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Arsinoë
Оглавление»Gut geschlafen?«, flüstert es in der Dunkelheit.
Irritiert öffne ich die Augen und blicke in ein mir unbekanntes Frauengesicht. Meine Besucherin besitzt keine Flügel, ist hochgewachsen, hat schulterlanges, kastanienrotes Haar, das eine phantastische Figur umspielt und ist mit einem schwarzen Einteiler bekleidet, der mehr zeigt, als er verbergen kann. Bis auf ihre kalten grünen Augen ist die junge Frau ein weiterer Inbegriff vollendeter Weiblichkeit.
»Ist es Zeit? Holst du mich zum Sterben ab?«
»Nein. Deine Terminierung ist aufgehoben worden.«
Andere Menschen würden sich freuen, ich kann es nicht. Mein Leben soll weitergehen? Ohne Katee und mit der Erkenntnis, seit meiner Geburt belogen worden zu sein? Ein seltsamer Mix aus Enttäuschung und Erleichterung hält mich gefangen.
»Thomas«, sagt die junge Frau und bemüht sich, ihrer Stimme einen mitfühlenden Klang zu verleihen. »Du hast die letzten sieben Tage im Tiefschlaf verbracht. Ich denke, wir sollten reden.«
»Hast du auch einen Namen?«
»Ich heiße Arsinoë.«
Ich setze mich auf den Rand der Liege und versuche aufzustehen. Zu meiner Überraschung funktionieren meine Beine auf Anhieb.
Helles Sonnenlicht wärmt uns, meine innere Kälte und Verbitterung tauen auf. Das ist ärgerlich, da mein notdürftig geflicktes Schutzschild zu bröckeln beginnt. Arsinoë hockt sich ins hohe Gras und winkt mich heran.
»Schön, nicht wahr?«
Vor uns liegt der Steinkreis von Stonehenge. Intakt, ohne das hässliche Besucherzentrum und ohne Chuckys Kulissen. Was bedeutet, wir sitzen in einem Nachbau oder sind Teil einer real wirkenden Illusion.
»Schön tot.«
»Das Original ist Geschichte. Wo einst der Steinkreis stand, erstreckt sich ein hundert Meter durchmessender Krater, in dem vereinzelte Trümmer der Monolithen ruhen. Die Landschaft ist verstrahlt, das evakuierte Salisbury gleicht einer Geisterstadt.«
»Klartext bitte«, maule ich. »Ich habe nicht die geringste Lust, hier im Gras zu sitzen und mit dir Händchen zu halten. Wie bin ich hierher gekommen? Was ist Morgiana's Lair?«
»Eine Frage nach der anderen. Morgiana's Lair ist der Name unserer Station. Ein Raumschiff des Rates von Pangaea. Auf Befehl deines Vaters wurden Begriffe der Artus Sage entlehnt und zur namentlichen Kodierung verwendet.«
»Raumschiff? Vater? Pah!«
Arsinoë ignoriert meinen Einwand und setzt unbeirrt ihre Erklärung fort. »Der Rat ist die gemeinsame Regierung der raumfahrenden Völker der Milchstraße, Pangaea genannt. Wir wurden 1945 als Antwort auf eure Atombomben zur Erde entsandt und landeten am 18. November 1951. Unser Auftrag lautet, euch zu beobachten, gegebenenfalls auszurotten, falls ihr zu einer Bedrohung für den pangalaktischen Frieden erwachsen solltet.«
»Wieso sagst du euch? Bist du kein Mensch?«
»Ich bin ein Mensch, aber meine Eltern und ich wurden auf Khor geboren, auf einer der drei Zentralwelten von Pangaea.«
»Ist das weit von hier?«
»Du musst wissen, dass die Erde kein Einzelfall ist«, schulmeistert mich Arsinoë und lässt meine Frage unbeantwortet. »Wird eine Welt zum Problem, versucht der Rat zunächst zu intervenieren. Wir nennen diesen Versuch das Einhundert-Jahre-Programm. Die Bevölkerung wird gescannt und diejenigen in eine Schattenregierung berufen, deren ethische und moralische Einstellungen den des Rates am nächsten kommen. Ich weiß, es klingt absurd, aber von allen Menschen war es dein Vater, der aufgrund seiner Integrität ausgewählt wurde, unser Programm zu leiten und das Sonnensystem zunächst verdeckt, später offen, zu regieren. Mit Ny'Chelles Liquidierung hat er jedoch seine Kompetenzen überschritten. Während deines Heilschlafes ist ein ranghoher Vertreter des Rates eingetroffen und hat deinen Vater inhaftiert. Kyle wird sich für den Mord an Ny'Chelle und ihren Kindern verantworten müssen.«
»Von Philipp spricht hier keiner mehr, oder?«
»Senator Ny'Cham bedauert den sinnlosen Tod deines Freundes. Ich bin mir sicher, dass der Mord an Philipp Becker Teil der Anklage werden wird.«
»Es wird lange dauern, bis ich alles verarbeitet habe«, sage ich, die Erinnerung an Philipps letzte Minuten frisst mich auf. »Bis dahin, zurück zu meiner ursprünglichen Frage: Wie bin ich hier hergekommen?«
Ein Windhauch streicht über das Gras, wühlt in unseren Haaren und bringt faustgroße, an Seifenblasen erinnernde Objekte mit sich. Sie schillern in allen Farben des Regenbogens. Farbwirbel huschen über ihre Oberflächen, sorgen für Lichtreflexe auf meiner Netzhaut und formen Bilder. Mit großen Augen erblicke ich darin die letzten Minuten vor der Bombenexplosion. Ich sehe Philipp und mich mit Katees Leichnam in unserer Mitte, wie wir auf den großen Knall warten. Obwohl kein Ton übertragen wird, hallen die verzweifelten Schreie der Sterbenden und das Chaos der letzten Sekunden in meinem Kopf wider.
»Tick, tock. There goes the clock.«
»Allahu akbar!«
Das Bild zoomt auf uns drei, und die Bombe explodiert. Zeitgleich mit dem Sprengsatz platzt die Seifenblase. Arsinoë rutscht an mich heran und legt mitfühlend ihre Hand auf meine Schulter. Ihre Geste bleibt unbeantwortet, ich empfinde nichts.
»Konzentriere dich. Ich wiederhole den Film. Eine reale Sekunde wird jetzt auf dreißig Sekunden gedehnt.«
Eine neue Seifenblase schwebt heran, die letzte Sekunde verstreicht erneut. Katees Körper glüht auf, dehnt sich kokonartig aus, erfasst Philipp und mich. Wir verschmelzen mit dem atomaren Blitz, während Freund wie Feind verkochen. Das Bild wechselt. Ich sehe einen der vielen Korridore von Morgiana's Lair, in dem drei Körper materialisieren.
»Katee konnte nicht reanimiert werden, euch brachte man zum Verhör. Der Codebegriff Sternenprinz half uns, den Debugger zu analysieren. Wir haben bei seiner Auswertung eine private Datei gefunden, die für dich bestimmt ist. Ich habe sie ins System geladen und lasse dich jetzt mit ihr und deiner Trauer allein.«
»Wie meinst du das?«, frage ich, doch Arsinoë ist in einem purpurnen Flimmern verschwunden.
Ein Schatten fällt auf mein Gesicht und lässt mich nach oben blicken. Vor mir steht Katee. Nackt und unversehrt.
»Hallo Sternenprinz.« Ich greife sehnsüchtig nach ihr, fasse ins Leere. Katee ist genauso materielos wie Kyles Projektion. »Ich weiß nicht, wann und unter welchen Umständen du diese Nachricht bekommst. Meine Aufgabe ist erfüllt, du bist dort angekommen, wo du gebraucht wirst. Und ich bin zufrieden mit uns und unserem Schicksal.«
»Ich nicht!«, brülle ich verzweifelt, aber Katees letzter Gruß ist nicht als Dialog programmiert. Mein Aufbegehren verstirbt im Nichts.
»Du hast dich gefragt, was oder wer da oben ist. Du wolltest das Universum sehen. Leider erwarten dich nicht nur die Wunder der Schöpfung, sondern auch ihre elementaren Gefahren und Schrecken. Dinge, die so furchtbar sind, dass sie einem namenlosen Grauen gleichen. Du wirst durchs Feuer gehen, einsam und allein. Du wirst glauben, die Last und die Schmerzen deiner zu treffenden Entscheidungen nicht ertragen zu können. Aber glaube mir bitte, du wirst sie ertragen, ertragen müssen. Du wirst deinen Weg gehen, ob du willst oder nicht. Ich werde in deinen Gedanken bei dir sein, als eine Erinnerung an ein Leben, das uns nicht gewährt wurde. Und daher, mein geliebter Sternenprinz, lebe wohl!«
Es duftet nach frischem Zimt, und ich kippe zuckend zur Seite ins weiche Gras. Schaum quillt über meine Lippen. Die Konfrontation mit meiner toten Freundin ist zu viel für mein krankes Gehirn. Epileptische Krämpfe bescheren mir eine erneute Auszeit.
Ich erwache zum was weiß ich wievielten Mal auf meiner Pritsche und starre Arsinoë an. Merkwürdig, ich fühle mich fit und ausgeschlafen.
»Ich habe mir erlaubt, dir ein Medikament zu spritzen, das die Folgen deines Anfalls lindert.«
Ausgeruht nach einem "Grand mal" zu erwachen, ist für Epileptiker Wunschdenken. Normalerweise brauche ich Stunden oder Tage, um ein großes Krampfleiden zu überwinden.
»Es gibt nicht viele Gelegenheiten, von einem geliebten Menschen Abschied zu nehmen. Tod und Verlust geschehen zu unerwartet, um emotional vorbereitet zu sein. Katees Schöpfer haben dir mit der Möglichkeit des Abschieds ein großes Geschenk gemacht. Eine, wie ich meine, liebevolle Geste.«
Arsinoës Worte sind ehrlich gemeint, spenden Trost. Meine letzte Erinnerung an Katee ist nicht ihr zerteilter Schädel, sondern ihre Grußbotschaft.
»Weißt du, ich komme mit alledem hier nicht klar. Die Massaker in Amerika, das Blutbad in Stonehenge, Katees Tod. Mein ganzes Leben ist eine einzige Lüge.«
»Thomas, mein Leben ist auch anders verlaufen, als ich es mir gewünscht habe. Man kann Raum und Zeit in gewissem Umfang manipulieren, den Quantenfluss des Schicksals jedoch nicht. Kehre in die Vergangenheit zurück, vernichte die Attentäter von Stonehenge. Früher oder später wärst du hier gelandet.«
»Mit einem Unterschied: Katee würde leben und müsste nicht als Laborpräparat im Kühlschrank vor sich hin gammeln.«
»Falsch. Die Programmierung des hd-k-db hätte Katees Leben beim Betreten unserer Station beendet. Ein gemeinsames Leben war euch nicht vergönnt.«
»Wie bitte?«
»Katees Aufgabe war es, dich zu uns zu bringen. Nicht dich zu lieben. Das war Katees eigene Entscheidung. Eure Liebe war echt, die Umstände fremdbestimmt. Ich empfehle dir, Ballast abzuwerfen. Behalte Katee in deinem Herzen, aber stell dich den Tatsachen.«
»Weiß man, warum Katee mich ins Lair bringen sollte?«
»Nein, wir tappen im Dunkeln. Senator Ny'Cham meint, die Eminenz könnte ein gewisses Interesse an dir haben. Du bist der Sohn ihres Statthalters auf Erden. Ich halte das für Unfug, da Lebensmodifikationen oder Klonen in Pangaea bei Todesstrafe verboten sind. Niemand, nicht einmal die Eminenz, hat das Recht in die Schöpfung einzugreifen.«
»Die Eminenz?«
»Alles zu seiner Zeit. Ich bin nicht befugt, mit dir über die Eminenz zu sprechen.«
Ein weiterer Faktor hat die Bühne betreten. Aus Arsinoës Zögern schließe ich, wenn es jemanden gibt, der meine Fragen beantworten kann, ist es die Eminenz.
»Du hattest gestern noch weitere Fragen an mich?«
Gestern? Wieder ist ein Tag sinnlos verstrichen. Wie viele werden noch folgen?
»Ihr beobachtet uns, gut. Aber, wenn das stimmt, warum habt ihr weder in New York noch in Stonehenge eingegriffen?«
»Warum sollten wir? Unsere Aufgabe ist es zu beurteilen, wozu die Menschen fähig sind. Wir sind nicht hier, um euch vor eurer eigenen Dummheit zu retten.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Thomas, in deinem Schmerz vergisst du, was um dich herum geschieht. Die Rohstoffe der Dritten Welt werden unter dem Deckmantel der Entwicklungshilfe gnadenlos ausgebeutet. Der westliche Wohlstand ist auf der Armut und dem Hunger der einst reichen, heute ausgebluteten Länder gebaut. Wen wundert es da, wenn extremistische Kräfte glauben, die Welt vom angloamerikanischen Gutmenschen säubern zu müssen?«
»Das rechtfertigt nicht, unschuldige Menschen zu töten.«
»Aus abendländischer Sicht«, flüstert Arsinoë kalt, »aber im Morgenland ticken die Uhren anders. Was außer Gewalt bleibt, wenn die hohe Politik versagt, Generationen mit Hass im Herzen geboren und zum Kampf erzogen werden?«
»Es gibt bei uns viele Menschen, denen die angloamerikanische Politik ein Dorn im Auge ist. Katee und ich sind für den Frieden im Nahen Osten auf die Straße gegangen, wir haben demonstriert und Unterschriften gesammelt.«
Arsinoë kichert hysterisch, klatscht begeistert und schneidet mir den Satz ab.
»Wow. Ihr habt demonstriert. Zettelchen bekritzelt. Flattern sie noch am Parlamentszaun, oder wurden sie bereits in die Altpapiertonne geworfen? Wenn ihr Glück hattet, wurden sie gezählt oder gelesen. Vielleicht wurde ein Ausschuss gebildet, und man hat sich hinter verschlossenen Türen bei Champagner und Kaviar über euch totgelacht. Merke dir eines: Die hohe Politik interessiert sich nicht für das, was ihr Volk braucht oder wünscht.«
»Kein System ist perfekt. Seinen Willen friedlich zu bekunden, ist aber besser, als Bomben zu legen und Tausende in die Luft zu sprengen, oder nicht?«
Arsinoës grüne Augen fixieren mich.
»Du wiederholst dich. Darf ich dich an Japan erinnern, an Hiroshima und Nagasaki? Frage Ayumi Toshiko, wie sie zu diesem Thema steht, und wenn du Glück hast, serviert sie dir einen grünen Tee, ohne dir den Schädel einzuschlagen.«
»Wer bitte ist Ayumi, wie war gleich ihr Name?«
»Nimmt man die letzten Jahre, relativieren sich die Massaker von Stonehenge und New York. Die westliche Welt hat ohne Rücksicht auf Verluste in Korea, Vietnam und am Arabischen Golf gewütet. Teile der Philippinen und Thailands wurden zu Bordellen degradiert, um die selbsternannten Weltpolizisten bei Laune zu halten. Niemand auf dieser Welt ist frei von Schuld, richtig. Aber statt eure eigenen Versäumnisse in Frage zu stellen, sich als eine einzige Spezies zu begreifen, verdrängt ihr eure Taten. Ihr seid wie die Vampire aus euren Legenden. Wesen, die ihre unheilige Existenz den Bedürfnissen ihrer Opfer überordnen.«
»Kommst du jetzt mit Karl Marx?«
Arsinoë zögert eine Sekunde, lächelt und setzt ihre Rede fort.
»Eure Konflikte lassen sich auf den Kern eurer Fehlentwicklung zurückverfolgen. Drastisch gesagt, es ist uns egal, ob ihr euch gegenseitig ausrottet oder den Hintern vergoldet. Aber mit der Entdeckung der Atomkraft und dem Start eurer ersten, wenn auch primitiven Raumschiffe seid ihr theoretisch in der Lage, andere Welten zu erreichen, eure Konflikte in die Galaxis zu tragen. Das zu unterbinden, ist unsere Aufgabe. Nicht mehr, nicht weniger.«
»Heißt das, dass der Rat jegliches Massaker auf Erden tolerieren würde, solange wir andere Völker in Ruhe ließen?«
»Richtig. Es ist Teil der evolutionären Reife einzusehen, dass Frieden aus dem Herzen kommen muss. Konflikte sind nur durch Kompromisse überwindbar. Falls am Ende ein Volk sich vernichtet hat oder von uns vernichtet wurde, ist dies ein Teil ihrer Entwicklung gewesen. Spar dir deinen Spott, ich lese ihn eh in deinen Gedanken.«
Na klasse, eine Gedankenschnüfflerin. Fragt sich, warum man mich gefoltert hat statt mich gleich Arsinoë zu überstellen.
»Mit anderen Worten, rotten wir uns aus, ist das bedauerlich, kosmisch gesehen aber okay. Bedrohen wir Alpha Centauri, bekommen wir die Quittung, richtig?«
Arsinoë nickt: »Ein Angriff auf die Candela würde eure sofortige Vernichtung zur Folge haben, korrekt!«
Auf Alpha Centauri gibt es Leben? Für einen Moment bereue ich, nicht die Wega oder Sirius ins Spiel gebracht zu haben.
»Woher nehmt ihr euch das Recht, Völker auszulöschen, weil sie es nicht geschafft haben, ihre Probleme in den Griff zu bekommen?«
»Weil die im Rat vertretenen Völker ihre Zwistigkeiten zugunsten einer galaktischen Allianz überwunden haben. Das Überleben der Galaxis ist wichtiger, als das Wohl einer einzelnen, streitbaren Spezies.«
»Bei allem Respekt, ich sehe darin keinen Unterschied zu unserem eigenen Verhalten. Wer nicht ins Kartenhaus passt, wird bekämpft.«
»Moment! Es geht nicht um passen oder mögen. Nur, ob eine Spezies eine Bedrohung darstellen kann.«
»Und je nach Definition des Wortes Bedrohung sprechen im Anschluss die Waffen?« Arsinoë kneift die Lippen zusammen und blinzelt mit ihren Lidern. Sie sondiert meine Gedanken. »Raus aus meinem Kopf, bitte!«
»Entschuldigung. Jetzt verstehe ich dein Problem. Du unterstellst uns, Willkür walten zu lassen. Lerne, dass wir den Begriff Bedrohung nicht nach Lust und Laune interpretieren.«
»Nicht?«
»Der Eskalationsvektor wird durch den Kodex vorgegeben. Eine uralte Charta über das Leben und dessen Wechselbeziehung zum Kosmos.«
»Und wer hat den Kodex verabschiedet? Die Schweizer?«
»Der Kodex ist die generative Fortschreibung von Ethik, Moral, Philosophie und Wissenschaft aller im Rat vertretenen Völker. Das Bundesland Schweiz wird niemals dem Rat beitreten können, nur die Menschheit als Ganzes.«
Arsinoë hat den Gag nicht verstanden. Ich seufze leise und sehne mich nach einem Ricola aus den Schweizer Bergen. Das Thema ist mir zu trocken.
»Darf man fragen, wie der Rat den Begriff einer Bedrohung definiert?«
»Ich gebe dir ein Beispiel: Im Bundesland Deutschland wird das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin als Bedrohung für die abendländischen, christlichen Werte empfunden. Umgekehrt ist man verärgert, wenn deutsche Touristen im Bundesland Saudi-Arabien abgestraft werden, weil sie mit Christusketten das religiöse Gefühl der dortigen Muslime mit Füßen treten. Oder in Europa mit christlichem Glockengeläut akustische Verschmutzung betrieben wird, während man den Muezzin auf den Minaretten vorschreibt, ob und wie laut sie zum Gebet rufen dürfen. Nein, Thomas Kyle Jennings! Diese Art von scheinheiliger Willkür wirst du bei uns vergeblich suchen. Der Begriff der Bedrohung und der Umgang mit ihr ist seit Jahrmillionen im Kodex definiert und gilt für alle und jeden.«
»Amen!« Arsinoës Argumentation reduziert uns auf unseren hässlichen, mit netten Klamotten, sauberen Nägeln, duftendem Parfüm und etikettierten Floskeln verhüllten, animalischen Kern.
»Das griechische ,So sei es‘ ist eine zutreffende Bemerkung und charakterisiert den Kodex perfekt. Nur weil vieles auf der Erde nicht funktioniert, muss das noch lange nicht heißen, dass eine pangalaktische Zusammenarbeit, Frieden und Völkerverständigung unmöglich ist. Wir haben gelernt, unsere eigenen Bedürfnisse zugunsten höherer, echter Ideale zurückzustellen. Glaube mir bitte, wir sind daran interessiert, euch als unsere kosmischen Brüder und Schwestern willkommen zu heißen. Wir möchten, dass ihr euren historischen Platz im Rat einnehmen könnt. Wir wären nicht hier, wenn euer Schicksal uns gleichgültig wäre.«
»Wenn dem so ist: Warum nehmt ihr nicht Einfluss auf unsere Politik und Wirtschaft statt irgendwelche Massaker zu billigen?«
»Wer sagt, dass wir das nicht tun? Die Schattenregierung steuert alle Prozesse der Erde. Es wird Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauern, bis das von euch gewebte Netz aus Intrigen, Kriegen und Versäumnissen entwirrt ist und die Erde wieder der Menschheit überlassen werden kann. Leider stoßen wir bei unserer Arbeit auf Verknotungen, die mit dem Skalpell gelöst werden müssen. Ein planetarer, chirurgischer Eingriff, der Millionen von Leben kosten darf und wird. Fakt ist, dass ihr noch nicht reif seid, dass sich eine außerirdische Macht offen auf der Erde präsentieren könnte. Euch stört es doch schon, wenn sich zwei Männer küssen.«
Es tut weh, aber Arsinoë hat recht. Für eine Landung vor dem Weißen Haus oder vor dem Kreml ist es zu früh.
»Vielleicht verstehst du, warum Folter in deinem Fall ein legitimes Mittel war. Natürlich können wir uns die Antworten ohne Gewalt holen. Ein Blick von Eichendorff oder von mir in eure Gedanken reicht und wir wissen, ob ein Gast die Wahrheit sagt.«
»Ich habe Ny'Chelle nicht angelogen. Davon abgesehen, Menschen lügen nicht nur aus Bosheit, viele lügen auch aus Angst.«
»Für deinen Vater sahen die Fakten anders aus. Wer ungebeten ins Lair vorstoßen kann, wird uns täuschen können.«
Ich habe genug von Arsinoës Eröffnungen. Als es in meinem Magen grummelt, umspielt ein zartes Lächeln ihre Lippen.
»Hast du Hunger? Komm, geh'n wir eine Kleinigkeit essen. Es ist nicht gut für dich, wenn du mit leerem Magen auf den Senator triffst.«
Etliche Korridore später. Im Lair herrscht eine beklemmende, leere und sterile Atmosphäre. Entweder das Schiff kommt mit einer Minimalbesatzung aus, oder man will jeglichen Kontakt zwischen der Crew und mir verhindern.
Zu meiner großen Überraschung entpuppt sich Arsinoës Ziel als ein farbenfroher, lustig möblierter Raum. Die erste Lokalität in meiner neuen Umgebung, die zum Verweilen einlädt. Ich fühle mich wie in einer Kindertagesstätte für Erwachsene.
»Dies ist die Mensa des Gästetraktes. Setz dich und sage mir bitte, worauf du Appetit hast.«
»'nen Wimpy BBQ Burger mit Chips. Und Cola!«, rufe ich und schlage mir mit der flachen Hand auf die Stirn. »Aber Cola habt ihr hier nicht, oder?«
Kaum haben wir Platz genommen, öffnet sich eine Klappe im Tisch und ein Tablett beladen mit einem Wimpy BBQ Burger, einer satten Portion Chips, zwei Riesenbechern Cola und einem Stapel Servietten erscheint vor meinen überraschten Augen.
»Nicht gerade das, was man eine gepflegte Mahlzeit nennen würde. Aber wenn es dir schmeckt, warum nicht?«
Die nächsten Minuten vergehen in urzeitlichem Monolog. Ein wirres Mampfen und Saufen, eine Hommage an unsere Vorfahren, den Höhlenmenschen. Ein mir äußert peinlicher Rülpser beendet mein Schlingen.
Arsinoë nippt gelangweilt an ihrer Cola, ignoriert meinen Fauxpas. »Künstliche Ernährung verhindert den Hungertod, befriedigt aber nicht.«
»Das mit der Fressklappe ist cool«, nuschele ich in meine Serviette. »Was wäre passiert, wenn ich mir ein halbes Schwein gewünscht hätte?«
»Untersteh dich!«
»Schon gut, ich nehme lieber noch einen Wimpy Double Cheese, okay?«
»Fastfood widert mich an.«
Fastfood ablehnen, aber Cola trinken?
»Yorkshire Pudding«, murmele ich statt Double Cheese. »Große Portion!«
Es rattert im Tisch, und die Reste verschwinden. Statt Fresskultur erhebt sich ein edles Service mit Yorkshire Pudding aus den Tiefen des Tisches. Ich greife artig zum Besteck und stopfe auch dieses opulente Mahl in mich hinein. Burp.
»Ny'Chelle sagte, wir wären in Stonehenge.« Nur mit Mühe gelingt es mir, einen dritten Rülpser zu unterdrücken, »Aber gestern sagtest du, wir wären an Bord von Morgiana's Lair, einem Raumschiff. Wie das?«
»Ich möchte dein Verständnis von Raum und Zeit nicht überfordern.«
»Ist schon okay, ich studiere Physik.«
»Stell dir bitte vor, dass es nicht einen, sondern mehrere Räume in der Zeit gibt. Aber nicht mehrere Zeiten in einem Raum.«
»Verstanden«, fasele ich mit vollem Mund. Theorien dieser Art habe ich in Oxford zur Genüge gehört. Ich bin zwar erdgeboren, aber ein dummer, primitiver Affe bin ich damit noch lange nicht.
»Gut. Unsere Station ist ein im Raum entrückter Raum. Eine räumliche, zylinderförmige Blase von acht Kilometern Durchmesser und vierundzwanzig Kilometern Länge. Stonehenge liegt im oberen Drittel. Zu gleicher Zeit und am gleichen Ort. Überlappt.«
Ich schmunzele. Ein ähnliches Prinzip haben schon andere Erdlinge postuliert und ein ganzes Universum in einer Nussschale für möglich gehalten.
»Verstehe ich das richtig? Das Lair ist ein eigenes Universum, das in das unsrige eingebettet wurde?«
Arsinoë verneint und stellt ihren leeren Becher zurück auf das Tablett.
»Es geht hier nicht um die Existenz paralleler Universen, sondern um die zeitgleiche Existenz zweier Räume am gleichen Ort.«
»Das«, grinse ich, »widerspricht den Naturgesetzen.«
»Eurer Physik.«
»Jeglicher Physik. Was auf Erden Gültigkeit hat, gilt unter gleichen Bedingungen auch anderswo im Kosmos.«
»Meinst du?«
»Ja«, sage ich und wische mir den Mund genüsslich an meiner Serviette ab. Ich lege streitlustig mein Besteck zurück auf den Tisch, schnippe herrisch mit den Fingern, und abermals verschwinden die Reste wie durch Zauberhand. Jennings im Schlaraffenland, Abwasch und Müllentsorgung inklusive. Daran kann ich mich gewöhnen.
Zeit, Arsinoë eine kleine Lektion zu erteilen. »Jetzt verstehe ich, was Ny'Chelle gemeint hat. Stonehenge und das Lair unterscheiden sich weder im Raum noch in der Zeit, sondern in ihrer energetischen Adresse. Die Energie der Bombe hat uns vom energetischen Niveau des Steinkreises auf das eurer Station katapultiert. Glückwunsch, ihr habt damit das Kunststück geschafft, einen Schrank unendlich füllen zu können, ohne in Platznot zu geraten.«
Arsinoës Mundwinkel zittern. Ihr Weltbild bricht zusammen, und aus den Trümmern erhebt sich mein Ego wie ein Phoenix aus seiner Asche.
»Ich bin beeindruckt. Der Punkt geht an dich«, nickt sie. »Das hatte ich nicht erwartet!«
»Schön«, halte ich tapfer gegen und reibe mir die Fingergelenke. »Dann sind wir quitt. Denn ich hatte nicht erwartet, gefoltert zu werden oder auf meinen Erzeuger zu treffen.«
»Wir foltern meist nur psychisch. Die Traumfolter ist effektiver und hinterlässt keine körperlichen Spuren.«
»Na, wie beruhigend.«
»Schluss jetzt und keine Spitzfindigkeiten, bitte! Der Senator erwartet dich.«