihren Händen gehabt, nur die ihrigen seien wahrhaft dreckig.
Mimi rastete daraufhin aus. „Ich werde einen Nganga-Nkisi aufsuchen, deine Mutter wird ihrer gerechten Strafe nicht entgehen“, drohte sie und gebärdete sich wie von Sinnen.
Das Durcheinander nutzend ergriff Mateya ihre Mutter, zog sie aus dem Gedränge. Schnellen Schrittes verließen sie das Grundstück. Erst an der nächsten Querstraße gönnte Mateya Sapela eine Pause. Die alte Frau war nicht nur völlig außer Atem, sondern auch seelisch völlig erledigt.
„Du weißt doch, was das bedeutet, Sand vom Fußabdruck einer Person zu nehmen?“
Mateya nickte nur, sie kannte diese magische Handlung, bezweifelte aber deren Wirksamkeit. Gleichzeitig wusste sie, dass der Glaube der Menschen daran das wirklich Gefährliche war. Auf der Trauerfeier waren einige Gäste offenbar tatsächlich bereit gewesen, ihre Mutter wegen einer solchen Handlung zu töten, nur einige hielten das scheinbar genauso wie Mateya für Unfug und hatten sich dagegengestellt.
Den Weg zu ihrer Parzelle legten sie schweigend zurück. Zu Hause angekommen ließen sie sich erschöpft auf ihren Stühlen nieder. Beide waren von dem Erlebten aufgewühlt, anfänglich sprachlos.
„Entschuldige, Mutter. Wenn ich nur im Ansatz geahnt hätte, welche Gefahren dort auf dich warteten, wäre ich niemals mit dir dorthin gegangen. Allein aber auch nicht. Diese Mimi ist so unglaublich infam, ich verstehe es nicht.“
„Was ist daran unverständlich? Sie wollen keinerlei Kontakt zu uns, wir sind für sie Nichts oder weniger als das. Und dein famoser Mann? Der ist auch nicht besser! Du weißt genau, dass er sich bei mir als unverheiratet vorgestellt hat, dabei hatte er sogar schon mehrere Frauen, von seinen Liebschaften rechts und links am Wege will ich gar nicht reden.“
Beide schwiegen, und im Stillen musste Mateya ihrer Mutter recht geben.
Nach ein paar Minuten lächelte Sapela plötzlich böse. „Ich bin gespannt, ob diese Frau wirklich zu einem Nganga-Nkisi geht und was dann passiert. Ich hatte jedenfalls keinen Sand ihres Fußabdruckes in meinen Händen. Da kann ich mich ganz entspannt zurücklehnen. Zwar hat diese Mimi sich noch einmal gebückt und Sand aufgehoben, aber ich denke nicht, dass es Sand von einem Abdruck meiner Füße war.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Jedenfalls war das heute unser letzter Kontakt zu dieser Familie“, erklärte sie Mateya entschlossen. Auch wenn du deinem Mann weitestgehend zu Willen sein musst, schleppe niemals, wirklich niemals, irgendjemanden aus der Sippe der Erstfrau hierher auf mein Grundstück!“
Nach der Flucht von Sapela und Mateya von der Trauerfeier beruhigte sich dort langsam die Situation, schließlich ging es ja um den aufgebahrten Toten. Auch Mimi beruhigte sich, zumindest äußerlich.
Die Mutter dankte Mimi, dass sie dieses Weib, die letzte Errungenschaft ihres Mannes, vertrieben habe. „Die sind wir los, für immer und ewig.“ Nach ein paar Momenten fragte die Mutter Mimi zögerlich, ob sie wirklich zu einem Nganga-Nkisi gehen wolle. „Der Sand in deiner Hand, ist tatsächlich von Mateyas Mutter?“
„Was denkst du denn? Als diese Alte den Sand fallen ließ, habe ich mir die Stelle gemerkt. Später hob ich den Sand dort auf, wo die Alte bei meiner Attacke gestanden hat. Ich habe diesen in eine Dose gefüllt; wenn mein Onkel bestattet sein wird, werde ich mich an einen Nganga-Nkisi wenden. Ich denke, dass du einen Erfahrenen kennst.“
„Ja, Mimi, mir ist ein ausgezeichneter Nganga-Nkisi gut bekannt, schon oft habe ich ihn besucht. Er gab mir immer gute Ratschläge oder half, meinem Willen Nachdruck zu verleihen. Dieser Fetischeur ist bekanntermaßen eng mit einem Ndoki verbunden. Gehe bitte nur zu ihm, wenn du sicher bist, dass der Sand von dem Fußabdruck der Alten stammt“, forderte die Mutter von Mimi.
Eine Woche nach der Beisetzung von Mimis Onkel ging Mimi mit ihrer Mutter zu dem empfohlenen Nganga-Nkisi. Herzlich begrüßte der seine alte und gut zahlende Kundin.
Mimi erläuterte ihm den Vorfall mit der Mutter einer Frau ihres Vaters während der Trauerfeierlichkeiten für ihren Onkel. Sie entrüstete sich nochmals über das dreiste Verhalten dieser gefährlichen Alten. Dabei überreichte sie dem Nganga-Nkisi die Dose mit dem Sand des Fußabdrucks.
Ihr Gegenüber nahm das kleine Behältnis entgegen, prüfte gewissenhaft den Inhalt und begann mit seinen Zeremonien. Einen kleinen Teil des Sandes warf er ins Feuer, einen weiteren Teil vermengte er mit irgendeiner Flüssigkeit, von der er wiederum einen Teil dem Feuer übergab.
Gespannt verfolgten die drei, was sich in dem gegenüber der Sitzgruppe aufgestellten Spiegel tat. Mimi und ihre Mutter erwarteten, dass dort das Bild von Sapela auftauchen würde. Nur langsam setzte sich das Bild zusammen – und dann war es eindeutig Mimi, die zu sehen war.
Mimi schaute fassungslos in den Spiegel, ihre Mutter schrie auf und forderte den Nganga-Nkisi auf, die Zeremonie rückgängig zu machen. Von Angst um ihre Tochter beherrscht, bot sie ihm unglaubliche Summen an.
Der Nganga-Nkisi schwieg eine Weile und bat schließlich Mimi und ihre Mutter, sein Haus zu verlassen. „Die Ahnen haben gesprochen. Das ist der Preis von Verleumdung und Lüge. Mimi wird in den kommenden Wochen erkranken und sterben.“