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Der unbekannte Onkel

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„Was hat meine Söhne so werden lassen, wie sie sind?“ Großmutter Dalida stellte sich seit Jahren immer wieder diese Frage. Sie verstand es nicht, alle Erklä­rungs­versuche endeten im Ungewissen. „Gleich kommt meine Enkelin Makanisi“, sagte sie sich, „das wissbegierige zwölfjährige Mädchen meiner Tochter, und will wissen, aus welchem Grunde ihre beiden Onkels Makambo und Mayele nicht miteinander auskommen. Wie kann ich etwas erklären, was ich selbst nicht verstehe?“

Gerade dachte die Großmutter an die Enkelin, da stand sie schon mit ihrer schlaksigen Gestalt in der Tür. Eigentlich freute sich die Großmutter immer, wenn ihre Enkelin sie mit ihren großen Augen anblickt und Fragen stellt. Aber in letzter Zeit wurden diese mitunter unangenehm, sie berührten Gescheh­nisse, die lange zurücklagen. Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie vor etlichen Jahren andere Ent­scheidungen getroffen und die Hintergründe mancher Vorkommnisse besser verstanden hätte. „War es die Verzweiflung des einen und der intellektuelle Stolz das anderen?“

Kaum nahm Makanisi auf dem Hocker neben der Tür Platz, sprudelte aus ihrem Mund schon eine Frage: „Großmutter, warum haben wir nur zu Onkel Makambo Kontakt? Ich würde auch gerne Onkel Mayele sehen! Fast jeden Monat besuchen wir Onkel Makambo und seine Familie, noch nie trafen wir den anderen Onkel. Ich weiß nicht einmal genau, wo er in Kinshasa wohnt!“

„Das mit deinem Onkel Mayele ist kompliziert, Makanisi. Er gehört nicht mehr zur Familie.“ Die Groß­mutter zögerte mit der Antwort. „Kann ein so junges Mädchen die Tragweite der damals geäußerten Worte verstehen“, fragte sie sich. Sie entschied sich für die Wahrheit, früher oder später wird sie es sowieso er­fahren. „Dann ist es besser, wenn sie es von mir erfährt als von meinem Sohn Makambo“, sprach sie sich Mut zu. „Auf einer Familienberatung bezeichnete sich mein Sohn Mayele selbst einmal als ein Ndoki! Das ist zutiefst ver­werflich – oder man ist wirklich so ein unaussprechliches Ungeheuer oder Dämon!“, erwiderte kurz angebunden die Großmutter. Offenbar wollte Großmutter nicht weiter über diesen Vorfall sprechen, so der Eindruck von Makanisi, da die Großmutter sofort Fragen zu ihrer Schule und einer Freundin stellte.

Das Mädchen hielt sich gern bei der Großmutter auf. Auch wenn das Rheuma ihr zusetzte und sie nicht mehr so flink mit ihren Bewegungen war, sie kannte viele seltsame Geschichten aus vergangenen Zeiten. Allein ihre weißdurchsetzten Kraushaare sprachen von Lebenserfahrung und Klugheit. Einmal erzählte sie von ihrem Großvater, der ehemals in Kasai lebte. „Er lernte in der katholischen Kirche lesen, um der Gemeinde das Wort Gottes aus der Bibel vorzutragen, doch er eignete sich zugleich das Schreiben an. Das war sein Ver­hängnis! Als in einem großen belgischen Unternehmen am schwarzen Brett eine freie Stelle angeschlagen war, konnte er seinen Stolz nicht unterdrücken und bewarb sich. Bald kam ein befreundeter Polizist und informierte ihn, dass er in dreißig Minuten zurückkomme, um ihn zu ver­haften. ‚Du weißt doch, Schwarze dürfen weder die Kunst des Lesens noch des Schreibens beherrschen! Und du bewirbst dich mit einem Brief!‘, schimpfte er. Mit den Kolonialherren wollte sich Großvater nicht anlegen, packte schnell seine wenigen Sachen zusammen und verschwand. Schließlich landete er hier in Kikwit und wurde ein Spezialist für Ölpalm­plantagen.“ Das waren spannende Geschichten, ganz nach dem Geschmack Makanisis.

Aber heute ließ Makanisi nicht locker. Nachdem sie einige Fragen der Großmutter beantwortet hatte, fing sie erneut mit ihren beiden Onkels an. Großmutter Dalida hatte den Eindruck, als ob Makanisis Kraushaar, das zu abstehenden Antennen geflochten war, Signale aussendete, um sie zum Sprechen zu bringen. Jeden­falls erwärmte Makanisis Interesse Großmutters Herz.

„Diese beiden Onkels sind doch deine Söhne, Großmutter! Wie waren sie denn als Kinder? Haben sie zusammengespielt oder haben sie schon damals nicht miteinander gesprochen, sich nur gezankt und geprü­gelt?“, versuchte Makanisi der Großmutter irgend­etwas Interessantes zu entlocken. Vor allem das Wort Ndoki weckte ihre Neugierde und Spannung. Vielleicht erfuhr sie den Grund, weshalb ihre Mutter sich so schweigsam bezüglich ihres Bruders Mayele gab?

Dalida lachte und begann nun doch zu erzählen: „Die beide und sich prügeln? Niemals! Als Kinder spielten sie gemeinsam in der Nähe des Hafens am Kwilu-Fluß, etwa dort, wo heute noch die verrosteten Stahlgerüste der riesigen Produktionsanlage für Palmöl stehen. Früher gab es um Kikwit herum überall riesige Ölpalmplantagen. Damals wurde das Palmöl in alle Welt exportiert. Seit der Nationalisierung ist das vorbei.“ Großmutter legte eine Pause ein, um auf Makanisis Frage zurückzukommen. „Die beiden Jungen besuchten später das hiesige Gymnasium, oft lernten sie gemeinsam oder spielten Fußball. Onkel Makambo beendete zuerst die Schule, er war ja auch zwei Jahre älter. Danach ging er nach Kinshasa und studierte Logistik. Mayele begann hier in Kikwit im katholischen Seminar seine Ausbildung zum Priester.“ Großmutter seufzte, bevor sie fortfuhr: „Ich gestehe, das war mein Wunsch. Ich hoffte auf einen Priester in unserer Familie. Ja, ich habe ihn zu diesem Studium gedrängt. Die ersten beiden Jahre vergingen ohne Prob­leme, im dritten Jahr sprach mich ein Priester an und meinte, dass sie Schwierigkeiten mit dem rebellischen Geist von Mayele hätten. Ich konnte das damals nur zur Kenntnis nehmen, ich sah ihn ja kaum. Die angehenden Priester lebten, lernten und schliefen im Seminargebäude. Eines Tages legte ich den weiten Weg zum Seminar vor der Stadt zurück, um ihn zu sehen. Seltsamerweise musste ich ewig warten, bis ich ihn sprechen konnte. Er bestätigte mir, dass er im Seminar viel lerne, vieles interessant sei, aber die Reglementierungen und den Gehorsamszwang kaum noch aushalte. Gleiches gelte für die geforderte Enthaltsamkeit gegenüber Frauen. Er sagte damals, dass dies gegen seine Natur sei. Vielleicht ist das der Schlüssel zu seinem Verhalten und den späteren Problemen.“ Großmutter legte wieder eine Pause ein und meinte für heute das Gespräch beenden zu müssen. Sie sei müde, auch wühlten diese Erinnerungen ihre Gefühle zu sehr auf. Sie wollte das Gespräch vor allem deshalb beenden, weil sie vor der Zwölfjährigen unbedacht von dem schwierigen Verhältnis der katholischen Priester zu Frauen sprach.

Das Gespräch mit der Großmutter ging Makanisi nicht mehr aus dem Kopf. „Alle Welt, wirklich jeder hat Angst vor einem Ndoki – und mein Onkel bezeichnet sich selbst als ein solches Wesen?“ Ohne dieses schlimme Unwort zu nutzen, versuchte sie ihre Mutter und Onkel Makambo nach den Gründen für den Aus­schluss dieses Onkels aus der Familie zu befragen, aber sie stieß nur auf Ablehnung. Onkel Makambo fragte sogar von wem sie spreche! Vor ihr tat sich ein Fa­milien­geheimnis auf, das spannender nicht sein konnte.

Makanisi wartete auf eine günstige Gelegenheit, Großmutter Dalida erneut zu befragen. Die Mutter und die Geschwister sollten nicht zuhause sein und Großmutter bei guter Gesundheit, ohne ihre Rheuma­schmerzen. Als diese Bedingungen zusammenfielen, setzte sich Makanisi voller Hoffnung auf eine Fortsetzung dieser seltsamen Geschichte zu ihrer Groß­mutter. Diese brauchte nur in das erwartungsfrohe Gesicht Makanisis zu blicken, um zu wissen, was sie wollte. Ihr Wunsch stand deutlich in ihren großen Augen.

„Also gut Makanisi, jedenfalls war ich im Seminar, wo er mir gestand, dass er sich mit all der Gängelei im Seminar unwohl fühle. Was konnte ich unternehmen? Priester zu werden war ein Traum vieler junger Männer. Es war eine Auszeichnung, dort in diesem Seminar ausgebildet zu werden! Doch mein Sohn beschwerte sich! Sicherlich gab ich ihm damals viele gute Ratschläge, aber man kann einem Löwen auch nicht vorschreiben, immer im Kreis zu laufen! Ich sprach mit einem Verantwortlichen für das Seminar. Er bestätigte mir, dass mein Sohn außergewöhnlich intelligent sei, aber leider auch rebellisch. Er hatte Schwierigkeiten, sich in die erforderliche Disziplin des Seminars einzufügen. Doch ein Priester ohne Disziplin wird nie ein richtiger Priester sein. Voller Sorgen kehrte ich zurück. Im Verlaufe der nächsten Tage und Wochen rechnete ich immer mit einer unerquicklichen Nachricht aus dem Seminar. Die Zeit verging und ich beruhigte mich wieder. Doch nach über einem Jahr stand er plötzlich vor der Tür. Freudestrahlend erklärte er mir, dass man ihn hinausgeworfen habe. Was war passiert? Er habe als angeblicher Schlafwandler den Schlafraum verlassen, sei nachts durch den Park spaziert und habe dort unter freiem Himmel geschlafen. Als die angehenden Priester ihn fanden, habe er ihnen erzählt, dass er als Ndoki durch die Lüfte geflogen sei! Mein Sohn Mayele hat als Priesterschüler, ich traue es mir nicht auszusprechen, auf diese Weise Gott verleumdet, er huldigte einem anderen Wesen! Ich war am Boden zerstört, doch mein Sohn war guter Dinge! Ist so ein Verhalten normal? Damals fragte ich mich bereits, ob er wahrhaftig von einem Ndoki besessen sei. Nun wollte er an der Universität in Kinshasa Philosophie studieren! Er meinte, dass man nach dem Studium als Lehrer, Journalist oder auf einem anderen Gebiet arbeiten könne, jedenfalls hätte man später viele Möglichkeiten. Was sollte ich tun? Ich willigte schweren Herzens ein. Ich kratzte mein Geld zusammen, um das Studium zu bezahlen. Zeitweise wohnte er bei seinem Bruder, damals verstanden sie sich noch, mitunter auch bei Freunden. Doch in Kinshasa, oder vielleicht gerade dort, übermannte ihn wieder sein rebellischer Geist. Damals gab es überall im Lande Proteste gegen Präsident Mobutu, allen voran unter Studenten und unter ihnen mein Sohn Mayele. Jedenfalls wurden er und viele andere männlichen Studenten für zwei Jahre in die Armee eingezogen. Er absolvierte diesen Militärdienst und beendete danach sogar das Studium. Offenbar sah er ein, dass sein Philosophiestudium vielleicht interessant, aber letztendlich ungeeignet für den Lebensunterhalt ist. Er hat dann nebenher so etwas wie Buchhaltung oder Finanzen studiert. Nach dem Studium fand er schnell eine Anstellung in einer Bank und verdient seither gutes Geld. In dieser Zeit ging die Firma, wo sein Bruder arbeitete, pleite, Makambo verlor seine einträgliche Anstellung. Damals unterstützte ihn Mayele. Makambo kam nach Kikwit zurück, wo er sein kleines Geschäft mit den Pousse-Pousse aufbaute.“

Die Enkelin lauschte andächtig den Aus­führungen der Großmutter und vergaß die Zeit. „Es ist Zeit schlafen zu gehen, Makanisi, einen anderen Abend erzähle ich dir den unerquicklichen Rest.“

Als Makanisi am nächsten Morgen erwachte, erinnerte sie sich, geträumt zu haben, aber nicht von was. „Sicherlich von meinem unbekannten Onkel Mayele“, meinte sie unsicher zu sich selbst. Der Wunsch, der sich schon immer in ihr regte, diesen selt­samen Onkel kennenzulernen, wurde mit Großmutters Erzählungen immer intensiver. Sie wollte unbedingt herausbekommen, wo dieser Onkel Mayele in Kinshasa wohnen könnte. Onkel Makambo brauchte sie sicher­lich nicht zu fragen. Beiläufig fragte Makanisi eines Tages ihre Mutter und war schon erstaunt, dass sie überhaupt eine Idee hatte, wo er wohnen könne. „Das ist in Binza, aber nicht in so einem großen Haus. Dort, wo die Tischler ihre Werkstätten und Verkaufsstände haben, dort irgendwo gegenüber“, äußerte sie. Maka­nisi dankte entmutigt ihrer Mutter und fragte sich, wie sie bei dieser Beschreibung ihren Onkel finden könne. „Weiß die Großmutter wirklich nicht, wo ihr Sohn zu finden ist? Ist das vorstellbar?“ Sie beschloss bei nächster Gelegenheit, sie nochmals zu befragen, vor allem auf ihre mütterlichen Gefühle zu bauen.

Nach etwa drei Wochen ergab sich endlich erneut für Makanisi die Gelegenheit, die Großmutter nach dem Fortgang der Geschichte zu befragen.

„Als Makambo damals seine Anstellung verlor, unterstützte ihn Mayele. Beide waren anders, im Aussehen, vor allem aber in ihren Charakter­eigen­schaften, sie unterhielten jedoch ein normales Ver­hältnis. Mayele ist klein, geschmeidig, scharfzüngig und intelligent. Makambo ist stark gebaut, strebsam, bodenständig und hat seine Hochschule mit gutem Erfolg beendet. Mittlerweile lebt auch Mayele mit einer Frau zusammen und hat Kinder. Doch dann passierte diese schlimme Sache: Der älteste Sohn von Makambo verstarb, eines morgens lag er leblos im Bett. Selbst der Arzt konnte nicht genau die Todesursache benennen. Er war etwa so alt wie du jetzt, ein munterer, kluger und sportlicher Bursche. Sein Tod hat uns alle zutiefst erschüttert, zuallererst seinen Vater. Er war wie von Sinnen. Bald darauf gab es diese verhängnisvolle Familienberatung. Makambo als Familienoberhaupt beschuldigte im Verlaufe der Diskussion vor allen Verwandten seinen Bruder Mayele, als Ndoki seinen Sohn getötet zu haben. Er habe seine Seele entwendet und gefressen, dann ist er verstorben. Sein Rauswurf aus dem Priester-Seminar, seine spätere Zwangsver­pflichtung zur Armee, aber auch seine ‚Yaka tovanda‘-Ehe („komm und setz dich“, Umschreibung für eine wilde Ehe) bewiesen dies. Ich sehe noch heute das verdutzte Gesicht meines Sohnes vor mir: Mayele starrte entsetzt auf seinen Bruder. Nach einer ewig langen Minute sah ich wie alle anderen eine Wandlung seiner Mimik in ein überrascht-ungläubiges Gesicht und, Makanisi, du glaubst es nicht, er fing auf einmal an zu lachen. Er erklärte danach der Familie mit ernstem Gesicht, dass ihm der Tod des Sohnes seines Bruders nahe gehe, ihn unendlich leidtue und Makambo sowie seine Frau sein Mitgefühl haben. Plötzlich wechselte erneut seine Mimik ins Komische und er meinte, dass die Idee mit dem Ndoki genial und zugleich lustig sei. Laut und deutlich sagte er der Familie: ‚Jawohl ich bin ein Ndoki‘! Dabei schnitt er wüste Grimassen, gestiku­lierte wild mit den Armen, lachte – und ging. Damals brachen wir alle Beziehungen zu ihm ab. Wir haben einen Ndoki in der Familie, das ist schlimm. Wir verheimlichen das, niemand darf es außerhalb der Familie wissen. Das gilt auch für dich, sage es niemals weiter! Bring uns kein Unglück!“

„Großmutter, vielleicht glaubt er gar nicht an die Bandoki, für ihn ist das alles nur Unsinn? Das würde seine Reaktion erklären!“, erwiderte Makanisi vor­sichtig. Sie wollte ihrer Großmutter nicht sagen, dass sie das für traditionellen Aberglauben hält.

„Mädchen, diese Bandoki gibt es, man sollte sie niemals provozieren! Sie sind gefährlich, äußerst gefährlich! Auch wenn es mein Sohn ist, niemals kann jemand eine Beziehung zu einem Ndoki unterhalten, nie! Unter keinen Umständen!“, unterstrich die Groß­mutter.

Makanisi gab es auf, weiter mit diesem Anliegen in Großmutter einzudringen. Ebenfalls verzichtete sie, nach der Adresse von Onkel Mayele zu fragen. Viel­leicht ergibt sich irgendwann die Möglichkeit, in den wenigen Unterlagen der Großmutter zu suchen. Sie dankte Großmutter Dalida, dass sie ihr die Geschichte überhaupt erzählte. Eine so schlimme Geschichte der Familie werde sie für sich behalten.

Endlich war Makanisi allein auf dem Grundstück. Es gab wegen Erkrankung ihres Lehrers Schulausfall, Großmutter war beim Arzt, Mutter auf dem Markt, die anderen Lehrer waren glücklicherweise gesund und unterrichteten ihre Geschwister. Sie wusste, dass Großmutter ihre persönlichen Dinge, vielleicht auch ihre Geheimnisse, in einem kleinen Koffer aufbewahrte. Aber wo war der Schlüssel? Gepackt von ihrer Neugierde, die Adresse des Onkels zu finden, suchte sie an den entlegensten Stellen nach dem Schlüssel, aber ohne Erfolg. „Er muss dort sein, wo sie leicht dazukommt, sicherlich nicht unter dem Schrank oder wo ich noch gesucht habe“, sagte sie sich. Ihr Blick fiel auf eine abgegriffene Büchse auf der Kommode. Sie ging hin und entdeckte tatsächlich einen Schlüssel. Sie zog unter dem Bett Großmutters Koffer hervor und hatte Glück. Der Schlüssel passte, der Kofferdeckel sprang auf. Hier befanden sich die Ge­heim­nisse von Großmutters langen Leben und vielleicht sogar irgendwelche Reichtümer. Als erstes fielen ihr einige seltsame Fotos in die Hände. Erst verstand sie nicht, was an ihnen seltsam war, doch dann begriff sie: Auf den Familienfotos war irgendwas oder irgendwer weggeschnitten worden. War es vielleicht Onkel Mayele? Andere Fotos hatten ein Loch, genau dort, wo der Kopf war. Waren es Verstorbene oder wieder Onkel Mayele? In dem Koffer fand sie noch einen dicken Brief­umschlag mit vielen Dollarnoten, den sie verwundert ordentlich zurücklegte. In einer Einlege­mappe entdeckte sie seltsame Dokumente: Obenauf lag ein Passagierschein vom Beginn der fünfziger Jahre zum Betreten des Stadtteils Ngombe von Leopoldville, wie Kinshasa früher hieß, für irgendeinen Kongolesen. Sie nahm sich vor, jemanden zu fragen, was das bedeutet. Sie schaute sich auch die anderen Blätter an: Es waren Geburtsurkunden, als Mutter war stets die Großmutter eingetragen, aber es gab drei verschiedene Väter für ihre fünf Kinder. Onkel Makambo und Onkel Mayele hatten unterschiedliche Väter! Mayeles Vater war auch der Mann auf dem Passagierschein für Ngombe. Makanisi war so aufgeregt über diese Entdeckung, dass sie vergaß nach dem Vater ihrer Mutter zu suchen. Nun fiel ihr wieder ein, was eigent­lich ihr Anliegen war: Die Adresse von Onkel Mayele. Ganz unten im Koffer entdeckte sie einen weiteren sehr abgegriffenen Briefumschlag, den sie neugierig in­spizierte. Sie fand darin die fehlenden Teile von den abgeschnittenen Fotografien, sogar einige aus den Fotos herausgeschnittene Köpfe fielen aus dem Umschlag heraus. Interessiert betrachtete sie ein Foto eines unbekannten Mannes, ist das vielleicht der unbekannte Onkel? Aufmerksam musterte sie das Foto, konnte aber aus seiner Haltung und seinem Gesicht keine Charaktereigenschaften herauslesen. Wenn sie ihn kennenlernen wollte, musste sie seine Adresse finden. Alles hatte sie mittlerweile in Eigenschein genommen, aber ergebnis­los. Zufällig drehte sie den Umschlag mit den Resten der abgeschnittenen Fotos herum, da sah sie eine Adresse. Diese könnte sogar in der Gegend sein, die Mutter ihr beschrieben hatte. Schnell notierte sie sich die Anschrift und beschaute sich nochmals den Umschlag und die Schrift. Ihr schien es, als ob Tropfen darauf gefallen wären, könnten es Großmutters Tränen gewesen sein? Makanisi packte alles wieder säuberlich ein, stellte den Koffer zurück an seinen Platz und legte den Schlüssel in die abgegriffene Büchse zurück.

Nun musste der nächste Schritt in Angriff ge­nommen werden. Wie kommt sie von Kikwit nach Kinshasa? Es besteht eine Busverbindung, aber sie kann nicht einfach ohne Grund in die Hauptstadt fahren. Ihre Freundin hat jedoch enge Verwandte in der Haupt­stadt, die sie stets in den großen Ferien besucht. Mit ihr mitzufahren würden Mutter und Großmutter sicher­lich gutheißen. Einen Vater braucht sie nicht zu fragen, der hat Mutter vor Jahren verlassen und es gibt keinerlei Kontakt zu ihm. Die Freundin war zugleich froh, eine Begleiterin zu haben, also stand in den Ferien einer Reise in die Hauptstadt nichts im Wege. Leider musste sie noch einige Monate bis zu dieser Reise warten.

Immer wieder fragte sich Makanisi, wie sie mehr über die Männergeschichten ihrer Großmutter in Erfah­rung bringen könnte. Manche Freundinnen lebten in Familien, wo der Vater zwei oder drei Frauen ver­heiratet war, andere Eltern lebten offiziell zu zweit, aber ihre Großmutter? Als die Gelegenheit günstig war, fragte Makanisi, wie ihre Hochzeit gewesen wäre.

Großmutter blühte sichtlich auf und erzählte von einer tollen Hochzeit mit vielen Gästen. Die Familie des Mannes habe auch ein gutes Brautgeld bezahlt. „Ach, ich war glücklich damals! Aber bald danach fing der Streit an. Dieser Parzelle hier gehört mir, ererbt von meinen Eltern. Die Familie meines Vaters lebte in einer anderen Provinz, vielleicht im großen Wald, jedenfalls bestanden keinerlei Kontakte zwischen uns. So gab es auch keine Ansprüche von ihnen auf die Parzelle, auch nicht mittels Drohungen und Geister­beschwörer. Ich wollte hier nicht weg, um mich von der Mutter meines Mannes in einer anderen Stadt herumkommandieren zu lassen! Auf dem Markt von Kikwit war ich bekannt für meinen gesalzenen Fisch, verdiente damit immer mehr Geld. Warum sollte ich das alles wegwerfen? Er wollte, dass ich die Parzelle verkaufe! Hätte ich sie verkauft, wäre das Geld zur Familie des Mannes gewandert! Nein, ich bin doch nicht dumm! Es kam, wie es kommen musste, er verließ mich. Naja, es gab noch andere Männer, einer liebte zu sehr den Alkohol, bis ich ihn davonjagte. Aber die Kinder gehörten mir, da war ich kompromisslos! Alle meine Kinder erlernten einen Beruf, einige studierten sogar! Makanisi, heiraten ist was Schönes – die Unabhängigkeit aber auch!“

Makanisi hörte aufmerksam zu, war stolz, dass Großmutter ihr solche Dinge anvertraute, fühlte zu­gleich, dass sie das alles noch nicht völlig erfasste. Jedenfalls war Großmutter eine starke, selbstbewusste Frau. Dennoch traute sie sich nicht, nach Onkel Mayele oder gar nach seinem Vater zu fragen.

Die Monate vergingen, in den Ferien konnte Makanisi endlich nach Kinshasa reisen. Nach einigen Tagen weihte sie ihre Freundin in ihr Vorhaben ein, ihren verleugneten und verschollenen Onkel zu suchen. Falls sie ihn findet und über Nacht wegbleibt, würde sie versuchen, sie anzurufen. Vorsichtshalber steckte sie genügend Geld für ein Motorradtaxi ein. Ein Bus brachte sie in die Nähe der angegebenen Adresse, jedenfalls dort, wo die Tischler arbeiten. Eine Passantin wies ihr den Weg zu der Adresse. Sie musste mehrmals nachfragen, bis sie vor dem Haus ihres Onkels stand. Makanisi atmete noch einmal tief durch, bevor sie vorsichtig an die Tür klopfte. Eine Frau öffnete, Makanisi stellte sich vor und bat zögerlich, Herrn Mayele zu sprechen.

„Mein Mann ist auf Arbeit, er müsste bald hier sein. Um was geht es denn?“, fragte die Frau.

„Herr Mayele ist mein Onkel, den ich noch nie getroffen habe. Ich sehe keinen Grund, warum ich ihn nicht kennenlernen sollte“, erwiderte Makanisi ein wenig trotzig.

Die Frau lächelte und bat sie herein, brachte ihr auch ein Glas Wasser. Aus einem Nachbarzimmer erschienen zwei Mädchen und ein Junge etwa in ihrem Alter. Schnell kamen sie ins Gespräch und schwatzten über Schule und Musik. Makanisi merkte nicht, wie ihr Onkel, der von seiner Frau bereits über den außer­gewöhnlichen Besuch informiert worden war, leise das Zimmer betrat. Erst als die Kinder lautstark ihren Vater begrüßten, bemerkte Makanisi ihn. Ehrerbietig, so wie es sich gegenüber einem unbekannten Onkel geziemt, stellte sie sich vor. Herzlich nahm er sie in den Arm, gab ihr drei obligatorische Wangenküßchen und fragte, wie sie ihn gefunden habe.

„Ich gehe nicht davon aus, dass deine Leute in Kikwit von diesem Besuch wissen!“

Makanisi begann ihm die Geschichte zu erzählen, so wie sie sie von seiner Mutter gehört hatte. Aber schon beim Priesterseminar wurde sie vorsichtig, da seine Kinder zuhörten.

„Erzähl ruhig weiter, meine Kinder kennen diese Geschichte. Sie wissen, dass ich ein Ndoki bin! Erschrocken schaute sich Makanisi um, aber dieses Wort löste keinerlei Reaktionen bei den Kindern aus. Also erzählte sie weiter bis zum Tod des Kindes seines Bruders.

„Ja, das ist alles im Großen und Ganzen so ge­wesen. Was hätte ich damals auf den Vorwurf, dass ich ein Ndoki sei, antworten können? Abstreiten hätte auch nichts geändert. Also habe ich den Schwachsinn verkündet, dass ich ein Ndoki sei! Und alle glaubten es! Auf einen solchen Vorwurf gibt es keine Antwort. Dass meine Mutter solchen Unsinn von meinem Bruder widerspruchslos hinnahm hat mich sehr getroffen. Naja, sie ist eben eine andere Generation. Warum akzeptieren mein Bruder und meine Schwester diesen Aberglauben? Na gut, dann bin ich eben ein Ndoki, mein Bruder kann sich ungehindert als Familienchef aufspielen und ich habe meine Ruhe vor ihm und allen anderen, die noch hinter meinen Geschwistern stehen!

„So mutige Makanisi, heute hast du die einmalige Gelegenheit, einen Ndoki zu besichtigen“, lachte der Onkel und Makanisi stimmte in seine gute Laune ein.

Nun bat Onkel Mayele Makanisi von sich, von Mutter und Großmutter zu erzählen, was sie auch gern tat. Zwischendurch fragte sie ihren Onkel, ob es mög­lich wäre, bei ihrer Freundin anzurufen, es wäre ja schon spät.

„Ein Anruf ist kein Problem, wenn Diebe nicht wieder die Telefonkabel gestohlen haben. Bald ist es dunkel, besser du übernachte hier bei deinem Ndoki-Onkel als in der Dunkelheit ein Motorradtaxi zu nutzen“, was Makanisi einen klitzekleinen Mo­ment zusammenfahren ließ. Der Onkel wählte die Nummer und hielt Makanisi den Hörer hin. Erschrocken griff sie zu, das erste Mal in ihrem Leben hielt sie so ein seltsames Ding in der Hand. Sie hörte die Stimme des Onkels ihrer Freundin, sie erklärte, wo sie war und über Nacht bleiben werde.

„Jetzt habe ich das erste Mal telefoniert“, meinte sie erstaunt und überrascht.

„So ist das, Makanisi! Das Leben ist eine stete Abfolge von ersten Malen! Jeder Tag ist einmalig, erst recht was wir tagsüber anstellen! Jetzt haben wir genügend Zeit zu reden. Ich freue mich jedenfalls riesig, dass meine Mutter wohlauf ist. Offenbar weiß sie noch immer, was sie will! Sollte eines Tages irgendwie das Gespräch auf meine Person komme, dann sage bitte deiner Großmutter, dass ich sie vermisse …“

Makanisi sah, dass Onkel Mayele seine Tränen unterdrücken musste. Er sagte nur, dass sie ihn immer unterstützt habe, selbst als ich ihre Träume von einem Priester in der Familie zerstörte. Glücklicherweise kamen seine Frau und die Kinder mit dem Essen herein. Es gab Fufu von Maismehl, Pondu und gebratene Leber, was Makanisi seit ewigen Zeiten nicht mehr gegessen hatte.

Am Tisch saß Makanisi ihrem Onkel gegenüber und dachte an Großmutters Beschreibung ihres ver­lorenen Sohnes. Ja, er ist körperlich klein, sicherlich geschmeidig, freundlich und offenbar ein netter Vater. Er ähnelt diesem Mann mit der seltsamen Erlaubnis, Ngombe zu betreten. Was es damit auf sich hat, würde sie ihn nach dem Essen fragen!

Verlegen begann sie nach dem Essen zu erzählen, dass sie einmal ein ganz klein wenig in Großmutters Unterlagen gestöbert habe. „Eigentlich wollte ich nur deine Adresse finden, aber ich sah auch die Geburts­urkunden ihrer Kinder und ein Dokument, offenbar mit dem Namen deines Vaters und der Erlaubnis, das Stadtviertel Ngombe von Leopoldville zu betreten. Das verstand ich nicht.“

„Oh, die Neugier von Makanisi ist offenbar grenzen­los“, lachte der Onkel. Ernsthaft fuhr er fort, dass dies während der belgischen Kolonialzeit so war. In Ngombe lebten die weißen Kolonialbeamten, diesen Stadtteil im damaligen Leopoldville durften Schwarze nur mit einem Passierschein betreten. Aber das war nicht mein Vater, sondern mein Großvater, der war so einer. Er arbeitete ein paar Jahre als Koch bei einem Weißen. Dafür war er ein ‚Evolué‘, ein den Bedürf­nissen der Belgier angepasster Kongolese. Die wurden ständig kontrolliert, selbst in ihrem Haus! Mein Vater arbeitete auch für die Weißen, in derselben Stadt. Nur wurde sie jetzt Kinshasa genannt. Er war in der Hauptstadt und sie in Kikwit, das hat sicherlich deiner Großmutter nicht gepasst und setzte ihn vor die Tür. Vielleicht hatte er noch andere Frauen und Kinder. Ich weiß es nicht. Jedenfalls hatte mich deine Großmutter versteckt, als sie ihn aus dem Haus warf. Ihre Kinder bewachte sie wie ein Huhn ihre Küken.“

Makanisi fragte zur später Stunde ihren Onkel, ob er nicht einen Weg sehe, sich mit Grußmutter zu versöhnen. „Ich habe den Eindruck, dass sie über den jetzigen Zustand traurig ist“, schätzte sie ein.

„Ja, sie ist sicherlich traurig, aber sie kann nicht über ihren Schatten springen. Ich würde mich riesig freuen, wenn ich meine Mutter in die Arme nehmen könnte! Aber wenn sie mit mir gute Beziehungen pflegt, wird sofort dein Onkel Makambo mit ihr brechen. Die sinnlose Ndoki-Anklage von Makambo gegen mich hat alles zerstört. Vielleicht wirst du eines Tages Großmutter von deinem Besuch bei mir erzählen. Sage ihr bitte, dass sie jeder Zeit in meinem Haus will­kommen ist!“

Makanisi versprach, es zu versuchen, von ihrem Besuch bei Onkel Mayele ihrer Großmutter zu be­richten.

Am nächsten Morgen begleitete Onkel Mayele Makanisi in einem richtigen Taxi zu ihrer Freundin, wo sie sich herzlich verabschiedeten. Zwei Wochen später kehrten beide Mädchen nach Kikwit zurück.

Monate später, Makanisi war allein mit Dalida, sagte Großmutter ihr auf den Kopf zu, dass sie ihren Sohn Mayele in Kinshasa besucht habe. „Zuvor wolltest du alles über ihn wissen, seit deiner Rückkehr ist die Neugierde erloschen. Ich will lieber nicht wissen, wie und wo du seine Adresse gefunden hast. Von meinen fünf Kindern sind zwei verstorben. Ein Kind ist ein Ndoki und damit ist er auch für dich und mich gestorben. Ndoki ist kein Aber­glauben! Ndoki gehört als ständige Bedrohung zu unserem Dasein, es kann deine Seele fressen!“



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